| # taz.de -- Repression in Tunesien: Erinnerungen an Ben Ali werden wach | |
| > Im Herbst wählt Tunesien. Doch Staatschef Saied scheint kein Interesse an | |
| > freien Präsidentschaftswahl zu haben. Hinzu kommt eine Verhaftungswelle. | |
| Bild: Sitzt in Tunesien hinter Gittern: Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedri… | |
| Ramallah taz | Anfang Oktober wählt Tunesien einen neuen Präsidenten. Doch | |
| die Verhaftungswelle der letzten Monate hat die größte Errungenschaft der | |
| Revolution von 2011 zerstört; [1][das Ende der Meinungsfreiheit] erinnert | |
| viele Tunesier an die Zeit von Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali. | |
| Am Montag nun verkündete die staatliche Wahlkommission: Lediglich 3 von 14 | |
| Kandidaten dürfen bei der Wahl antreten. Neben dem amtierenden Präsidenten | |
| Kais Saied sind das Ayachi Zammel, ein unbekannter Aktivist der | |
| Zivilgesellschaft sowie der Gewerkschafter Zouhair Maghzaoui, der als | |
| Mitstreiter Saieds gilt. | |
| Die abgelehnten Kandidaten hatten laut Kommission unvollständige Unterlagen | |
| eingereicht oder andere Anforderungen nicht erfüllt. Mehrere Kandidaten | |
| beschwerten sich jedoch, bei der Anmeldeprozedur behindert worden zu sein. | |
| Fünf Bewerber mussten das Verfahren aus dem Gefängnis heraus organisieren. | |
| Die meisten Anführer der moderat islamistischen Partei Ennahda sitzen wegen | |
| angeblicher Verschwörung oder der Annahme von Geldern aus dem Ausland | |
| hinter Gittern. Ennahda-Mitglied und Ex-Gesundheitsminister Abdelatif Mekki | |
| wurde ebenso wie dem Medienunternehmer Nizar Chaari lebenslang untersagt, | |
| für Wahlen zu kandidieren. Beiden wird vorgeworfen, einen Staatsstreich | |
| gegen Saied geplant zu haben. | |
| Dieser hatte bis zum Jahr 2019 als Juraprofessor an der Universität Tunis | |
| gelehrt, bis er überraschend als Quereinsteiger in das Präsidentenamt | |
| gewählt wurde. Viele seiner aus den verarmten Regionen Tunesiens stammenden | |
| Anhänger verstanden zwar nur einen Teil seiner Reden – Saied spricht das in | |
| Tunesien eher unübliche Hocharabisch –, doch seine Kritik an der | |
| grassierenden Korruption und an den nach dem Arabischen Frühling | |
| entstandenen Parteien war ihnen Versprechen genug. | |
| In weiten Teilen Tunesiens hatte das Ende der Diktatur zwar | |
| Meinungsfreiheit, aber auch eine dramatische Verteuerung der | |
| Lebensmittelpreise gebracht. „Auch jetzt noch werden 70 Prozent der | |
| Wirtschaft von einem Dutzend Familien kontrolliert“, sagt ein | |
| Radiomoderator aus Tunis. Saied sei für sein Versprechen gewählt worden, | |
| die Islamisten und die Wirtschaftsmonopole zu brechen. „Aber dann entdeckte | |
| er, dass sich Korruption und Vetternwirtschaft in allen Bereichen der | |
| Gesellschaft breitgemacht haben“, so der Journalist. Nun glaube er, einen | |
| Kampf gegen buchstäblich alle politisch aktiven Tunesier führen zu müssen. | |
| ## Aktivistin als Störfaktor | |
| Noch vor einem Jahr hätte der Mann seinen Namen öffentlich gemacht, nun | |
| möchte er aus Angst vor der Staatsanwaltschaft anonym bleiben. Anlässlich | |
| des diesjährigen Jubiläums seines Staatsstreichs von 2022 begnadete Saied | |
| über 1.700 Tunesier, die aufgrund kritischer Kommentare, auch in sozialen | |
| Medien, hinter Gittern saßen. | |
| Doch gerade hoch angesehene Aktivist:innen wie Sihem Bensredine sitzen | |
| noch im Gefängnis. Die gelernte Journalistin war während der | |
| Kandidatenauswahl im Juli verhaftet worden. Seit 2023 darf sie Tunesien | |
| nicht verlassen. Öffentlich ist nur wenig über die Anschuldigungen gegen | |
| die Menschenrechtsaktivistin bekannt. Der Geldwäschevorwurf der | |
| Staatsanwaltschaft führt in oppositionellen Kreisen meist nur zu | |
| Kopfschütteln. | |
| Viele vermuten eher den langjährigen Einsatz der 73-Jährigen für die | |
| Aufarbeitung der Ben-Ali-Diktatur als Grund des Verfahrens. Bis 2011 war | |
| sie in der Liga für Menschenrechte aktiv, seitdem trat sie als Vorsitzende | |
| der Wahrheitskommission mit dem Aufdecken vieler Verbrechen und | |
| willkürlicher Verhaftungen dem noch immer nicht reformierten | |
| Innenministerium auf die Füße. | |
| In dem auf der Avenue Habib Bourguiba im Herzen von Tunis liegenden Gebäude | |
| wurden früher Hetzkampagnen gegen Bensredine organisiert. Nach der Flucht | |
| ins Ausland kehrte sie nach der Revolution zurück, um die Justizreform | |
| anzustoßen. Doch infolge der islamistischen Terrorwelle von 2015 und der | |
| Migrationskrise wurde das Innenministerium eher zu [2][einem Partner | |
| Europas] – und Sihem Bensredine ein Störfaktor. | |
| 13 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
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