# taz.de -- Bootsunglück vor Tunesien: Humanitäre Krise am Mittelmeer | |
> Über 16.000 Migranten lagern seit Monaten nahe der Hafenstadt Sfax. Bei | |
> einem verzweifelten Fluchtversuch sind mindestens 13 Menschen ertrunken. | |
Bild: Sfax, Tunesien, 31. Januar: Geflüchtete wärmen sich an einer Feuerstell… | |
SFAX taz | Bei einem Bootsunglück vor der tunesischen Hafenstadt Sfax sind | |
am Donnerstag mindestens 13 sudanesische Geflüchtete ertrunken. Mindestens | |
27 Insassen eines nach Augenzeugenberichten 10 Meter langen Metallbootes | |
werden noch vermisst. Die tunesische Küstenwache konnte bei der | |
Rettungsaktion zwei Überlebende bergen, die in einem Krankenhaus wegen | |
Unterkühlung behandelt wurden. | |
Wegen starkem Wind und einem Temperatursturz an der tunesischen Küste | |
bleiben zur Zeit auch größere Fischerboote in den Häfen. Die lokalen | |
Behörden halten die Überlebenschance der Vermissten trotz der anhaltenden | |
Suche daher für sehr gering. | |
Das Unglück wirft ein Schlaglicht auf die wegen des Krieges in Gaza etwas | |
in Vergessenheit geratene humanitären Krise rund um Sfax. Entlang des | |
Küstenstreifens zwischen der 330.000-Einwohner-Stadt und dem Fischerort Al | |
Amra [1][harren seit dem Herbst mindestens 16.000 Migrant*innen und | |
Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika, teils im Freien, aus]. Die hygienischen | |
Umstände in dem an ein offenes Flüchtlingslager erinnernden Gebiet sind | |
katastrophal. | |
Zwischen der tunesischen Bevölkerung, der Polizei und den nach | |
Nationalitäten getrennten Migrant*innen kommt es immer wieder zu | |
Spannungen. Im Herbst wurde ein Beamter der Nationalgarde schwer verletzt, | |
als Hunderte Menschen aus Sudan gegen die aus ihrer Sicht willkürlichen | |
Verhaftungen und die Deportationen in die libysche und algerische Wüste | |
demonstriert hatten. | |
Selbst in Tunesien ist nur wenig über die außer Kontrolle geratene Lage und | |
die fast wöchentlich vermeldeten Bootsunglücke bekannt. Internationalen und | |
lokalen Journalisten wurde es immer wieder untersagt, nach Al Amra zu | |
fahren oder mit Migrant*innen zu sprechen. Mehrere Anfragen von | |
europäischen Diplomaten und Parlamentsabgeordneten, sich vor Ort | |
umzuschauen, wurden abgelehnt. | |
## Keine Hilfsorganisationen im Einsatz | |
Die Sicherheitskräfte haben um die tagsüber auf den kilometerlangen | |
Olivenhainen verteilt lebenden Menschen einen Ring an Kontrollpunkten | |
errichtet. Mit dem baldigen Ende der Olivenernte und einer Wetterberuhigung | |
scheint eine baldige Eskalation der Lage unabwendbar. Bislang konnten viele | |
der Gestrandeten durch Arbeit als Tagelöhner auf den schier endlosen | |
Feldern zumindest Lebensmittel und einen Platz in den völlig überfüllten | |
Unterkünften zahlen. | |
Hilfsorganisationen sind in dem Gebiet nicht im Einsatz, nur einige | |
schwangere Frauen und medizinische Notfälle wurden offenbar von mobilen | |
Teams der Organisation für Migration (IOM) betreut, wie die taz bei einem | |
Besuch vor Ort erfuhr. | |
Menschenrechtsorganisationen wie auch die Bewohner*innen der | |
Fischerdörfern der Region fragen sich, welche Strategie Präsident Kais | |
Saied und die Regierung verfolgen. „Wie die Politiker in Europa hatten sie | |
vielleicht auch gehofft, dass sich das Problem in Luft auflöst“, sagt der | |
aus Sfax stammende Aktivist Wahid Dahech. Mit seiner Bürgerinitiative für | |
eine Rückkehr demokratischer Verhältnisse und Rechtsstaatlichkeit in Sfax | |
hatte der Tunesier ungewollt Gewalt gegen Migrant*innen ausgelöst. | |
## Aus den Städten vertrieben | |
Nachdem Jugendgangs in sozialen Medien zahlreiche Menschen in Sfax gegen | |
„die Afrikaner“ aufgehetzt hatten, beteiligten sich auch Nationalgarde und | |
Polizisten an der „Säuberung“ der Handelsmetropole. [2][Migrant*innen | |
und Flüchtlinge wurden aus den von ihnen gemieteten Wohnungen und | |
öffentlichen Parks vertrieben], in denen vor allem viele sudanesischen | |
Kriegsflüchtlinge Zuflucht gefunden hatten. | |
Da es in Tunesien kein Asylrecht gibt, halten sich auch die aus | |
Bürgerkriegsgebieten stammenden Inhaber von Flüchtlingsausweisen des UNHCR | |
illegal im Land auf. Die für Flüchtlinge zuständige Organisation der | |
Vereinten Nationen gibt zudem nur nach einem umständlichen Verfahren und | |
vereinzelt Dokumente heraus. | |
„Das Resultat dieses Versagens auf mehreren Ebenen ist, dass nun alle | |
zwischen Al Amra und Sfax hoffen, im Frühjahr nach Europa überzusetzen,“ | |
sagt Wahid Dahech. „[3][Wenn die Behörden, wie mit Italien vereinbart, | |
weiterhin verhindern, dass Boote ablegen,] müssen sich hier die | |
Lebensumstände verbessern.“ | |
Vor allem zwischen den täglich über Libyen und Algerien ankommenden | |
Sudanesen, meist allein reisenden jungen Männern, und den tunesischen | |
Schmugglern kommt es vermehrt zu Gewaltvorfällen. Die Überfahrten sind | |
oftmals schon bezahlt, werden dann aber von den Schmugglern immer wieder | |
abgesagt. | |
In dem Dorf Hmaydiya lebende sudanesischen Flüchtlinge übernehmen die Boote | |
kurzerhand selber und legen ab. Nach Angaben von Migranten geschah dies | |
auch am letzten Donnerstag. Trotz der widrigen Wetterverhältnisse auf dem | |
Mittelmeer hatten sich die Sudanesen demnach aus Verzweiflung über die | |
Zustände von einem Strand nahe des Dorfs Jebiniana auf den Weg über das | |
Meer gemacht. | |
9 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Fluechtende-an-der-Grenze-zu-Libyen/!5943278 | |
[2] /Gewalt-gegen-Migrantinnen-in-Tunesien/!5942175 | |
[3] /EU-Migrationsdeal-mit-Tunesien/!5944944 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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