# taz.de -- Gewalt gegen Migrant:innen in Tunesien: „Wenn euch euer Leben lie… | |
> In Tunesien zwingen Privatleute Migrant:innen und Geflüchtete aus | |
> ihren Wohnungen, der Staat setzt sie dann in der Wüste ab – bei 40 Grad | |
> im Schatten. | |
Bild: Immer wieder gibt es in Tunesien Gewalt gegen Migrant:innen und Geflücht… | |
TUNIS/SFAX taz | Viele Menschen in der langen Schlange vor dem Bahnhof von | |
Sfax sind stumm. In den Gesichtern der meist aus Westafrika kommenden | |
Migrant:innen sind noch ihre Erlebnisse der letzten Stunden geschrieben. | |
In der Nacht auf Mittwoch hatten mit Knüppeln und Messern bewaffnete | |
Jugendliche in der zweitgrößten Stadt Tunesiens Hunderte Migrant:innen | |
aus ihren angemieteten Wohnungen gezwungen und in Gruppen auf die | |
Hauptstraßen getrieben. | |
Die von den Angreifern in den sozialen Medien geteilten Videos zeigen | |
verschreckte Menschen mit erhobenen Händen, die von Passanten bedroht und | |
unter üblen Beschimpfungen in Richtung Bahnhof und den Taxistationen | |
getrieben werden. „Ihr müsst Sfax verlassen, eure Answesenheit hier wird | |
nicht mehr akzeptiert. Wenn euch euer Leben lieb ist, dann geht“, erklärt | |
ein bärtiger Mann einer auf dem Boden kauernden Gruppe aus der | |
Elfenbeinküste auf Französisch. | |
Anlass der Kampagne ist wohl der Tod eines Tunesiers, der bei einer | |
Auseinandersetzung mit drei Kamerunern am Montag ums Leben kam. | |
Dass Migrant:innen mit Gewalt vertrieben werden, passiert in Tunesien | |
nicht zum ersten Mal. Kais Saied hatte bei einem Treffen mit Generälen und | |
Ministern des Nationalen Sicherheitsrats im Februar die aus Libyen | |
Geflohenen oder ohne Visum aus Westafrika Eingereisten als Verschwörung | |
gegen die arabische und islamische Kultur des Landes bezeichnet. Die | |
illegale Migration müsse beendet werden, sagte der 2019 mit überwältigender | |
Mehrheit gewählte Präsident damals. [1][Daraufhin gab es eine erste Welle | |
der gewalttätigen Vertreibung von Migrant:innen], viele von ihnen | |
landeten in Sfax, das bis jetzt als Zufluchtsort galt. | |
## Die Frustration vieler Tunesier schlägt in Hass um | |
Viele Migrant:innen arbeiten als Service- oder Reinigungskraft in Cafés | |
oder in Büros. Mit der Bezahlung unter dem Mindestlohn geben sie sich | |
zufrieden und ermöglichen damit vielen Firmen das Überleben in der seit der | |
Coronapandemie anhaltenden Wirtschaftskrise. | |
Doch die Frustration der Tunesier:innen über den politischen und | |
wirtschaftlichen Stillstand im Land nutzt die Splitterbewegung Nationale | |
Partei Tunesiens geschickt dafür, Hass gegen Fremde zu befeuern. Zwar ist | |
die Kriminalitätsrate kaum gestiegen – obwohl die Zahl der in Sfax lebenden | |
libyschen Familien und westafrikanischen Migrant:innen stark gewachsen | |
ist. Doch viele in Sfax stimmen der gewaltsamen Verteibung zu. | |
„In einigen Stadtteilen sind sie nun in der Mehrheit“, beschwert sich der | |
Gemüsehändler Mohamed Baklouti. Der 48-jährige Familienvater verkauft am | |
Beb-Jebli-Platz im Zentrum von Sfax Obst und Gemüse. Wenige Meter weiter | |
hatten sich – nach den ersten Vertreibungen im Februar – endlich wieder | |
Händler aus der Elfenbeinküste und Ghana getraut, ihre Waren anzubieten. | |
„Wir akzeptieren sie, weil sie das verdiente Geld dazu nutzen, weiter nach | |
Europa zu reisen“, sagte Baklouti noch letzte Woche, vor den Vertreibungen. | |
Nun sind die Westafrikaner weg. In Bussen werden sie offenbar von der | |
Staatsmacht an die [2][libysche Grenze] gefahren und im Niemandsland | |
abgesetzt. Augenzeugen aus dem Grenzort Ben Guarden berichten von Müttern | |
und Kindern, die bei 40 Grad im Schatten auf eine Weiterreisemöglichkeit | |
warten. | |
## „Ich weiß nicht, wohin es geht“ | |
Im Zug von Sfax nach Tunis saßen am Donnerstag zahlreiche Menschen mit | |
Schürfwunden. Tunesier:innen reichen den meist ohne ihre Habseligkeiten | |
oder Geld fliehenden Menschen Wasserflaschen. Doch auf der Strecke, in der | |
Stadt Mahdia, stoppte die Polizei den Zug und lud Migrant:innen in | |
Busse. „Ich weiß nicht, wohin es geht“, so ein Ghanaer beim Einsteigen. | |
Ein gemeinsamer Besuch von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, dem | |
niederländischen Premier Mark Rutte und seiner italienischen Amtskollegin | |
[3][Giorgia Meloni] Mitte Juni zeigte, was Europa von Tunesien erwartet: | |
Die Küstenwache und Sicherheitskräfte sollen die in diesem Jahr stark | |
gestiegene Zahl von Booten mit Migranten aus Tunesien eingrenzen, im | |
Gegenzug könnte bald eine Milliarde Euro von Brüssel nach Tunis fließen. | |
Meloni hoffte zudem darauf, westafrikanische Migrant:innen mit | |
abgelehntem Asylantrag nach Tunesien zurückschicken zu können. Die blutige | |
Vertreibung der Menschen aus Sfax dürfte Melonis Plan durchkreuzen – denn | |
ein sicheres Drittland ist Tunesien damit nicht mehr. | |
7 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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