# taz.de -- Präsidentschaftswahlen in Tunesien: Zivilgesellschaft am Boden | |
> Im tunesischen Wahlkampf gibt es keine echten Gegner, der amtierende | |
> Präsident Kaïs Saïed regiert autokratisch und menschenverachtend. | |
Bild: Der amtierende Präsident Kaïs Saïed auf einem Plakat in Tunesiens Haup… | |
Tunesien wählt am Sonntag einen neuen Präsidenten. Auf den ersten Blick | |
muss sich der derzeit per Dekret allein herrschende Juraprofessor [1][Kaïs | |
Saïed] echten Gegnern stellen. Neben ihm treten mit dem linksnationalen | |
Politiker Zouhair Maghzaoui und dem Geschäftsmann Ayachi Zammel zwei | |
bislang unbekannte Kandidaten an. Beide gehörten dem im Juli 2021 von Saïed | |
abgesetzten Parlament an. Doch es gibt keinen ernstzunehmenden Wahlkampf, | |
die Wahl ist längst entschieden. | |
Maghzaouis Partei etwa hatte die während der Coronapandemie | |
durchgepeitschte Absetzung von Parlament und Regierung damals selbst | |
unterstützt, so wie die Mehrheit der Menschen in Tunesien. Als | |
Coronapatienten in überfüllten Krankenhausfluren starben, wertete Saïed die | |
Krisenhandhabung von Verwaltung und Ministerien als Gefahr für die | |
nationale Sicherheit. Er ließ das Parlament von der Polizei umstellen und | |
die Armee ausrücken. | |
Seitdem verfolgt der 66-Jährige seinen autokratischen Plan zum Umbau der | |
2011 von den Bürgern blutig erstrittenen Demokratie. Seine „Vision“ ist die | |
Herrschaft von Lokalräten unter der Kontrolle eines mit üppigen Vollmachten | |
ausgestatteten Präsidenten nach französischem Vorbild – doch ohne Parteien | |
und politische Gegner. | |
Zammel und Maghaoui werden Saïeds Wiederwahl wohl nicht blockieren, beide | |
sind in Tunesien kaum bekannt. Wegen des Vorwurfs gefälschter | |
Unterschriften für seine Kandidatur sitzt Zammel seit Kurzem in | |
Untersuchungshaft. [2][Wer sich Saïed in den Weg stellt, wird schnell zum | |
Ziel von Justiz und Behörden.] Weit aussichtsreichere Kandidaten waren gar | |
nicht erst von der Wahlbehörde ISIE zugelassen worden. | |
## Aussichtsreiche Bewerber nicht zugelassen | |
Fast 100 Bewerbungen wurden abgelehnt. Als das tunesische | |
Verwaltungsgericht die von Saïed persönlich ernannte Führung der | |
Wahlbehörde anwies, drei aussichtsreiche Kandidaten zuzulassen, entzog das | |
neue Parlament dem Gericht kurzerhand per Gesetzesänderung die | |
Zuständigkeit. | |
Fakt ist: Obwohl in Tunesien im Arabischen Frühling von 2011 die wohl | |
wehrhafteste Zivilgesellschaft der Region entstanden war, reicht hier | |
mittlerweile ein Facebook-Post um ins Visier der Justiz zu geraten. Denn | |
Saïed und die mit ihm verbündeten Staatsfunktionäre wähnen sich immer noch | |
in einem Überlebenskampf mit den ehemals populären moderaten Islamisten der | |
Ennahda. Dunkle Mächte trachteten ihm nach dem Leben, deutete Saïed | |
mehrmals an. | |
Die von Geschäftsleuten gesteuerten Parteien wie die Ennahda und die aus | |
dem Ausland finanzierten Aktivisten hält er für den Grund der anhaltenden | |
Wirtschaftskrise im Land. Gegen 20 Ennahda-Funktionäre ermittelt die | |
Staatsanwaltschaft; der Ex-Vorsitzende Rachid al-Ghannouchi wurde wegen | |
nicht deklarierten ausländischen Geldeingangs zu drei Jahren Haft | |
verurteilt. | |
Doch Saïeds populistischer Kurs gegen die politische Elite und die aus | |
Europa massiv unterstützte Zivilgesellschaft findet nicht nur in dem | |
verarmten Südwesten des Landes Unterstützung. Auch in den Vororten von | |
Tunis machen viele die Ennahda für die Radikalisierung junger Tunesier | |
verantwortlich. Von Saïeds vermeintlichem Kampf gegen die allgegenwärtige | |
Korruption in Tunesien merkt man indes nur wenig. Als der Präsident im | |
Januar über ein neues Parlament ohne Parteien abstimmen ließ, wählten kaum | |
mehr als 10 Prozent. | |
## Proteststurm ab dem Jahr 2010 | |
„Von Meinungsfreiheit und Demokratie kann man eben nichts kaufen“, sagt | |
Café-Besitzer Zied Bouazizi in Sidi Bouzid. In der südtunesischen Stadt | |
hatte sich der Cousin des 33-Jährigen, Mohamed Bouazizi, 2010 mit Benzin | |
angezündet – aus Frustration über Polizeigewalt und seine | |
Lebensbedingungen. Bouazizis Tod löste einen Proteststurm in der arabischen | |
Welt aus, der mehrere Regime hinwegfegte. | |
„Doch in Tunesien bestimmen weiterhin dieselben Großfamilien die | |
Wirtschaft. Einen Job könnten die meisten meiner Freunde nur durch Kontakte | |
ergattern, also wandern sie aus“, sagt Zied Bouazizi. Rund 40 Prozent der | |
Jungen sind arbeitslos. Nach Jahren von Massenprotesten für | |
Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit widmen sich viele junge | |
Tunesier:innen nun lieber ihrer Karriere – wenn möglich in Europa. | |
[3][Brüssel indes übt nur wenig Kritik] an Saïeds autokratischem Kurs. Denn | |
seit dem EU-Migrationsabkommen fahren kaum noch Boote mit Migranten gen | |
Lampedusa oder Sizilien ab. Und Saïed? Hat längst andere Pläne. Bei einem | |
Besuch im Juni in Peking beschloss er zusammen mit Staatspräsident Xi | |
Jingping den Beginn einer strategischen Partnerschaft. | |
4 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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