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# taz.de -- Mit Erstwähler*innen vorm Wahllokal: Das erste Mal an der Urne
> Eine 18-Jährige vermisst Politik für ihre Zielgruppe, einem Mann aus
> Syrien zittern die Hände im Wahllokal: Unterwegs mit
> Erstwähler*innen.
Bild: Erstwähler Nafee Kurdi vor seinem Wahllokal am Tag der Bundestagswahl in…
## Die überzeugte Linke
Vor einer Grundschule inmitten von Berliner Plattenbauten, die an diesem
Sonntag als Wahllokal fungiert, zeigt Emma Ilgert auf einen Parkplatz.
Hier, sagt sie, sei sie mal von einem Nazi angegriffen worden, weil sie ein
T-Shirt mit der Aufschrift „FCKAfD“ trug. Im Bezirk Lichtenberg ist die
AfD für Berliner Verhältnisse besonders stark, liegt mit der Linken fast
gleichauf. Die beiden Parteien konkurrieren hier um den ersten Platz.
Ein bisschen nervös ist Ilgert, nicht nur deshalb, weil die 18-Jährige
gleich selbst wählen wird, sondern auch wegen der starken Umfrageergebnisse
für die AfD. Den Wahlkampf hat sie insgesamt als „einfach irgendwie
beängstigend“ wahrgenommen. Auf Social Media punkte die AfD in ihrer
Generation gerade richtig, erzählt sie. Sie selbst wähle die Linke, aus
Überzeugung: „Kein Wahlprogramm ist perfekt, aber die Partei vertritt am
meisten das, was ich mir für unsere Stadt und unser Land wünsche.“ So
richtig Politik für junge Leute mache aber keine Partei, findet sie. „Das
Miteinbeziehen besteht oft nur darin, Tiktoks zu machen, inhaltlich bietet
keiner was.“
Auch Ilgert informiert sich hauptsächlich über Social Media: ein bisschen
Tiktok, Instagram. Die Wahlprogramme hat sie nicht gelesen, auch keins der
Duelle, Trielle oder Quadrelle im Fernsehen gesehen. Sie findet, die
Politiker*innen nutzten oft eine Sprache, die kaum zu verstehen sei,
und das ärgert die junge Frau: „Die müssten doch verständlich erklären
können, was sie meinen.“ Über Politik redet sie mit Freunden und Bekannten.
Die meisten von ihnen seien politisch ähnlich drauf wie sie. Mit
AfD-Wähler*innen befreundet zu sein, kann sie sich nicht vorstellen.
Im Wahlbüro braucht Ilgert ein paar Minuten, dann kommt sie grinsend wieder
raus: „Das Schwierigste war, den Zettel wieder richtig zu falten“, sagt sie
und: „Ich fühl mich gut. Ich habe das getan, was ich kann.“ Jetzt will sie
weiter zum Brunch bei ihrer Mutter.
## Der Jurastudent
Einige Kilometer weiter im Westen der Stadt steht der 18-jährige Jonathan
Radkowski bereits früh um 9 Uhr vor dem Rheingau-Gymnasium im Bezirk
Tempelhof-Schöneberg. „So früh zu wählen passt mir gut rein, dann kann ich
danach noch für Klausuren lernen“, sagt er. Vor ein paar Monaten ist er von
Bochum nach Berlin gezogen und studiert nun im ersten Semester Jura. Später
werde er auch auf einer Wahlparty sein, sagt er. Bevor er in das Wahllokal
geht, setzt er sich auf eine Bank im Schulhof und fängt an zu erzählen:
Schon seit Jahren interessiere er sich für Politik, und nun abstimmen und
mitentscheiden zu können, das sei ein gutes Gefühl. Radkowski wird beide
Stimmen der CDU geben.
Der Jurastudent ist nicht nur Erstwähler, sondern auch CDU-Mitglied,
seitdem er 14 Jahre alt ist. Er sei in die CDU eingetreten und unterstütze
nun auch deren Wahlkampf, da die Themen der Partei und deren
Selbstverständnis ihn am meisten ansprächen. Drei Themen sind ihm besonders
wichtig: Wirtschaft, Migration und Außenpolitik. Junge Menschen
interessierten sich für diese Themen, betont er. Gleichzeitig
kritisiert er aber auch, dass die Themen Bildung und Klimaschutz zu wenig
Beachtung gefunden hätten, auch bei der CDU. Nur die CDU könne
Klimaschutzpolitik im konservativen Teil der Bevölkerung salonfähig machen,
glaubt er. Beim Thema Bildung würde er sich wünschen, dass es mehr Politik-
und Geschichtsunterricht an Schulen gibt, damit sich das Allgemeinwissen
von Jugendlichen verbessert.
