| # taz.de -- Akzente und Rassismus: Sexy, kompetent oder ungebildet | |
| > Welches Vorurteil Menschen über einen haben, hängt oft davon ab, ob man | |
| > akzentfrei spricht. Und davon, woher der Akzent stammt. | |
| Bild: Akzente sind ein normales neurologisches Phänomen | |
| Wenn ich an meine Anfangszeit in Deutschland denke, erinnere ich mich vor | |
| allem an ein Gefühl der Unterlegenheit. Es dauerte lange, bis ich mich im | |
| Alltag verständigen konnte, noch länger, bis ich sinnvolle Sätze bilden | |
| konnte. Die drängende Angst, nicht zu verstehen und nicht verstanden zu | |
| werden, ließ mit der Zeit nach, dafür kam ein subtileres und gemeineres | |
| Gefühl hinzu: die Scham, nicht so zu sprechen wie die anderen. | |
| Ich habe einen [1][Akzent]. In den fast fünfzehn Jahren, die ich in | |
| Deutschland lebe, habe ich hartnäckig versucht, ihn loszuwerden. Inzwischen | |
| habe ich mit dem Thema Frieden geschlossen, aber jahrelang quälte mich der | |
| Gedanke, nicht akzentfrei werden zu können. | |
| Bei Menschen wie mir, die nach der Pubertät in ein neues Land einwandern, | |
| ist die Chance extrem gering, eine Fremdsprache akzentfrei zu lernen. Das | |
| bedeutet, dass die meisten Migrant*innen der ersten Generation einen | |
| mehr oder wenigen starken Akzent haben. Das ist ein normales neurologisches | |
| Phänomen, problematisch wird es, wenn es – wie so oft – zu negativen | |
| Bewertungen oder unfairer Behandlung führt. | |
| Ein fremdsprachiger Akzent ist ein Diskriminierungsmerkmal, über das selten | |
| gesprochen wird. Studien zeigen, dass Vorurteile gegenüber bestimmten | |
| Akzenten weit verbreitet sind und dass Akzente automatische Zuschreibungen | |
| in Bezug auf Bildungsniveau oder soziale Schicht auslösen. Fachleute | |
| sprechen in diesem Zusammenhang von „Akzentismus“. | |
| ## Identitätsmarker Sprache | |
| Katherine D. Kinzler, Professorin für Psychologie an der Universität von | |
| Chicago, schreibt in ihrem Buch „How you say it“, dass die Art und Weise, | |
| wie man spricht, durchaus beeinflusst, ob man als Mitglied oder nicht | |
| Mitglied einer Gruppe wahrgenommen wird, und es ist unglaublich schwierig, | |
| das zu vermeiden. Denn Sprache im Allgemeinen und Akzent im Besonderen | |
| seien Identitätsmarker. „Wir haben es viel zu lange versäumt, die | |
| Auswirkungen sprachlicher Vorurteile in unserem Leben zu erfassen“, fügt | |
| Kinzler hinzu. | |
| Solche Vorurteile können sich etwa auf dem Wohnungsmarkt oder bei der | |
| Arbeitssuche auswirken, in der Wahrnehmung der Glaubwürdigkeit und | |
| Intelligenz einer Person. Personen mit einem fremdsprachigen Akzent werden | |
| oft als weniger kompetent eingestuft. Das erklärt die | |
| Politikwissenschaftlerin Carolina Tobo Tobo. Studien belegen diese | |
| Wahrnehmung – übrigens auch bei Menschen, die sich grammatikalisch korrekt | |
| ausdrücken. | |
| Tobo Tobo berichtet, wie sie selbst auf Fachtagungen mit abfälligen Blicken | |
| oder Bemerkungen konfrontiert worden sei und sich deshalb lange | |
| zurückgezogen habe: „Ich habe jede Gelegenheit ergriffen, um unsichtbar zu | |
| bleiben“, sagt die Politikwissenschaftlerin, die ursprünglich aus Kolumbien | |
| kommt. | |
| ## Die „hörbare Grenze des Weißseins“ | |
| Wie viele andere Migrant*innen der ersten Generation hat Tobo Tobo | |
| versucht, ihren Akzent loszuwerden und dafür Unterricht genommen. Bis sie | |
| dem Schluss kam, dass das Problem nicht bei ihr lag: „Die Gesellschaft muss | |
| Personen mit einem Akzent akzeptieren.“ | |
| Tobo Tobo bezeichnet sich trotzdem als „privilegiert“, weil ihre | |
| Muttersprache Spanisch – wie alle westeuropäischen Sprachen – in der | |
| Hierarchie der Akzente ziemlich weit oben steht. Dennoch sagt sie, dass | |
| Spanisch eher mit Lebensfreude und Urlaubsgefühlen und weniger mit „ernsten | |
| Themen“ assoziiert wird, was zum Beispiel dazu führte, dass sie in ihrer | |
| Branche, nämlich der Demokratieförderung, Rechtsextremismusbekämpfung und | |
| Antidiskriminierung, manchmal nicht ernst genommen wurde. | |
| Auch mein italienischer Akzent kommt in Deutschland vergleichsweise gut an. | |
| Denn die Wahrnehmung eines Akzentes spiegelt wider, wie eine | |
| Migrantengruppe wahrgenommen wird: Ein britischer Akzent ist zum Beispiel | |
| beliebt und wird als professionell wahrgenommen, ein amerikanischer als | |
| attraktiv, ein französischer als gebildet. Anders ist es mit einem | |
| osteuropäischen, türkischen oder arabischen Akzent. | |
| Die Germanistin und Diversity-Aktivistin Olga Maslowska, die selbst | |
| Migrationserfahrung hat, beschäftigt sich mit sprachbezogener | |
