# taz.de -- Verlierer der Wahlrechtsreform: Siegerin muss draußen bleiben | |
> Auch wenn die SPD am nächsten Sonntag beide Bremer Wahlkreise gewinnen | |
> sollte, wird eine der beiden Kandidat*innen nicht in den Bundestag | |
> kommen. | |
Bild: Schwierige Ausgangslage: die Bremer SPD-Kandidatin Ulrike Hiller (im rote… | |
Bremen taz | Bremen, das heißt SPD. War immer so! Und weil das so ist, | |
lehnen wir uns ein Stück weit aus dem Fenster und wagen einen Blick in die | |
nahe Zukunft. Und da sehen wir – hurra, Genossen! – eine halbwegs fröhliche | |
Wahlparty der [1][SPD Bremen] am kommenden Sonntag: Beide Bremer | |
Direktkandidaten haben ihre Wahlkreise geholt! Ein bisschen spekulativ ist | |
das, zugegeben: Länderumfragen gibt es nicht vor der Bundestagswahl. Aber | |
selbst in schlechten Jahren gab es in dem aus Bremen und Bremerhaven | |
bestehenden Zwei-Städte-Staat immer zwei Direktmandate. | |
Auf der kommenden Wahlparty freut man sich und lobt den guten Wahlkampf. | |
Und natürlich gibt es fürs Plakatekleben und das Ausharren an kalten | |
Wahlkampfständen ein großes Dankeschön von den beiden Kandidaten, dem | |
siegreichen Uwe Schmidt, Wahlkreis 55 (Bremerhaven, Bremen-Nord und West), | |
und der siegreichen Ulrike Hiller, Wahlkreis 54, Bremen-Stadt. | |
Aber, wenn bis zum 15. März die neuen Bundestagsmitglieder zu ihrer ersten | |
Sitzung zusammenkommen, wird Hiller trotz Wahlkreissieg nicht dabei sein: | |
Für sie ist kein Platz im Bundestag. Der Bremer Wahlkreis ist kein | |
gemachtes Nest mehr; der Bremer Wahlkreis ist eine Sackgasse. | |
## Das größte Parlament | |
Schuld ist das neue Wahlrecht. 2023 hat sich die Ampel-Regierung [2][auf | |
eine Reform geeinigt], endlich, endlich den Bundestag wieder auf | |
Normalgröße zurechtzustutzen. Deutschland hat laut Bundeszentrale für | |
politische Bildung mit aktuell 733 Bundestagsabgeordneten das größte | |
Parlament aller Demokratien weltweit. | |
Schuld sind die Überhangmandate: direkt mit Hilfe der Erstimmen gewonnene | |
Wahlkreise, die vom Zweitstimmenergebnis der jeweiligen Partei nicht | |
gedeckt sind. Das bestimmt, wie viele Sitze jede Partei bekommt. Weil | |
kleine Parteien seit den Neunzigern Bedeutung und Wählerstimmen gewannen, | |
aber die Wahlkreise meist weiter an Union oder SPD gingen, hat sich die | |
Zahl der Überhangmandate seit 1994 immer weiter erhöht. | |
Um eine Verzerrung der Mehrheitsverhältnisse zu vermeiden, wurden ab 2013 | |
zudem Ausgleichsmandate eingeführt, für alle anderen Parteien. Die Zahl der | |
Abgeordneten schoss weiter in die Höhe, der Bundestag wurde teurer, der | |
Platz immer enger, die parlamentarische Arbeit durch mehr Abstimmungsbedarf | |
kompliziert. | |
In Zukunft soll der Bundestag strikt auf 630 Abgeordnete begrenzt sein – | |
100 weniger als heute. Wenn es für eine Partei auf Landesebene mehr | |
Direktmandate gibt, als ihr nach Zweitstimmenergebnis zustehen, dann werden | |
zuerst die Wahlkreise mit den höchsten Siegen bedient. Die anderen fallen | |
hintenüber. | |
## Konkurrent aus der eigenen Partei | |
Deshalb tritt Ulrike Hiller nicht nur gegen die starke Kirsten | |
Kappert-Gonther von den Grünen und gegen Thomas Röwekamp von der CDU in | |
ihrem eigenen Wahlkreis Bremen I an, sondern eigentlich gegen den | |
traditionell uneinholbaren Parteifreund aus Bremerhaven. | |
Ihr Wahlkreis Bremen I ist für die SPD eine sichere Bank, aber in Bremen II | |
mit Bremerhaven, Bremen-Nord und Bremen-West, da vergeben die Menschen ihre | |
Erststimmen noch konzentrierter an die SPD. Bei bisher jeder Wahl bekamen | |
die Direktkandidat*innen hier mindestens vier Prozentpunkte mehr als | |
die Kandidat*innen in Bremen-Stadt. | |
Natürlich halten sich beide Seiten fein zurück, diese Konkurrenz nach außen | |
