# taz.de -- Ostdeutschland wählt rechtsradikal: Was, wenn alles nicht mehr hil… | |
> Die AfD holt den Osten – und lässt CDU und SPD abstürzen. In | |
> Sachsen-Anhalt wird 2026 gewählt, es droht die erste AfD-Landesregierung. | |
Bild: Eine AFD Kundgebung in Burg (bei Magdeburg) mit Gegendemonstation, am 22.… | |
Weißenfels/Berlin taz | Der Kreisverband der CDU schart sich am Wahlabend | |
im Weißenfelser Jägerhof um Dieter Stier, die Blicke gehen zum Bildschirm | |
mit den Zahlen. „Dass das so groß wird …“ Der 60-jährige CDU-Direktkand… | |
klingt fassungslos. „Die haben einen Kandidaten, der hat nichts | |
präsentiert.“ Und so einer räumt ab, nicht hauchdünn, sondern im Triumph? | |
Martin Reichardt, Landesvorsitzender der AfD und Stiers Gegenspieler, ist | |
der Wahlkreis 72 sicher. | |
Viermal hat Dieter Stier das Direktmandat im Süden Sachsen-Anhalts geholt. | |
Ein fünftes Mal wird es nicht geben. Die AfD hat Stiers Revier geplündert, | |
ebenso die anderen sieben Wahlkreise in Sachsen-Anhalt. Nicht anders bei | |
den Zweitstimmen: Die AfD holt im Burgenlandkreis 44,4 Prozent, Spitzenwert | |
für Sachsen-Anhalt, im ganzen Land sind es mehr als 37 Prozent. Die stolze | |
„Sachsen-Anhalt-Partei“ kommt nur noch auf gut 19 Prozent und geht bei den | |
Direktmandaten leer aus. 2017 holte sie noch alle. [1][Die CDU, die hier | |
seit 23 Jahren regiert, seit 14 Jahren mit Reiner Haseloff], liegt am | |
Boden. | |
Und nicht nur in Sachsen-Anhalt, auch in den anderen ostdeutschen | |
Flächenländern holt sie kein einziges Direktmandat mehr, bis auf drei | |
gingen alle an die AfD. In Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern | |
holte die AfD ebenso Zweitstimmenergebnisse von fast 40 Prozent. In der | |
CDU, die sich im Osten als letzte Volkspartei versteht, ist die Unruhe | |
groß. In Sachsen wird in einem aktuellen Brief von der [2][CDU-Basis die | |
Brandmauer zur AfD wieder infrage gestellt] und Ministerpräsident Michael | |
Kretschmer angezählt. Auch in Thüringen nennt die CDU das Wahlergebnis „ein | |
Desaster“. | |
Am dramatischsten aber ist die Lage in Sachsen-Anhalt. Denn hier stehen im | |
Herbst 2026 Landtagswahlen an – und wenn es so bleibt, führt schon | |
rechnerisch kein Weg mehr daran vorbei, dass die AfD erstmals Teil einer | |
Landesregierung wird. Oder zumindest, dass eine Landesregierung von | |
AfD-Stimmen abhängig wird, von einer Partei, die in Sachsen-Anhalt seit | |
2023 als gesichert rechtsextrem eingestuft ist. | |
## Der AfD-Mann ist ein Phantom | |
Als Dieter Stier 2009 zum ersten Mal kandidierte, gab es die AfD noch gar | |
nicht. 2021 war es schon ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit AfD-Mann Reichardt, | |
das Stier hauchdünn gewann. Nun hat Reichardt Stier gedemütigt und die | |
ganze CDU gleich mit. Reichardt gab am Wahlabend die Richtung vor: „Unser | |
Ziel ist ganz klar, den nächsten Ministerpräsidenten in Sachsen-Anhalt zu | |
stellen.“ | |
Martin Reichardt ist ein politisches Irrlicht aus Goslar, das schon einige | |
Parteien „durchhat“, von SPD, FDP und Republikanern ist die Rede. Er steht | |
dem völkischen „Flügel“ der AfD nahe, der offiziell nicht mehr existiert. | |
Reichardt ist ein Phantom, das ganz woanders wohnt und das sich, sie | |
schwören es alle im Raum, im Wahlkreis nie hat blicken lassen. Ihn | |
hingegen, sagt Dieter Stier, könne man anrufen, seine Handynummer sei | |
bekannt. | |
Nun aber sind es auch AfD-Leute wie Christina Baum, die Sachsen-Anhalt im | |
Bundestag repräsentieren. Die 68-Jährige gehört zu den Radikalsten, | |
fabuliert über einen Genozid an den Deutschen und wurde zuletzt selbst von | |
