# taz.de -- Wahlen in Tunesien: Europa darf nicht wegschauen | |
> Tunesiens Präsident hat für Oktober Neuwahlen angesetzt. Auf freie Wahlen | |
> kann man allerdings nicht hoffen – daran trägt auch die EU Schuld. | |
Bild: Der tunesische Präsident Kais Saied hat Neuwahlen angesetzt | |
Mit den für den 6. Oktober geplanten Präsidentschaftswahlen will Kais Saied | |
sein basisdemokratisches Projekt vollenden. Sollte er siegen, ohne gegen | |
einen der durchaus populären Gegenkandidaten anzutreten, wäre das gelobte | |
Vorzeigeland des arabischen Frühlings endgültig Geschichte. Und Europa um | |
einen weiteren Doppelstandard reicher. | |
2019 war der damals unbekannte Juraprofessor und Politikquereinsteiger mit | |
dem Versprechen gewählt worden, mit den aus seiner Sicht korrupten | |
politischen Parteien und den mit ihnen verbündeten Geschäftsleuten | |
aufzuräumen. Hunderte Manager wurden seitdem mit einem Ausreiseverbot | |
belegt. Dutzende Richter, Journalisten und Beamte sitzen hinter Gittern. | |
Mitten in der Corona-Krise, als Ärzte auf den Gängen und Parkplätzen | |
überfüllter Kliniken um das Leben vieler Patienten kämpften, setzte Saied | |
die Regierung ab. Das im Westen als Erfolgsmodell des arabischen Frühlings | |
gelobte Parlament wurde später aufgelöst. Die Mehrheit der Tunesier begrüßt | |
den Putsch aus Frust über die täglich erlebte Korruption und | |
Vetternwirtschaft bis heute. | |
Bei der von Saied persönlich initiierten Neuwahl des Parlaments im Winter | |
2022/23 gingen dennoch mit knapp über 11 Prozent so wenige Bürger an die | |
Urnen wie bei kaum einer anderen Wahl. Sie haben ihren Glauben an | |
demokratischen Wandel verloren. | |
## Desinteresse, Angst und andere Nöte | |
Saieds Chancen auf eine Wiederwahl stehen trotz Wirtschaftskrise und | |
Reformstau gut. Wegen der in der gesamten Region grassierenden Abkehr vom | |
politischen Leben und aus Angst seiner Gegner, in das Visier der | |
Staatsanwaltschaft zu geraten. | |
[1][Viele Menschenrechtsaktivisten] können sich ihr seit 2011 anhaltendes | |
Engagement aufgrund der horrend gestiegenen Lebensmittelpreise schlichtweg | |
nicht mehr leisten. Dass die Rechtsanwältin Sonia Dachmani wegen ihrer | |
harmlosen Kritik an den Lebensumständen zehntausender in Tunesien lebender | |
Migranten im Gefängnis sitzt, findet auch in europäischen Hauptstädten kaum | |
noch Beachtung. | |
## Europa kooperiert lieber mit den Eliten | |
Denn die tunesischen Sicherheitskräfte lassen, [2][wie mit der | |
EU-Kommission und der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni | |
vereinbart], kaum noch Boote mit Migranten nach Lampedusa durch. Brüssel | |
und Berlin verraten mit ihrem Schweigen gerade diejenigen, die sich | |
weiterhin für gesellschaftlichen Wandel einsetzen. | |
Die traditionell [3][starke tunesische Zivilgesellschaft] bleibt auch in | |
Zukunft der Motor für gesellschaftlichen Wandel. Auch wegen ihrer | |
propalästinensischen Haltung im Gaza-Krieg stehen viele | |
Nicht-Regierungsorganisationen allerdings auf der Streichliste des | |
Auswärtigen Amtes. Ein Geschenk Berlins an die alten Regimekräfte und den | |
aufgeblähten Bürokratieapparat, Kais Saieds verbliebene Machtbasis. | |
Europa kann nur auf die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und Reformen | |
pochen, wenn es die Bürger und Präsidenten an sich bindet. Wegen der | |
derzeit wenigen in Italien ankommenden Boote auf autokratische Kräfte zu | |
setzen, ist kurzsichtig. Diese haben längst erkannt, dass sich Europa durch | |
seine Migrationspolitik erpressbar gemacht hat. | |
4 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Pressefreiheit-in-Tunesien/!6010130 | |
[2] /Tausende-Fluechtende-in-Tunesien/!5999193 | |
[3] /Zivilgesellschaft-in-Tunesien/!6009877 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
## TAGS | |
Tunesien | |
Kais Saied | |
Europäische Union | |
Zivilgesellschaft | |
Wahlen in Tunesien | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Wahlen in Tunesien | |
Tunesien | |
Tunis | |
Tunesien | |
Tunesien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Präsidentschaftswahlen in Tunesien: Zivilgesellschaft am Boden | |
Im tunesischen Wahlkampf gibt es keine echten Gegner, der amtierende | |
Präsident Kaïs Saïed regiert autokratisch und menschenverachtend. | |
Queere Szene vor den Wahlen in Tunesien: Heimlich aus der Reihe tanzen | |
Im autokratischen Tunesien geht die queere Szene ihre Wege im Verborgenen. | |
Menschen wie Milïe, 21, finden bei Ballroom- und Voguing ihre Heimat. | |
Tunesien vor den Wahlen: Präsident bekommt Gegendruck | |
Zwei Oppositionskandidaten müssen laut dem Obersten Gericht wieder | |
zugelassen werden. Am Freitag protestierten Tausende gegen die Regierung | |
von Kais Saied. | |
Repression in Tunesien: Erinnerungen an Ben Ali werden wach | |
Im Herbst wählt Tunesien. Doch Staatschef Saied scheint kein Interesse an | |
freien Präsidentschaftswahl zu haben. Hinzu kommt eine Verhaftungswelle. | |
Pressefreiheit in Tunesien: Kein fabelhaftes Land | |
Die tunesische TV-Moderatorin Sonia Dahmani wurde nach einem | |
regierungskritischen Spruch verhaftet. Ihre Kollegen sehen die | |
Pressefreiheit in Gefahr. | |
Zivilgesellschaft in Tunesien: Kompromisslos gegen Kritiker*innen | |
Tunesien lässt vermehrt Kritiker*innen verhaften. Vor laufender Kamera hat | |
es nun eine prominente Anwältin getroffen. Proteste sind geplant. | |
Tausende Flüchtende in Tunesien: Schutzlos im Olivenhain | |
Seit einem EU-Deal kommen weniger Flüchtlinge von Tunesien nach Europa. | |
Rund 70.000 Menschen harren stattdessen in provisorischen Camps aus. |