# taz.de -- Pressefreiheit in Tunesien: Kein fabelhaftes Land | |
> Die tunesische TV-Moderatorin Sonia Dahmani wurde nach einem | |
> regierungskritischen Spruch verhaftet. Ihre Kollegen sehen die | |
> Pressefreiheit in Gefahr. | |
Bild: Koleginnen von Sonia Dahmani protestieren am 16.5. in Tunis für Meinungs… | |
TUNIS taz | Nach dem erfolgreiche Aufbegehren der tunesischen | |
Zivilgesellschaft [1][während des Arabischen Frühlings wurde das Land zu | |
einem Vorbild in der Region] und auf dem gesamten Kontinent gemacht. | |
Protestbewegungen wie „Manich Msemah“ (wir verzeihen nicht) lockten | |
regelmäßig Zehntausende gegen die anhaltende Macht der Business-Netzwerke | |
aus Regimezeiten auf die Straßen, die Verfassung von 2014 war ein | |
Kompromiss aller politischen Parteien. Sit-ins wie die Karmour-Bewegung | |
forderten auch in weit von der Hauptstadt entfernt liegenden Orten soziale | |
Gerechtigkeit. Vor allem der 2015 vergebene Friedensnobelpreis schien der | |
Beweis dafür, dass der demokratische Wandel in Tunesien krisenfest ist. | |
Doch der von Präsident Kais Saied eingeführte und vom Parlament bestätigten | |
Paragraf 54 hat nun erste Kritiker die Freiheit gekostet. | |
Seit einer Liveübertragung des französischen Nachrichtensenders France 24 | |
am 11. Mai aus dem Haus der Rechtsanwälte in Tunis mobilisiert die zuletzt | |
passive Zivilgesellschaft zu Straßenprotesten. | |
Die bekannte Rechtsanwältin und TV-Kommentatorin Sonia Dahmani hatte | |
Journalisten und Mitstreiter dorthin zu einer Protestaktion geladen. | |
[2][Zuvor war die 35-Jährige stundenlang von Polizeibeamten wegen einer | |
Fernsehdiskussion auf Carthago TV befragt worden]. Mit zwei schlichten | |
Worten hatte sie eine von Präsident Kais Saied und staatlichen Medien | |
verbreitete Verschwörungstheorie auseinandergenommen. | |
Ein neben Dahmani geladener Diskussionsteilnehmer erklärte die zunehmende | |
Zahl von Migranten als Kampagne dunkler Mächte gegen die arabische und | |
islamische Kultur Nordafrikas. Die tunesische Zivilgesellschaft würde dabei | |
mithelfen, da sie Gelder aus dem Ausland erhalte, so ein anderer | |
Gesprächsteilnehmer. Da platzte der ansonsten besonnen auftretenden Frau | |
mit dem prägnanten Kurzhaarschnitt der Kragen. | |
## Die Jugend will weg | |
„Von welchem fabelhaften Land sprechen Sie denn? Die Hälfte unserer Jugend | |
will doch selbst auswandern.“ „Hayla Lebled“, die arabischen Worte für | |
fabelhaftes Land, wurden in Windeseile ein ironischer Inbegriff für die | |
Untätigkeit der politischen Elite gegenüber der sich zuspitzenden | |
wirtschaftlichen und sozialen Krise im Land. Die Justiz sah in ihrem | |
Kommentar die laut Paragraf 54 verbotene Verbreitung von Gerüchten und | |
Falschmeldungen und erhob gegen Dahmani Anklage. | |
Die Reporterin des Nachrichtensenders France 24 wollte sie im Haus der | |
Anwälte gerade vor die Kamera bitten, als vermummte Polizeibeamte in das | |
Gebäude stürmten. Mit einem stummen Lächeln ließ sich Dahmani abführen und | |
sitzt seitdem in Untersuchungshaft. | |
Auch den Kameramann von France 24 nahmen die Beamten kurz mit. Erst als sie | |
die Speicherkarte seiner Kamera einforderten, wurde ihnen klar, dass die | |
ganze Aktion live in der abendlichen Nachrichtensendung von France 24 | |
gezeigt worden war. Die sichtlich geschockte französische Reporterin und | |
ihr Team konnten nach Hause gehen. Doch unter tunesischen Journalisten | |
