| # taz.de -- Debatte um Verteidigungsbudget: Hurra, wir rüsten wieder! | |
| > Im Krisen- und Kriegsgetöse gehen kritische Stimmen unter. Dabei gilt es | |
| > gerade jetzt, die echten Bedrohungen zu bearbeiten. | |
| Bild: Mit Pauken und Trompeten aufrüsten: ein Skandal, weil andere Prioritäte… | |
| Es geht wieder los. Das Raunen. Das Diffuse. Ein Frühnebel, der sich bis | |
| zum Abend nicht lichtet. Ängste schüren, Bedrohungen an noch zu errichtende | |
| Mauern malen. Und lautstark mit einer simplen Lösung hausieren gehen, dem | |
| Allheilmittel seit tausend Jahren: Aufrüsten! Koste es, was es wolle. | |
| Whatever it takes. In einer Zeitung steht, bei Verteidigung müsse man vom | |
| schlimmstmöglichen Fall ausgehen. So hört es sich an, wenn | |
| Versicherungsvertreter Amok laufen. | |
| Wir haben keine Zeit, nicht einmal um nachzudenken. Jeder Kommentar | |
| beschwört „Wochen der Wahrheit“, „Schicksalstage“. Wir müssen stark w… | |
| zu einer militärischen Macht reifen. Bevor es zu spät ist. Quasi sofort. | |
| Wenn die letzte Stunde droht, schlägt die Stunde apokalyptischer Apodiktik. | |
| Wer zweifelt, begeht Verrat. An den europäischen Werten, an der Zukunft! | |
| Die Sprache ein einziger Exerzierplatz. „Die Einschläge kommen nicht mehr | |
| näher. Sie detonieren bereits mitten unter uns.“ | |
| Das schreibt kein Ukrainer, sondern [1][der Berliner Max Haerder] in feinem | |
| Zwirn. Der sogleich Winston Churchill zitiert: „Sie fragen, was unser Ziel | |
| ist? Ich kann mit einem Wort antworten: Es ist der Sieg, […] wie lang und | |
| hart der Weg auch sein mag; denn ohne Sieg gibt es kein Überleben.“ Diese | |
| Heldenverehrung aus der Wirtschaftswoche sind Fausthiebe in die Fresse des | |
| Reflektierens. Aber wenn inmitten von Getöse und Geklirre ein kritischer | |
| Gedanke noch möglich ist: Was oder wer bedroht uns? | |
| Ist doch klar, schreit es einem entgegen: Russland! Ohne die USA sind wir | |
| verloren! Nun denn, ein Vergleich der Stärken und Schwächen tut not. Die | |
| europäischen Nato-Staaten verfügen über eine erheblich größere | |
| Wirtschaftsleistung als Russland, dessen BIP niedriger ist als das | |
| Italiens. Die europäischen [2][Nato-Mitglieder investieren etwa 420 | |
| Milliarden US-Dollar] in ihre Verteidigung, während Russland nur rund 300 | |
| Milliarden US-Dollar ausgibt, [3][etwa ein Drittel seines gesamten | |
| Staatshaushalts], was langfristig untragbar ist. | |
| ## Nato hat auch ohne USA wenige Defizite | |
| Zudem ist die Nato auch ohne die USA in fast allen militärischen | |
| Schlüsselparametern überlegen: Laut Statista [4][hatte die Nato 2025 etwa | |
| 3,44 Millionen Soldaten]. Zieht man die US-Truppen ab, bleiben 2,14 | |
| Millionen aktive Soldaten übrig, während Russlands 1,2 Millionen Soldaten | |
| mehrheitlich im Ukrainekrieg gebunden sind. Bei Kampfpanzern stehen mehr | |
| als 6.000 europäische Panzer ungefähr 2.000 russischen gegenüber. Die | |
| europäischen Nato-Partner verfügen über 2.073 Kampfflugzeuge, Russland | |
| hingegen nur über 1.026. | |
| Bei Artilleriesystemen haben die europäischen Nato-Staaten 15.399 Systeme, | |
| während Russland 5.399 besitzt. Und bei Atomwaffen herrscht ein | |
| strategisches Gleichgewicht. Laut Experten gibt es überschaubare Defizite: | |
| supranationale Integration, Kommandozentren und Führungssysteme zur | |
| effektiven Koordination sowie mehr Aufklärung seien nötig. Mehr europäische | |
| Integration also, weniger nationale Alleingänge. | |
| Selten vernimmt man eine nüchterne Einschätzung der Gefahr: „Das Risiko | |
| einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland bleibt gering, genauso | |
| das Risiko eines nuklearen Austausches.“ So die in Wien tätige Politologin | |