ihrem AfD-Landesverband in Baden-Württemberg nicht mehr aufgestellt. | |
Woraufhin sie im Harz kandidierte und 39 Prozent holte. Oder Jan Wenzel | |
Schmidt, eng verbandelt mit den rechtsextremen Identitären. | |
Dieter Stier dagegen ist ein anerkannter Agrarpolitiker, einer, der von | |
hier kommt, der die Menschen kennt und ihre Geschichten. Der sich, wie | |
viele hier, noch erinnern kann, was „Wahlen“ in der DDR bedeuteten, und der | |
deswegen die Demokratie umso mehr zu schätzen weiß. Und jetzt das? | |
## Die CDU gerät unter Druck | |
„Wir brauchen ein Rezept für den Osten“, sagt Stier, der seit 1999 in der | |
CDU ist und sich vom Kreistag zum Bundestag hochgearbeitet hat. Doch | |
welches Rezept? Stier, der auch CDU-Kreisvorsitzender ist, wirkt ratlos. | |
450 Mitglieder ist sein Kreisverband stark. Reicht das, um der AfD | |
entgegenzutreten, einer Schimäre, die sich der Kommunalpolitik beharrlich | |
verweigert, aber ihre Parolen aus vielen Handys brüllt? Die werden zur | |
Landtagswahl im Herbst 2026 ganz sicher noch lauter. | |
„Dann könnte das Land unregierbar werden“, unkt Götz Ulrich. Der Landrat | |
des Burgenlandkreises hat sich im Jägerhof dazugesellt. Gewiss, die | |
Ergebnisse der Wahl ließen sich nicht eins zu eins auf die Landesebene | |
herunterbrechen, fährt CDU-Mann Ulrich fort. Doch müssten jetzt Lösungen | |
her. Ulrich führt aus: Die Kommunen und Kreise ächzen unter den Schulden, | |
unter überbordenden Gesetzen und Verordnungen, die der Bund den Kommunen | |
aufbürdet, unter Personalmangel und fehlender Finanzierung. Und der Osten | |
müsse in Berlin angemessen vertreten sein. Nicht mit einem | |
„Ostbeauftragten“, der sowieso nicht bis zur Regierung durchdringe, sondern | |
direkt am Kabinettstisch. | |
Was aber, wenn trotz aller Lösungen die AfD bei der Landtagswahl | |
triumphiert? Diese Frage wirft der Landrat selbst auf. Für einen Moment | |
scheint Ulrich über seinen Gedanken erschrocken. Was, wenn alles nicht mehr | |
hilft? [3][Wenn die vielen Hunderte Millionen Euro, die wegen des | |
Kohleausstiegs in die Region fließen, nichts bewirken]? Wenn die | |
Leuchtturmprojekte wie die neue S-Bahn-Strecke von Leipzig nach Gera oder | |
die Bildungszentren in Naumburg und Zeitz nicht leuchten? Wenn etwas | |
unverrückbar aus dem Lot ist? | |
Ulrich hat die Abstimmungen über den [4][Fünfpunkteplan und das | |
„Zustrombegrenzungsgesetz“ im Bundestag Ende Januar], bei denen die Union | |
mit der AfD abgestimmt hat, deutlich kritisiert. Freie Mehrheiten, die | |
gemeinsam mit der AfD errungen werden, würden zu „verheerenden Folgen“ | |
führen, hatte Ulrich gewarnt. Es würde CDU-geführte Koalitionen in den | |
Ländern unter Druck setzen. Jetzt ist es die CDU, die unter Druck gerät. | |
## Eigene Themen setzen, dagegenhalten | |
Und nicht nur sie, auch die Zivilgesellschaft. „Uns erreicht von den | |
Initiativen gerade viel Resignation und tiefe Ratlosigkeit“, sagt David | |
Begrich vom [5][Magdeburger Verein Miteinander], der demokratische Projekte | |
unterstützt. „Wenn es so weitergeht, wird die AfD hier kommendes Jahr | |
allein regieren.“ Eine Gegenstrategie der Parteien sieht er bisher nicht. | |
Für Begrich geht es jetzt darum, „demokratische Kerne“ zu erhalten. „All… | |
die zivilgesellschaftlich aktiv sind, müssen sich zusammenraufen.“ Und es | |
brauche einen neuen Modus. Die Strategie der Eindämmung der AfD sei | |
„gescheitert. Jetzt müssen wir stärker in die Konfrontation gehen.“ | |
Für Herbert Wollmann ist es in Berlin bereits vorbei. Der SPD-Mann aus | |
Stendal, 74 Jahre, ein Notarzt und leidenschaftlicher Ruderer, gewann 2021 | |