herrscht nun die Angst, selbst für leichte Kritik auf sozialen Medien | |
belangt zu werden. Mit Mourad Zeghidi und Bohren Bsais sind in der Vorwoche | |
zwei renommierte Medienvertreter zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. | |
Angeblich für Facebook-Beiträge, die Jahre zurückliegen. Zur Überraschung | |
vieler Beobachter wandelte die ansonsten überlastete Justiz eine zunächst | |
auf 48 Stunden begrenzte Untersuchungshaft in Rekordzeit in ein | |
drakonisches Urteil um. | |
## Rechtsanwälte demonstrieren | |
„Nicht einmal das Ben-Ali-egime hatte es gewagt, in unser Gebäude | |
einzudringen und so offensichtlich das Recht zu brechen“, kommentiert ein | |
Anwalt den Polizeieinsatz. Mit einem landesweiten Streik wollen er und | |
seine Kollegen weitere Schnellverfahren dieser Art verhindern. Begonnen | |
hatte die Verhaftungswelle bereits im letzten Jahr. Ende Dezember | |
verhafteten die Behörden den Al-Jazeera-Journalisten Samir Sassi und den | |
Kommentator eines unabhängigen Radiosenders, Zied el-Heni. Während gegen | |
Sassi keine Anklage erhoben wurde, läuft gegen el-Heni wegen „persönlicher | |
Beleidigung anderer“ während einer Radiosendung ein Verfahren. El-Heni | |
hatte Handelsminister Kalthoum Ben Rejeb kritisiert. | |
Zuvor war bereits Noureddine Boutar, der Direktor des populären | |
Radiosenders Mosaique FM, unter anderem wegen Geldwäsche verhaftet worden. | |
In dem unabhängigen Radiosender sind oft kritische Worte gegenüber | |
Präsident Saied zu hören, ebenso wie gegen seine politischen Gegner, die | |
moderaten Islamisten der Ennahda-Partei oder die dem Ex-Regime nahe | |
stehende Oppositionsführerin Abir Moussi. | |
Die Führungsriege der nach der Revolution beliebten Ennahda sitzt hinter | |
Gittern, weil sie Gelder aus dem Ausland erhalten hatte. Gegen die | |
inhaftierte Abir Moussi wurden zwei weitere Verfahren eröffnet. In der | |
Öffentlichkeit sind die Details der Verfahren oft kaum bekannt. Die | |
Mehrheit der Bevölkerung ignoriert Saids Umbau der Demokratie in ein | |
basisdemokratisches Modell mit gleichzeitig stärkerer Macht des | |
Präsidenten. | |
Bei der Parlamentswahl im Januar beteiligten sich nur rund 11 Prozent der | |
Wahlberechtigten. Aber der harsche Kurs des Juraprofessors und | |
Politikquereinsteigers Saied gegen Politiker, die Zivilgesellschaft und | |
Medien stößt vor allem im vernachlässigten Südwesten Tunesiens auf | |
Zustimmung. In Orten wie Sidi Bousid, von wo aus sich der Arabische | |
Frühling in die gesamte arabische Welt ausbreitete, ist die Enttäuschung | |
über die Revolution groß. Journalisten und Rechtsanwälte in Tunis zählen | |
hier viele als Teil einer Elite, die zwar für die errungene | |
Meinungsfreiheit kämpft, aber zu der sozialen Ungerechtigkeit im Land | |
schweigt. | |
Am Freitag gingen trotzdem mehrere hundert Demonstranten für die | |
Meinungsfreiheit im Zentrum von Tunis auf die Straße. Kais Saied reagierte | |
daraufhin mit dem Versprechen, diese sei weiterhin garantiert. Aus Europa | |
kommt bisher dagegen nur verhaltene Kritik. Denn Kais Saied setzt | |
konsequent ein mit der EU-Kommission geschlossenes Migrationsabkommen | |
durch. [3][Hunderte Migranten und Geflüchtete werden verhaftet und an die | |
Landesgrenzen gebracht]. Journalisten ist es nur mit äußerst selten | |
vergebenen Sondergenehmigungen erlaubt, darüber vor Ort zu berichten. | |
27 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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