hin zu kultivieren. Sie schätze Uwe Schmidt, sagt Hiller. Er arbeite gut | |
und kollegial mit Ulrike Hiller zusammen, sagt Schmidt. Gemeinsam werde | |
man, das sagen beide, dafür kämpfen, dass es zwei Bremer Mandate für den | |
Bundestag gibt. | |
Möglich ist auch das. Sebastian Schmugler aus der Geschäftsstelle des | |
SPD-Landesverbands spielt in seiner Mittagspause gern ein paar | |
Was-wäre-wenn-Gedankenspiele auf dem „Mandatsrechner“, [3][einer Webseite, | |
die spröde wirkt, als käme sie direkt aus den Neunzigerjahren]. Nur mal | |
angenommen, rechnet Schmugler vor, das Bremer Landesergebnis wäre so gut | |
wie bei der letzten Bundestagswahl, dann müsste die Partei auf Bundesebene | |
nur etwa 18 Prozent bekommen, damit beide gewonnenen Bremer Wahlkreise zu | |
einem Mandat führen. „Das ist nicht übermäßig wahrscheinlich, aber auch | |
weit weg von unmöglich“, sagt er. | |
Dass es für Bremer SPD-Verhältnisse kein ganz einfacher Wahlkampf werden | |
würde, war ohnehin schon lange klar: Olaf Scholz an der Spitze bedeutet | |
aktuell [4][mehr Hypothek als Kanzler-Vorteil]. Und: Hiller als Kandidatin | |
ist neu. Denn die bisherige Bundestagsabgeordnete Sarah Ryglewski hatte im | |
Sommer überraschend angekündigt, nicht mehr anzutreten. | |
## Schlechte Chancen | |
Ryglewski, Anfang 40, ist nicht unbedingt berühmt, aber doch ziemlich | |
einflussreich als Abgeordnete: Seit fast zehn Jahren sitzt sie im | |
Bundestag, ab 2019 war sie Parlamentarische Staatssekretärin bei | |
Finanzminister Olaf Scholz – mit ihm ist sie 2021 auch ins Bundeskanzleramt | |
gewechselt, als Staatsministerin. Und auch, wenn die SPD öffentlich nicht | |
daran glaubt: Spekuliert wurde schon, ob ihr Verzicht auf eine erneute | |
Kandidatur nicht auch mit den schlechten Chancen einer Wiederwahl | |
zusammenhing. | |
Dass die SPD unter diesen Umständen eine Kandidatin gefunden hat, die die | |
großen Fußstapfen ausfüllen kann, ist überraschend. Ulrike Hiller kann eine | |
klassische SPD-Geschichte erzählen von Aufstieg durch Bildung – und sie | |
bringt eine Tonne politischer Erfahrung mit. Fast acht Jahre saß sie für | |
die SPD in der Bremer Bürgerschaft und sieben weitere Jahre war sie | |
„Bevollmächtigte Bremens beim Bund und für Europa“ – eine Art | |
Botschafteramt im Rang einer Ministerin, die Bremens Interessen in Berlin | |
und Brüssel vertritt. | |
Ausgeschieden aus der aktiven Politik ist sie aus persönlicher Loyalität: | |
2019 wurde ihr damaliger Ehemann Andreas Bovenschulte (SPD) Bürgermeister | |
in Bremen und irgendwie war klar: Ein Ehepaar in zwei so zentralen | |
Funktionen für den Zwei-Städte-Staat, das ging nicht. | |
Nun also Wahlkampf. Hiller tingelt diese Winterwochen durch die Stadt, von | |
Podiumsdiskussion zu Fototermin, vom Wahlkampfstand mit Luftballons zur | |
Tour durch die Stadtteile. So wie an diesem Donnerstag Ende Januar, als sie | |
in Tenever, am äußersten Ostrand der Stadt, die Institutionen abklappert: | |
Mütterzentrum, Frauengesundheitstreff, Secondhandladen. | |
## Keine schlechte Voraussetzung | |
„Ich mag Wahlkampf“, sagt Hiller auf dem Weg zwischen zwei Einrichtungen. | |
Es ist eigentlich schwer vorzustellen in dieser verkürzten Vorwahlzeit, in | |
der ein Termin in den nächsten übergeht, schnell, schnell, weiter geht’s. | |
Aber sich zu sagen, dass man Wahlkampf mag, ist sicher keine schlechte | |
Voraussetzung. | |
Hiller duzt, lächelt, gibt allen die Hand und manchen ein High Five, | |
verteilt Komplimente – und macht sich bekannt. „Wisst ihr eigentlich, wer | |
ich bin?“, fragt sie die Frauen im Deutschkurs. „Das können wir gerne | |
hören“, sagt eine von ihnen höflich. Hiller erzählt, wie sie selbst vor 30 | |
Jahren in Tenever als Sozialarbeiterin tätig war, was sie in der Politik | |