noch mit 27 Prozent das Direktmandat. Er habe dieses Mal sogar noch mehr | |
Wahlkampf gemacht, aber früh gemerkt, dass er gegen die Stimmung nicht | |
ankomme, sagt er. Dabei war auch Wollmanns Gegner unsichtbar: AfD-Kandidat | |
Thomas Korell, ein Dachdecker und Hinterbänkler aus dem Landtag. „Der wurde | |
von der AfD regelrecht versteckt, um nicht zu offenbaren, wie unfähig er | |
ist“, sagt Wollmann. Am Ende gewann Korell mit 39 Prozent. Wollmann blieben | |
16. | |
Holte die SPD 2021 noch vier Direktmandate im Land, ging sie diesmal leer | |
aus. Das Zweitstimmenergebnis halbierte sich auf 13,8 Prozent. Wollmann | |
sucht nach Erklärungen. Sein Wahlkreis, die Altmark, stehe nicht schlecht | |
da, gleich nebenan in Niedersachsen holte die SPD noch das Direktmandat. | |
„Und da sind die Verhältnisse auch nicht besser.“ Die Leute wüssten gar | |
nicht, wen sie mit der AfD wählten. „Da fragt man sich schon, wie lange das | |
hier noch mein Zuhause sein kann.“ | |
Wollmann bleiben nun noch Mandate im Stadtrat von Stendal und im Kreistag, | |
die AfD stellt da bereits die größten Fraktionen – denen er Paroli bieten | |
will. Für ihn kann es nur so gehen: eigene Themen setzen und dagegenhalten. | |
Und die Landtagswahl 2026? Man könne nur hoffen, dass es zu einem | |
Waffenstillstand in der Ukraine komme und sich die Wirtschaft erhole. | |
Außerdem müsse SPD-Wissenschaftsminister Armin Willingmann, Reiner | |
Haseloffs Vize, aus der Deckung kommen und offensiv die AfD und CDU | |
attackieren. „Sonst kämpfen wir hier mit der Fünfprozenthürde.“ | |
## Ohne Sicherheitsnetz | |
Vor allem aber wird es bei der Landtagswahl 2026 auf die CDU ankommen. 2021 | |
konnte Ministerpräsident Haseloff, der damals schon in Rente gehen wollte, | |
die AfD noch auf Abstand halten und 37 Prozent holen. Seitdem koaliert die | |
CDU mit SPD und FDP. Gut möglich, dass Haseloff, vor Kurzem 71 Jahre alt | |
geworden, seine Ruhestandspläne erneut ändern muss, um die AfD von der | |
Staatskanzlei fernzuhalten. | |
Zwar hat Haseloff den Landesparteivorsitz schon vor Jahren abgegeben, seit | |
2021 heißt der CDU-Vorsitzende Sven Schulze, fast genauso lange ist Schulze | |
Wirtschaftsminister. Allerdings ist er in Sachsen-Anhalt kaum bekannt, was | |
schon unter ruhigen politischen Umständen ein Problem wäre. Einige | |
CDU-Kreischefs und Bürgermeister fordern, Haseloff müsse noch mal ran. Das | |
klingt nach letztem Aufgebot. | |
Schulze und Haseloff lassen bisher offen, wer nächstes Jahr kandidiert. | |
Dass der Sonntag eine Niederlage war, räumt Schulze ein. „Ganz klar.“ Aber | |
mit der Regierung im Bund gebe es nun die Chance, Vertrauen | |
zurückzugewinnen. Zweckoptimismus ist das. Die Union müsse bei Themen wie | |
Migration in den Koalitionsverhandlungen hart bleiben. „Das treibt die | |
Leute um, gerade nach dem Anschlag hier in Magdeburg.“ Die Landtagswahl | |
schreibt Schulze noch nicht ab. „Die Menschen schauen ganz genau bei | |
Wahlen, worum es geht. Das hat ja die letzte Landtagswahl gezeigt. Da ist | |
noch alles offen.“ Eine Zusammenarbeit mit der AfD schließt Schulze aus. | |
„Aber darum geht’s jetzt nicht. Wir kämpfen um unsere Themen und um ein | |
starkes Ergebnis für uns.“ | |
Dieter Stier, der spät am Wahlabend von der Kreis-CDU zur Aufmunterung | |
einen ganzen Kasten Stier-Bier entgegennimmt, kann diese Ansagen nach | |
Berlin mitnehmen. Trotz Niederlage wird er dem neuen Bundestag angehören. | |
Stiers politische Existenz war über die Landesliste abgesichert wie mit | |
einem Fangnetz. Für Bundesländer und Parteien gilt das nicht. | |
2 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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