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# taz.de -- Migrant:innen in Tunesien: Abschiebung um jeden Preis
> Tausende Migrant:innen und Geflüchtete harren nahe der tunesischen
> Küstenstadt Sfax in Lagern aus. Nun sind Gewaltvideos im Netz
> aufgetaucht.
Bild: Abubaker Bangura und seine Familie
Tunis taz | Videos in sozialen Netzwerken zeigen eine neue Welle der Gewalt
gegen Migrant:innen und Geflüchtete in Tunesien. Polizei und
Nationalgarde gehen zurzeit an dem 40 Kilometer langen Küstenstreifen
zwischen Chebba und Sfax gegen Schmuggler und Menschenhändler vor. Die
Opfer der Gewalt sind jedoch meist die Geflüchteten selbst. Die meisten
sind aus Subsahara-Afrika eingereist und warten in der Region auf die
Überfahrt auf die italienische Insel Lampedusa.
Eine [1][Videoaufnahme] zeigt einen Beamten auf einem Motorrad, der neben
einem Schmuggler-Lastwagen fährt und die Passagiere, die hinter Matratzen
Schutz suchen, mit Reizgas besprüht. Einige fallen in voller Fahrt auf die
Straße, andere fliehen panisch in umliegende Gassen, als der Fahrer den
Angriff bemerkt und anhält. In El Amra nahe Sfax berichteten mehrere
Migrant:innen der taz, dass bei ähnlichen Angriffen und der Räumung von
Zeltlagern mindestens 6 Menschen gestorben seien.
Tunesische Menschenrechtsaktivist:innen aus Sfax schätzen, dass sich
mehr als 70.000 Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung im Land aufhalten. Das
Innenministerium geht dagegen von 21.000 illegal aus Subsahara-Afrika
Eingereisten aus.
## Abgeschobene Geflüchtete verdursteten in der Wüste
Bei Verhaftungen, Abschiebungen und Auseinandersetzungen zwischen
Migrant:innen und Schmugglern kommt es immer wieder zu Toten und
Verletzten. Die taz wurde Mitte Mai Zeuge, als Einheiten der Nationalgarde
in einem Olivenhain nahe Sfax, in dem Migrant:innen kampieren, Zelte
verbrannten und die Menschen vertrieben.
Kritik am Vorgehen der Behörden gibt es, seitdem [2][im Juli und September
letzten Jahres an den Grenzen zu Algerien und Libyen Dutzende abgeschobene
Geflüchtete verdursteten]. Als Folge des [3][mit der EU geschlossenen
Migrationsabkommens] fangen Patrouillen der Küstenwache fast alle in
Richtung Lampedusa fahrenden Schleuserboote ab und schicken die Insassen
zurück aufs Festland. Die Migrant:innen kehren dann meist in die
Olivenhaine zurück.
Nun sollen die Lager nördlich von Sfax offenbar aufgelöst werden und die
Migrant:innen im Rahmen einer mit Algerien und Libyen geschmiedeten
Allianz nach Niger abgeschoben werden. Noch kommen jedoch mehr Menschen an,
als in Bussen an die Grenzen deportiert werden.
## Katastrophale hygienische Zustände in Lagern
„Jeden Tag kommen Dutzende Flüchtlinge aus dem Sudan in unser
selbstverwaltetes Lager“, sagt [4][Abubaker Bangura aus Sierra Leone]. Er
lebt mit seiner zweijährigen Tochter, Frau und sechs Mitreisenden auf einem
„Kilometer 30“ genannten Olivenfeld. „Außerdem suchen Opfer der
Polizeigewalt aus benachbarten Olivenhainen hier Schutz“, sagt Bangura.
„Wir Männer trauen uns aus Angst vor Verhaftungen nicht mehr in Städte wie
El Amra. Da Migranten nicht mehr als Tagelöhner arbeiten dürfen, bitten
unsere Frauen um Lebensmittelspenden.“
Die Zustände auf dem westlich von El Amra gelegenen „Kilometer 30“ erinnern
an ein Flüchtlingslager in einem Kriegsgebiet. 3.000 Menschen aus 19
Ländern leben hier in selbst gebauten Zelten oder schlicht auf Decken. Die
hygienischen Zustände sind katastrophal. Viele klagen über Dengue-Fieber
und die dadurch verursachten Fieberschübe und Gliederschmerzen.
## Tunesische Journalist:innen eingeschüchtert
Der Besitzer der Felder versorgt die Bewohner:innen zwar mit Wasser.
Grundnahrungsmittel und Medikamente sind jedoch kaum vorhanden. „Ohne die
Spenden tunesischer Nachbarn gäbe es hier eine Hungersnot“, sagt die
sichtlich geschwächte Mariatsu Kabu aus Freetown, Sierra Leone. „Ich esse
nur zweimal pro Woche eine echte Mahlzeit.“ Bei El Amra fanden Anwohner am
Wochenende mehrere verscharrte Leichen von offenbar an Krankheiten
gestorbenen Bewohnern der Camps.
Tunesische Journalist:innen trauen sich kaum noch über die Zustände
rund um Sfax und an den Landesgrenzen zu berichten. Im September 2022 wurde
in Tunesien das Gesetzesdekret 54 eingeführt. Damit solle die
Internetkriminalität eingedämmt werden, versprach Präsident Kais Saied. Für
die Verbreitung von vermeintlichen Falschinformationen drohen seither
Haftstrafen von bis zu zehn Jahren. Verhaftungen und Deportationen finden
seitdem weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Neuerdings ermittelt die Staatsanwaltschaft auch gegen Journalist:innen,
die den Umgang der Regierung mit Migrant:innen kritisieren. Erst im Mai
wurden die Radiokommentatoren Mourad Zeghidi und Bohren Bsaies vom
Hauptstadt-Radiosender IFM zu jeweils einem Jahr Gefängnis verurteilt.
## Arbeit des UNHCR ruht
Seit Anfang Mai Mustafa al-Jamali, der Präsident der
Nicht-Regierungs-Organisation „Tunesischer Rat der Flüchtlinge“, verhaftet
wurde, ruht auch die Arbeit des UN-Hilfswerks UNHCR. Al-Jamali hatte intern
die Unterbringung von Geflüchteten aus dem Sudan in Hotels angedacht. Seine
Mitarbeitenden setzen seit Jahren die Hilfsprogramme des UNHCR vor Ort um.
Öffentlich möchten sich selbst internationale Mitarbeiter der Vereinten
Nationen nicht zu der kritischen Lage der Migrant:innen und Geflüchteten
bei Sfax äußern. Man hofft, bald wieder Zugang zu ihnen zu haben.
„Deportation und Gewalt sind schon aufgrund der offenen Grenzen in der
Sahara langfristig keine Lösung“, sagt eine UN-Diplomatin, die anonym
bleiben möchte. „Bis die Regierung dies auch so sieht, sind uns die Hände
gebunden.“
6 Jun 2024
## LINKS
[1] https://www.facebook.com/100076468051988/videos/485604250658906/
[2] /Tunesien-deportiert-Migrantinnen/!5947548
[3] /EU-Migrationsprojekt-2024/!6014374
[4] /Tausende-Fluechtende-in-Tunesien/!5999193
## AUTOREN
Mirco Keilberth
## TAGS
Geflüchtete
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Migration
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