gemacht hat, wie toll hier alles ist – und dass man nicht die AfD wählen | |
dürfe. Heraus geht sie aus dem Gespräch mit einem weiteren Wahlkampftermin | |
im Sprachkurs, ein paar Tage später. | |
Viele hier im Raum dürfen wahrscheinlich nicht wählen; und auch von denen, | |
die wählen könnten, tun es in Tenever viele nicht: Die Wahlbeteiligung | |
liegt bei unter 50 Prozent. Wer streng nach Effizienz ginge, würde in | |
diesen kurzen Wahlkampf vielleicht andere Zielgruppen ansprechen. „Aber das | |
ist doch pervers, nur zu denken, wer mir was bringt“, sagt Hiller später. | |
Dass es schwierig werden könnte für die SPD-Frau, ist bei vielen noch nicht | |
angekommen. Nicht bei den Sprachkurs-Teilnehmerinnen und den Verkäuferinnen | |
vor Ort – sie kennen weder Hiller noch ihre Vorgängerin. Aber auch nicht | |
bei den Projektleiterinnen und Stadtteilpolitikern. Der Quartiersservice | |
gegen Vermüllung wurde gerade eingespart, es fehlen Bundesmittel. „Da | |
solltest du dich nach der Wahl mal kümmern“, sagt Quartiersmanager Aykut | |
Tasan. Man hoffe, dass die Probleme von Tenever auch auf Bundesebene | |
gesehen würden, sagt ein Mitglied des Stadtteilparlaments. Und die Leiterin | |
vom Frauengesundheitstreff fragt schon mal an, ob nicht wieder eine | |
Frauengruppe nach Berlin eingeladen werden könnte. In den Köpfen ist klar: | |
Die SPD-Kandidatin kommt ja rein. | |
## AfD oder SPD | |
Hiller klärt auf, wenn auch etwas euphemistisch: „So ganz sicher“ sei es | |
noch gar nicht, dass sie in den Bundestag einziehe. Dass es nach der | |
Wahlrechtsreform weniger Sitze fürs Land Bremen gebe. Dass nach den | |
Hochrechnungen einer an Uwe Schmidt gehe, einer an die CDU, einer an die | |
Grünen und der letzte – tja, der ginge eben an die AfD oder die SPD. An | |
sie. | |
Das echte Wahlrecht ist komplexer, die Zahl der Sitze pro Land ist nicht | |
festgeschrieben, ein solches Entweder-oder gibt es nicht. Aber Ulrike | |
Hiller als lebende Bremer Brandmauer, das ist eine kluge Geschichte, um die | |
eigenen Reihen zu motivieren – und vielleicht auch sich selbst für diesen | |
Wahlkampf auf schwerem Posten. | |
Besonders die Unionsparteien hatten gegen die Wahlreform in ihrer jetzigen | |
Form protestiert. 23 Überhangmandate hatten sie im aktuellen Bundestag, die | |
SPD 10. Ausgleichsmandate gingen an alle Parteien. Betroffen sind viele | |
Bundesländer: In Niedersachsen, Hessen, in Mecklenburg-Vorpommern und | |
Brandenburg ist es wahrscheinlich, dass SPD-Direktmandate wegfallen; | |
Baden-Württemberg und Bayern gehören zu den Ländern, in denen CDU und CSU | |
eventuell nicht alle gewonnenen Wahlkreise besetzen können. | |
Dass die SPD für das neue Wahlrecht gestimmt habe, obwohl es auch für viele | |
SPD-Abgeordnete das Bundestags-Aus bedeute, sei „das Drama einer | |
staatstragenden Partei“, findet Schmugler. Auch mal was zum eigenen | |
Nachteil machen, „erst der Staat, dann die Köpfe“. Der stetig wachsende | |
Bundestag sei jedenfalls nicht mehr zu vermitteln gewesen. | |
Kritischer sieht Sarah Ryglewski, die aktuelle Bundestagsabgeordnete, das | |
neue Wahlrecht. „Dass die Situation entstehen kann, dass ein:e | |
Wahlkreisgewinner:in das Mandat nicht zugeteilt bekommt, halte ich für | |
einen Fehler“, meint sie. Was wegfalle, das sei die „besondere | |
Verantwortung“ von Wahlkreisabgeordneten gegenüber ihren Wahlkreisen. | |
Ulrike Hiller schüttelt noch ein paar Hände in Tenever, dann geht es | |
weiter, ein Fototermin in der Bürgerschaft. „Am 24. weiß ich, ob ich | |
reingewählt bin“, sagt sie noch zu den Verkäuferinnen im Secondhandshop, | |
„oder ob ich mein altes Leben wieder zurück habe.“ | |
16 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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