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# taz.de -- Tausende Flüchtende in Tunesien: Schutzlos im Olivenhain
> Seit einem EU-Deal kommen weniger Flüchtlinge von Tunesien nach Europa.
> Rund 70.000 Menschen harren stattdessen in provisorischen Camps aus.
Bild: Abubaker Bangura lebt mit seiner siebenköpfigen Familie aus Sierra Leone…
„Es ist das einzige Zuhause, das wir derzeit haben“, sagt Abubaker Bangura.
Der Ingenieur aus Sierra Leone lebt mit seiner Familie in einem aus
Plastikplanen, Holzlatten und Nylonband notdürftig zusammengebauten Zelt.
Nachts ist es bitterkalt. Es gibt Wanzen und kaum Möglichkeit zu duschen.
So leiden die sieben Bewohner:innen unter Hautkrankheiten.
Banguras Schwester Azza, deren Mann Mohamed, Banguras Frau Leoni und seine
Cousins schlafen seit acht Monaten in wechselnden Schichten auf den drei
Wolldecken, die ihnen zur Verfügung stehen. Nur die dreijährige Tochter
Lucille schläft auf einer eigenen Matratze. Bangura hatte sie wie die Töpfe
und Teller auf einer Müllhalde gefunden.
Mehr als 3.000 Menschen, darunter etwa 300 Babys, leben auf dem scheinbar
endlosen Olivenfeld, das in der Gegend schlicht „Kilometer 30“ genannt
wird. Es gibt weder medizinische Versorgung noch genügend zu essen. Viele
müssen hungern. Die Entfernungsangabe bezieht sich auf die [1][tunesische
Handelsmetropole Sfax], die 30 Kilometer südlich der Ansammlung an
notdürftigen Behausungen liegt.
Entlang der Landstraße zwischen der 400.000-Einwohner-Stadt und dem in
diesem Sommer bereits ausgebuchten Touristenort Mahdia leben seit Oktober
vergangenen Jahres rund 70.000 Migrant:innen und Flüchtlinge aus 15
Ländern. [2][Sie hoffen auf die Weiterreise zur italienischen Insel
Lampedusa.]
## Kaum noch Boote legen ab
Doch seitdem die EU mit Tunesien ein [3][Kooperationsabkommen zur
Eindämmung der Migration] getroffen hat, legen von dem 40 Kilometer langen
Küstenstreifen kaum noch Boote ab. [4][Patrouillen der Nationalgarde]
halten an den Stränden der Fischerdörfer La Looza oder El Amra Ausschau
nach Schmugglern.
Meist nachts versuchen sie in wenigen Stunden zusammengeschweißte
Metallboote zusammen mit jeweils bis zu 40 Insassen unbemerkt an den Strand
zu bringen. Die Fahrt nach Europa dauert bis zu 20 Stunden. Für das Boot
und den Außenbordmotor nehmen die Schleuser umgerechnet 12.000 Euro.
Die Zahl der Ankommenden in Europa ist im Vergleich zum vergangenen Jahr
drastisch gesunken. Niemand weiß, wie viele die Überfahrt nicht überlebt
haben. Denn anders als die in Libyen und Südtunesien verwendeten Holzboote
sinken die ohne Kiel gebauten Metallboote bereits bei leichtem Wellengang,
ohne eine Spur zu hinterlassen. „Ich habe noch niemanden am Kilometer 30
getroffen, der schwimmen kann“, sagt Abubakr Bangura. „Aber wir müssen von
hier weg, ob ich will oder nicht.“
## Lage spitzt sich zu
Auf dem einem tunesischen Olivenbauern gehörenden Gelände gibt es weder
Toiletten, eine Schule oder sonstige Einrichtungen. „Obwohl einige hier
schon seit über einem Jahr leben, haben bisher weder das
UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR noch die Internationale Organisation für
Migration (IOM) geholfen, sagt der 35-jährige Bangura. In der
Öffentlichkeit spreche die IOM von Rückführungsflügen. „Aber auch davon
sehen wir nichts.“
Bereits seit Monaten gibt es in der Gegend noch weitere Lager: an den
Kilometern 19, 25, 32 und 36. Für große Schlagzeilen hat keines davon
gesorgt. In den vergangenen Wochen hat sich die Lage zugespitzt. Weil die
Behörden Tunesier:innen verbieten, die Migrant:innen, wie in den
vergangenen Jahren üblich, als Tagelöhner anzustellen, gehen nun die Frauen
aus den Lagern in El Amra betteln. Männer trauen sich nicht mehr aus den
Lagern.
„Wer auf der Landstraße von der Polizei angetroffen wird, muss sein
gesamtes Geld und das Handy abgeben“, sagt Abraham, ein drahtiger Mann aus
Guiney-Conkry, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Die taz war während
ihres Besuchs in El Amra mehrmals Zeugin, wie Beamte Migrant:innen auf
der Landstraße stoppten und ihnen offenbar Hab und Gut abnahmen.
