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# taz.de -- Migration über das Mittelmeer: Gestrandet zwischen EU und Afrika
> Aus Tunesien legen weniger Boote nach Europa ab. Geflüchtete sammeln sich
> deshalb auf Feldern an der Küste. Ihre Wut schlägt teilweise in Gewalt
> um.
Bild: Hatte im Sommer eine Wohnung, nun lebt er im Freien: Mohammed Kamara (Mit…
Sfax/Hmaidia/al-Amra taz | Noch ist unklar, ob das [1][Migrationsabkommen
von letztem Sommer zwischen der EU und Tunesien] jemals umgesetzt wird.
Dennoch haben tunesische Sicherheitskräfte die Strände nördlich der
Küstenstadt Sfax bereits abgeriegelt. Von dort legten im Sommer noch bis zu
9.000 Menschen täglich mit Booten nach Italien ab. Nun sammeln sich nach
Schätzungen von Menschenrechtsaktivisten rund 15.000 Migrant:innen und
Flüchtlinge auf Feldern rund um die Stadt. Ihre Wut über die Lebensumstände
verwandelt sich zunehmend in Gewalt. Am Wochenende wurde ein Polizist
lebensgefährlich verletzt.
„Al-Amra findet ihr. Folgt einfach den mit Rucksäcken bepackten
Menschengruppen.“ Der Taxifahrer Mohammed Hamdi wartet neben seinem gelb
gestrichen VW Polo am Bab-Jebli-Platz im Zentrum von Sfax auf Kunden. Immer
wieder fragen ihn Flüchtlinge, die mit Überlandbussen in Sfax ankommen,
nach dem Weg nach al-Amra. Die Olivenhaine und Sandstrände rund um das
ehemals beschauliche Fischerdorf sind für viele die letzte Station vor der
Überfahrt nach Lampedusa.
Wer es sich leisten kann, den fährt Hamdi für umgerechnet 30 Euro über
Schleichwege in ein Gebiet, das an ein Flüchtlingslager erinnert. Die
Kontrollpunkte der Polizei auf der Landstraße M5 meidet Hamdi, die Mitnahme
von Migrant:innen und Flüchtlingen ist seit dem Sommer für Bus- und
Taxifahrer verboten. Doch die meisten Ankommenden haben kein Geld; viele
kommen direkt aus Kriegsgebieten, besonders aus Sudan.
Unter einem Olivenbaum nördlich des Dorfes Hmaidia, nahe al-Amra, lebt auch
Mohammed Kamara aus Guinea-Bisseau. „Im Sommer hatte ich noch eine
angemietete Wohnung und einen Job in Sfax“, sagt der Vorarbeiter. „Nun
leben wir ohne Schlafsäcke oder Zelt im Freien. Mit zwei Kleinkindern. Seit
Beginn der nächtlichen Kälte sind die meisten von uns krank.“
Fahrzeug der Nationalgarde umgestoßen
Der Bab-Jebli-Platz in Sfax ist in ganz Afrika bekannt. Hier trifft man
Fischer und Schmuggler, die Plätze auf Booten oder Tagelöhnerjobs auf
Farmen anbieten. Im Sommer kamen hier täglich Hunderte Flüchtlinge und
Migrant:innen aus Subsahara-Afrika an, oft gezeichnet von der Gewalt der
Milizen und Sicherheitskräfte im benachbarten Algerien und Libyen. Nun
kommen zwar weniger Überlandbusse an, doch gleichzeitig legen auch kaum
noch Boote ab. Um die wartenden Menschen kümmern sich weder die Behörden
noch Hilfsorganisationen.
Doch mit den gesunkenen Temperaturen und den Herbststürmen eskaliert nun
die Lage. „Am Wochenende habe ich eine Gruppe von Sudanesen nach Hmaidia
gebracht, ein Dorf bei al-Amra, Treffpunkt vieler Flüchtlinge aus Sudan“,
berichtet Taxifahrer Hamdi. „Als wir ankamen, griff ein wütender Mob einen
Mannschaftstransporter der Nationalgarde an. Es herrscht ein regelrechter
Krieg zwischen den Migranten, den Einheimischen und der Polizei.“
Videos zeigen Hunderte [2][Sudanesen, die ein Fahrzeug umstoßen] und den
Einsatz von Hilfsorganisationen statt der Polizei fordern. Bei den
Auseinandersetzungen [3][wurde ein Nationalgardist mit Knüppeln
niedergeschlagen]. In Sfax kämpfen Ärzte nun um sein Überleben.
„Das ist vielleicht auch im Interesse Brüssels“
Die Szenen erinnern an die Gewaltexzesse in Sfax im Sommer. Damals hatten
von Nationalisten aufgewiegelte tunesische Jugendliche zusammen mit der
Polizei fast alle Migranten aus Sfax vertrieben. Zuvor hatten Bilder von
Westafrikanern, die an der libyschen Grenze ausgesetzt wurden, weltweit für
Empörung gesorgt.
Dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgerechnet direkt
danach in Tunis ein Migrationsabkommen mit Tunesien unterschrieb, sorgte in
der tunesischen Zivilgesellschaft für Verwunderung. In Brüssel wundert man
sich heute dagegen offenbar, dass die Behörden die aus Sfax Vertriebenen
nun nicht mehr in die Wüste, sondern in die Küstendörfer treiben.
Der Aktivist Zied Meluli aus Sfax erklärt die Taktik der Behörden so:
„Seitdem man die Migrant:innen in die Dörfer vertrieben hat, ist die
Problematik aus der Öffentlichkeit verschwunden. Das ist vielleicht auch im
Interesse der Politiker in Brüssel.“ Obwohl von der Ankunft der
Migrant:innen überrascht, freuten sich zunächst viele lokale Fischer und
Bauern, so wie der Café-Besitzer und Fischer Ousama Yangui: „Mit der
Vermietung von Häusern, den Vorbereitungen für die Abfahrten und der
Lieferung von Lebensmitteln auf die Felder verdienen wir endlich genügend
Geld. Als Fischer kann man das dank Überfischung und Klimawandel nicht
mehr.“
Doch nun rebellieren viele der wartenden Migrant*innen, die oft unter
Mindestlohn auf den Feldern arbeiten. Viele haben für ihre Überfahrt an die
Schmuggler schon gezahlt. „Die Sudanesen in Hmaidia haben regelrechte
Selbstverteidigungsgruppen gegen die Schmuggler gebildet“, sagt Meluli. Der
45-jährige Tunesier berichtet, der Streit dort sei entstanden, als
Flüchtlinge von der Polizei konfiszierte Boote wieder an den Strand ziehen
wollten.
28 Nov 2023
## LINKS
[1] /Migrationsabkommen-der-EU-mit-Tunesien/!5947504
[2] https://www.facebook.com/100050173579384/posts/pfbid0RmA2xSTgRufhtdXkkW3p1A…
[3] https://twitter.com/tunistribune/status/1728544881113530726?s=48
## AUTOREN
Mirco Keilberth
## TAGS
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