| Diskriminierung, insbesondere im Zusammenhang mit dem polnischen Akzent im | |
| Deutschen. Ihrer Analyse nach markiert dieser Akzent eine „hörbare Grenze | |
| des Weißseins“: Menschen aus Polen, die äußerlich als weiß gelesen werden, | |
| bleiben oft rassistisch unmarkiert – bis sie zu sprechen beginnen. | |
| ## Die Macht der Mikroaggressionen | |
| Für eine Studie befragte Maslowska hochqualifizierte Polinnen mit | |
| Deutschkenntnissen auf C2-Niveau, die erst im Erwachsenenalter nach | |
| Deutschland migriert sind. Auch wenn sie sich im beruflichen Kontext nicht | |
| benachteiligt fühlen, berichteten viele von subtilen Mikroaggressionen: | |
| wiederkehrende Annahmen über ihr Herkunftsland, erstauntes Lob für ihre | |
| Sprachkompetenz oder Formen sozialer Distanz. | |
| Solche Erfahrungen können sich nicht nur auf das soziale Miteinander | |
| auswirken, sondern beeinflussen auch das Selbstbild und das | |
| Zugehörigkeitsgefühl der Betroffenen. Manche der Befragten begannen, ihre | |
| sprachlichen Fähigkeiten infrage zu stellen, so Maslowska. | |
| Würden solche Mikroaggressionen auch bei akzentfreiem Sprechen auftreten? | |
| Das lässt sich nicht abschließend sagen, denn Diskriminierung entsteht | |
| meist im Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Doch vieles spricht dafür, dass | |
| der Akzent eine zentrale Rolle spielt, vor allem dann, wenn er stark hörbar | |
| ist. | |
| „Ein polnischer Akzent ist allgemein bekannt und wird als charakteristisch | |
| für ein zivilisatorisch wenig entwickeltes Land empfunden“, so die | |
| Migrationsforscherin Kamila Schöll-Mazurek. Polen und Polinnen, die in | |
| Deutschland Englisch sprechen, erleben ihrer Meinung nach paradoxerweise | |
| weniger Diskriminierung, als wenn sie Deutsch sprechen. Sie weist auch | |
| darauf hin, dass Menschen mit polnischem Akzent nicht selten von den | |
| Behörden schlechter behandelt werden. | |
| Dass ein Akzent immer mit dessen Sprechenden assoziiert wird, zeigt am | |
| besten das Beispiel Englisch. Ein englischer Akzent gilt als beliebt, | |
| obwohl mit „Englisch“ meist die britische, amerikanische oder australische | |
| Variante gemeint ist – und das ist schon der Anfang des Problems. Die | |
| Existenz anderer Varianten wie nigerianisches oder indisches Englisch wird | |
| oft ausgeblendet, oder diese Varianten werden als seltsam, lustig oder gar | |
| falsch bezeichnet. | |
| „Die Tatsache, dass ein bestimmter Dialekt historisch zum Standard geworden | |
| ist, hat jedoch primär mit soziopolitischen und nicht direkt mit | |
| linguistischen Eigenschaften zu tun“, sagt der Sprachwissenschaftler | |
| Philipp Meer von der Universität Münster. „Was gesellschaftlich als proper | |
| English gilt, fundiert auf einer Ideologie, einer Zuschreibung, die im | |
| Laufe der Zeit erfolgt ist.“ Seiner Meinung nach sollte auch im schulischen | |
| Kontext das Bewusstsein gestärkt werden: Abweichungen von der | |
| Standardsprache sind nicht per se schlechter, sondern linguistisch gesehen | |
| erst einmal nur anders. | |
| Was tun? Olga Maslowska plädiert für einen bewussteren Umgang mit | |
| fremdsprachlicher Akzentvielfalt: „Die Sprache solle der Verständigung und | |
| nicht der Herstellung sozialer Hierarchien dienen.“ | |
| 8 Apr 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Sprache-und-Rassismus/!5814775 | |
| ## AUTOREN | |
| Francesca Polistina | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Diskriminierung | |
| Sprache | |
| GNS | |
| Deutsche Sprache | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025 | |
| zeitgenössische Kunst | |
| Kolumne Subtext | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Antiukrainische Stimmung in Polen: Militärhilfen ja, Kindergeld nein | |
| In Polen kippt die Stimmung gegenüber den ukrainischen Geflüchteten. Doch | |
| beim Thema Sicherheit steht das Land weiterhin geschlossen hinter Kyjiw. | |
| Leipziger Buchmesse: Die Metapher ist ein Arschloch | |
| Die Philosoph:innen Tim Henning, Nikola Kompa und Christian Nimtz | |
| leuchten Abgründe der Alltagskommunikation aus. Ja, Sprache kann | |
| ausgrenzen. | |
| Schau mit Künstlerin Lenora de Barros: Der Bindestrich ist subversiv | |
| Die brasilianische Künstlerin Lenora de Barros ist in einer Karlsruher | |
| Schau zu sehen. Sie ist so spielerisch wie poetisch der Sprache auf der | |
| Spur. | |
| Von wegen „Gendersprache“: Wider die „Grammatikarianer“ | |
| Deutsch war nie ungegenderte Sprache: Überall finden sich gegenderte | |
| Artikel, Pronomen und Wortendungen – genau das ist ja das Problem. |