Doch es gibt auch immer wieder Gesten der Mitmenschlichkeit. „Viele
Tunesier:innen geben mir Essen oder Kleingeld, sie sind schockiert von
unserer Situation“, sagt Mary Saw. Die 27-Jährige erbettelt in El Amra am
Tag durchschnittlich 10 Euro. Davon kauft sie Lebensmittel für fünf
Mitreisende. „Wenn ich nichts ergattern kann, essen wir manchmal tagelang
nichts.“
## Ziel ist, die Menschen abzuschrecken
Vor vier Jahren hat sie sich aus Guinea über Mali, Algerien und Libyen auf
den Weg nach Europa gemacht. „Mein Ziel ist Europa, das gelobte Land“, sagt
sie. Wie viele im Lager glaubt auch sie, dass die tunesischen Behörden die
Lebensumstände ganz bewusst nicht verbessern. Ziel sei es, Menschen
abzuschrecken, sich überhaupt auf den Weg über Tunesien nach Europa zu
machen. Doch „die Politik der Abschreckung funktioniert nicht. Zu Hause
habe ich wie fast alle hier keine Hoffnung auf einen Job oder irgendeine
Form von Sicherheit im Leben.“
Der Preis für die Suche nach einem besseren Leben ist hoch. Drei Monate saß
Mary Saw in der libyschen Stadt Sabratah in Haft. Dort sei sie mehrmals
vergewaltigt worden. Beim gemeinsamen Marsch durch die libysche Wüste nach
Tunesien sei eine Mitreisende morgens losgegangen, um nach Wasser zu
suchen. Seitdem sei sie verschollen. Sie hinterließ ihre zweijährige
Tochter Rabiate, um die sich nun Marys Schwester kümmert.
Die meisten Bewohner von „Kilometer 30“ haben auf ihrer bisherigen Reise
ähnliche traumatisierende Erfahrungen gemacht. Im Camp haben sie sich nun
eine gemeinsame Organisationsstruktur gegeben. Sprecher der 15 vertretenen
Nationen haben den 35-jährigen Angelou Happyvidar aus Lagos zum Präsidenten
des Lagers ernannt. „Das ist eher ein symbolischer Titel“, sagt er der taz.
„Aber bis zu unserer Abreise nach Europa wollen wir friedlich
zusammenleben, auch um den Behörden klar zu machen, dass von uns keine
Gefahr ausgeht.“
Für den Mann mit dem Künstlernachnamen gibt es keinen Weg zurück nach
Nigeria. [5][„Wegen meiner sexuellen Orientierung] wurde ich mehrmals
verprügelt und mit dem Tode bedroht. Kommen Sie mir daher nicht damit, wie
gefährlich die Überfahrt nach Lampedusa ist“, sagt er. „Glauben Sie mir,
kaum jemand von uns hat sich freiwillig auf den Weg gemacht.“
Bei Gewalt zwischen Ehepaaren oder Konflikten während der täglichen
Fußballspiele erlässt der stets mit einer roten Mütze gekleidete Präsident
kleine Geldstrafen. Bei seinen Rundgängen erklärt Angelou Happyvidar den
täglich über die libysche oder algerische Grenze kommenden Neuankömmlingen
die Regeln des Zusammenlebens.
Hoffnungen auf eine baldige Verbesserung der Lage hat er nicht einmal
selbst. „Ich kann nur an die Autoritäten appellieren, uns weiterziehen zu
lassen“, sagt er. „Weder die Einheimischen wollen uns hier, noch wollen wir
hier bleiben. In Europa können wir hingegen [6][der Wirtschaft mit unserer
Arbeitskraft helfen].“
## Bei der tunesischen Bevölkerung steigt der Frust
Doch nach den vielen von der tunesischen Küstenwache vereitelten
Ablegeversuchen und dem neu eingeführten Arbeitsverbot hat derzeit kaum
einer der 70.0000 nördlich von Sfax lebenden Migrant:innen noch das
Geld, die Schleuser zu bezahlen.
Und so steigt auch bei der Bevölkerung in El Amra der Frust. Der
Kioskbesitzer Mohamed Azizi fürchtet angesichts der 7 Millionen Flüchtlinge
im Sudan, die Zahl der „Afrikaner“ werde noch weiter steigen. „Vergangenes
Jahr gab es zwischen uns Einheimischen in El Amra und den Menschen auf den
Feldern keine Spannungen“, sagt er. „Aber seitdem die Behörden in Tunis,
Sfax und Brüssel uns zum Grenzwächter für Europa machen, eskaliert die
Stimmung.“ Als Lösung hat er nur einen Scherz parat: „Die Migranten bleiben
hier, und wir Tunesier gehen nach Europa.“
Ein Krankenwagen fährt ins Lager. Die Bewohner:innen haben ihn gerufen:
Eine hochschwangere Frau muss in eine Klinik. Beamte der Nationalgarde, die
während des Besuchs der taz in dem Lager erscheinen, zeigen sich
beeindruckt von der Organisation der Migrant:innen.
Doch nur wenige Tage später fährt frühmorgens eine Kolonne der
Nationalgarde mit drei Bulldozern vor. „Sie haben nur die Zelte der
Familien mit Kindern stehen lassen, die anderen wurden zerstört“, erzählt
Präsident Angelou Happyvidar der taz leise am Telefon. „Wir schlafen nun
wieder schutzlos im Freien.“
Korrekturhinweis: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, dass
Abubaker Bangura aus der Elfenbeinküste stammen würde. Richtig ist, dass er
aus Sierra Leone stammt. Wir haben die entsprechenden Stellen geändert.
3 Apr 2024
## LINKS
[1] /Migration-nach-Lampedusa/!5958536
[2] /Migration-nach-Lampedusa/!5958536
[3] /EU-Kommissionspraesidentin-auf-Lampedusa/!5960672
[4] /Fluechtlingsdeals-der-EU/!5999192
[5] /LGBTIQ-und-Migration/!5964993
[6] /Migration-gegen-Arbeitskraeftemangel/!5977767
## AUTOREN
Mirco Keilberth
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