| [5][Velina Tschakarova]. Zudem liegt Russlands Stärke momentan vor allem | |
| bei wirtschaftlicher Erpressung hinsichtlich Rohstoffen sowie bei | |
| politischer Einmischung durch Desinformation. | |
| Beides können wir abwehren, indem wir uns von fossilen Brennstoffen | |
| unabhängig machen und den Chaos Computer Club großzügig unterstützen. | |
| [6][Hackers for freedom] – klingt besser, kostet weniger. Doch alle | |
| nachdenklichen Töne werden überschallt von Fanfaren und Trompeten. Wie | |
| begreifen wir Sicherheit? Der jetzige Fokus ignoriert Bedrohungen, die | |
| nicht mit Grenzen und Drohnen eingedämmt werden können. An erster Stelle | |
| das Klima und die anderen ökologischen Krisen. | |
| Einer spekulativen Bedrohung – Russlands potenzieller Angriff auf die Nato | |
| – wird mehr Bedeutung beigemessen als einer wissenschaftlich erwiesenen: | |
| der Klimakrise! Die Bundeswehr sei wehrunfähig und kriegsuntüchtig, die | |
| Soldaten hätten keine Helme, die Geschütze keine Munition. Wenn das stimmt, | |
| dann sollten wir uns fragen, wer dafür verantwortlich ist. Denn die | |
| Bundesrepublik steckt seit Jahren Unsummen in die Verteidigung und hat | |
| zusätzlich ein [7][Sondervermögen von 100 Milliarden] bereitgestellt. | |
| ## Der weltweite Waffenhandel ist so korrupt wie profitabel | |
| Wenn solche Summen keine Selbstverteidigung garantieren, sollten wir das | |
| Ministerium, die Bürokratie und die Militärindustrie überprüfen und statt | |
| Churchill Eisenhower zitieren, dessen Warnung vor dem | |
| militärisch-industriellen Komplex schmerzhaft aktuell ist. Mit | |
| Kriegsausgaben von über 2,2 Billionen Dollar im Jahr 2022 ist der weltweite | |
| Waffenhandel so rechtlos und korrupt wie profitabel. Wenn etwas | |
| alternativlos ist, muss alles diesem Ziel unterworfen werden. | |
| [8][Um die Demokratie zu schützen, opfern wir sie], wenn etwa die größte | |
| Partei eine Woche nach den Wahlen das eigene Programm über den Haufen | |
| wirft. [9][Die CDU verklagte die Ampel wegen 60 Milliarden Euro] neuer | |
| Schulden, jetzt will sie eine Billion anschreiben! Die Aufrüstung ist auch | |
| ein Skandal, weil andere Prioritäten, sei es die Energiewende oder die | |
| soziale Gerechtigkeit, zurückgestuft werden. Wie vernünftig ist massive | |
| Aufrüstung in Zeiten eines wachsenden Nationalismus? | |
| Wie wahrscheinlich ist es, dass eine mächtige Armee wie ein Bodybuilder die | |
| gut eingeölten Muskeln nur spielen lässt, oder wird die Idee nationaler | |
| Größe nicht bald schon suggerieren, dass man an den heiligen Außengrenzen | |
| mal wieder schießen sollte, wenn sich perfide Flüchtlinge heranpirschen? | |
| Und wie lange dauert es, bis die Idee des Expansionismus wieder greift? Ein | |
| wenig Grönland, ein wenig Panama steht auf jedem nationalen Menü. Die | |
| Stalaktiten des wirtschaftlichen Interesses verzahnen sich mit den | |
| Stalagmiten der militärischen Stärke zu einem Raubtiergrinsen. Davor | |
| sollten wir uns wahrlich fürchten. | |
| 12 Mar 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.wiwo.de/politik/deutschland/eu-verteidigungspolitik-vor-unseren… | |
| [2] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nato-ausgaben-verteidigung-faq-100… | |
| [3] /Russlands-Wirtschaft/!5995074 | |
| [4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/379080/umfrage/vergleich-des… | |
| [5] https://www.derstandard.de/story/3000000222234/muss-europa-kriegstuechtig-w… | |
| [6] https://www.filmsforaction.org/watch/hackers-for-freedom/ | |
| [7] /Jahresbericht-der-Wehrbeauftragten/!5994898 | |
| [8] /Plaene-fuer-ein-Sondervermoegen/!6068681 | |
| [9] /Unions-Klage-fuer-Schuldenbremse/!5970926 | |
| ## AUTOREN | |
| Ilija Trojanow | |
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