# taz.de -- Schau mit Künstlerin Lenora de Barros: Der Bindestrich ist subvers… | |
> Die brasilianische Künstlerin Lenora de Barros ist in einer Karlsruher | |
> Schau zu sehen. Sie ist so spielerisch wie poetisch der Sprache auf der | |
> Spur. | |
Bild: Die Zunge aus der Verbergung hervorholen: Lenora de Barros' „No País d… | |
Die Aussage, „laut zu sehen“, erscheint widersinnig. Dabei ist die | |
multisensorische Wahrnehmung bei allen Lebewesen der Normalfall. Vielleicht | |
ist der Titel der Ausstellung im Badischen Kunstverein „To See Aloud“ auch | |
nur ein Hinweis, die Werke der Künstlerin Lenora de Barros darin nicht nur | |
anzusehen, sondern etwa auch auf das Klacken der Bälle auf dem Boden und | |
der Tischtennisplatte zu hören. | |
Der extra für die Schau angefertigte „Ping Poem Table“ ist für das Publik… | |
freigegeben. Im Spiel entfaltet sich ein Klanggewitter, dem normalerweise | |
niemand Aufmerksamkeit schenkt. Seit über fünfzig Jahren ist Lenora de | |
Barros dem Potenzial von Buchstaben, Silben und Sätzen auf der Spur. Wie | |
vielfältig und poetisch das sein kann, zeigt diese Karlsruher Ausstellung. | |
Auf der Wand des Badischen Kunstvereins ist in großen Lettern ein kurzer | |
Schriftzug auf Portugiesisch zu lesen. Übersetzt lautet er „Was eint – | |
trennt“. Gemeint ist der Bindestrich, der Worte verbindet und Satzteile | |
trennt. Jeder Tischtennisball ist mit einem Bindestrich bedruckt und wird | |
damit zu einem mehrdeutigen, subversiven Objekt. | |
Die 1953 in Brasilien geborene Künstlerin ist im Reich der Zeichen zu | |
Hause. Die Arte Concreta florierte in den 1950er Jahren in São Paulo | |
parallel zu ähnlichen Bestrebungen in Europa. Ziel war die Abschaffung des | |
lyrischen Ichs und des traditionellen Versmaßes. Berühmt ist die | |
brasilianische Dichter-Gruppe Noigandres. | |
Lenora de Barros’ Vater war Künstler, ihre Mutter förderte ihr Interesse | |
für Literatur. Sie studierte Linguistik und war bereits 1975 | |
Mitherausgeberin der Kunst- und Poesiepublikation „Poesia em greve“, Poesie | |
im Streik. Dieser Titel muss als Kommentar zur politischen Lage damals | |
verstanden werden, zur Einschränkung der Meinungsfreiheit während der | |
Militärdiktatur in [1][Brasilien, die sich 1964 an die Macht geputscht | |
hatte]. Nach dem Ende des Regimes 1985 erforschte Lenora de Barros die | |
Sprache zunehmend performativ, erkundete die körperlichen Aspekte der | |
Sprache. | |
## Zwischen Sprache und Zunge | |
Dreh- und Angelpunkt ihres Werks ist die Doppelbedeutung des | |
portugiesischen Wortes „Lingua“, das sowohl Sprache als auch Zunge heißt. | |
Die Zunge liegt diskret verborgen in der Mundhöhle. In ihren | |
Videoperformances untersucht die Künstlerin diesen Muskel am eigenen Leib | |
und stellt seine Beweglichkeit zur Schau oder attackiert ihn. In der Arbeit | |
„Calaboca (Shut up)“ ist die Künstlerin verstummt, während jemand ihr die | |
Buchstaben des Wortes „Silencio“ in die Zunge hämmert. Diese groteske Szene | |
entstand als Fotomontage, die in das Video eingebaut ist. | |
In den 1960er und 70er Jahren entwickelte die brasilianische Avantgarde | |
neue, subversive Wege, sich zu äußern. Das lässt sich vielfach am Werk von | |
Lenora de Barros beobachten. Ein Beispiel für die Kontinuität ihres Werks | |
ist das Gedicht „Mínimo Som Mínimo“, Minimaler Klang, aus ihrem 1983 | |
erschienenen Gedichtband „Onde se vé“, wo du siehst. Für die Ausstellung … | |
Karlsruhe hat sie die Gedichte in den Raum übertragen. Nahtlos wiederholt, | |
ließ sie die Zeile Gelb auf Weiß in kleiner Schrift als Wandtapete drucken. | |
Ein minimaler Klang kann ziemlich viel Raum einnehmen. | |
Lenora de Barros ist fasziniert von der Sprache der Hände. Das zeigen | |
mehrere Arbeiten, etwa die Videoperformance „Tato do Olho“, Berührung des | |
Auges. Mit den Händen die Augen berühren, wenn das Auge nicht mehr anders | |
berührt werden kann. | |
Anfang der 1990er verfasste Lenora de Barros über mehrere Jahre eine | |
Kunstkolumne für eine Tageszeitung in São Paulo. Über ihre minimalistischen | |
Kunstkritiken entspann sich ein Dialog mit Werken von [2][Yoko Ono], | |
[3][Lygia Clark] oder [4][Cindy Sherman]. 2013 brachte sie die Texte unter | |
dem Titel „Dame-Spiel“ als Künstlerbuch heraus. Für eine Videoperformance | |
las sie aus den Texten und spielte mit sich selbst Dame. Der Erfinder der | |
Konzeptkunst, Marcel Duchamp, spielte im Alter nur noch Schach. Für Lenora | |
de Barros hingegen war das Damespiel nur eine Episode. | |
26 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Carmela Thiele | |
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