Auf die AfD angesprochen, muss Radkowski tief durchatmen. Er sei
erschüttert, wie erfolgreich die AfD bei der Jugend abschneidet. Bei den
Europawahlen im letzten Frühjahr wurde die AfD bei den unter 24-Jährigen
knapp hinter der CDU zweitstärkste Kraft.
Das Weltbild der AfD, das von Rassismus und Geschichtsrevisionismus geprägt
sei, passe nicht mit dem der CDU zusammen, findet Radkowski. Von der
Social-Media-Strategie der AfD könne sich die CDU aber etwas abschauen, um
noch mehr junge Leute zu erreichen, sagt er – aber auch die Linke habe eine
gute Präsenz auf Social Media.
In der Turnhalle des Rheingau-Gymnasiums geht dann alles ganz schnell. Der
Erstwähler verschwindet hinter einer Wahlkabine, über ihm ein
Basketballkorb. Lächelnd wirft er den Wahlzettel in die Urne und sagt: „Das
war jetzt wohl ein weiterer Schritt in Richtung erwachsen werden.“
## Der Eingebürgerte
Nafee Kurdi darf heute mitbestimmen: In einer Kreuzberger Schulmensa wird
er zum ersten Mal seine Stimme für den Bundestag abgeben. 2015 ist der
28-Jährige aus Syrien nach Deutschland gekommen, hat in Berlin studiert und
arbeitet hier. Seit Januar 2024 ist er deutscher Staatsbürger. Heute ist
ihm ein wenig feierlich zumute: „Ich wollte keine Briefwahl machen, weil
ich richtig erleben will, wie die Wahl funktioniert“, sagt er. Kurdi ist
einer von mehr als 500.000 Menschen, die seit der letzten Wahl die deutsche
Staatsbürgerschaft erhalten haben. Zusammen mit 2,3 Millionen Menschen, die
in der vergangenen Legislaturperiode die Volljährigkeit erreicht haben, ist
er an diesem Sonntag Erstwähler. „In Syrien habe ich einmal gewählt, aber
man durfte nur „Ja“ ankreuzen. Hier weiß ich, dass meine Stimme zählt“,
sagt Kurdi. Er hat die Linke gewählt: „Das Parteiprogramm kommt dem am
nächsten, was ich will. Als ich 2015 nach Deutschland kam, hatte ich das
Gefühl, dass ich willkommen bin.“ Er ist dankbar dafür, was Deutschland ihm
ermöglicht hat. Aber jetzt hat er Angst davor, dass die AfD Gewinne macht.
Nach seiner Einbürgerung wolle er Deutschland etwas zurückgeben. Auf die
Frage, wen er am liebsten als Kanzler*in hätte, antwortet er: „Kann ich
Angela Merkel sagen?“ Er lacht.
„Meine Hände haben gezittert, als ich den Stimmzettel aufgefaltet habe“,
sagt er, als er aus seinem Kreuzberger Wahllokal kommt. „Dass man mich hier
jetzt hört, das gibt mir Selbstbewusstsein.“
## Die Doppelstaatlerin
Nur ein Termin steht für Sonntag in Tamara Golubewas Kalender: „Wählen
gehen“, sagt sie am Telefon und lacht. Wir verabreden uns für
Sonntagmorgen, dann wollen wir gemeinsam zu ihrem Wahllokal in
Berlin-Lichtenberg laufen. Für Golubewa ist es die erste Bundestagswahl in
Deutschland. Seit August hat sie die doppelte Staatsbürgerschaft: „Da bin
ich auch der Ampel dankbar. Die hat das ermöglicht.“
Im Gegensatz zur russischen Wahl könne sie hier mit ihrer Stimme etwas
bewirken. Das Wichtigste sei, dass die AfD nicht an die Macht komme; und
die Sozialpolitik und der Kampf gegen Klimawandel. Deshalb will sie die
Grünen wählen.
Beim russischen Angriffskrieg in der Ukraine denkt Golubewa zurück an die
vielen Ukrainerinnen mit ihren Kindern, die 2022 am Berliner Hauptbahnhof
angekommen sind. Weil ihr Sohn und sie Russisch sprechen, haben sie sie
damals zu den Hilfsangeboten gelotst. Das Wichtigste sei, dass niemand mehr
stirbt. Gleichzeitig müssten die Ukrainer*innen ihre Gebiete
zurückbekommen, findet sie.
Durch den Kiez, in dem die Architektin mit ihrem jugendlichen Sohn lebt,
laufen wir schließlich zum Wahllokal. Den Wahlhelfer*innen dort erzählt
sie stolz, dass sie zum ersten Mal wählen dürfe. Die Ehrenamtlichen
gratulieren herzlich.
23 Feb 2025
## AUTOREN
Amelie Sittenauer
David Honold
Luisa Faust
Sarah Schubert
## TAGS
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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