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# taz.de -- Die Kunst der Woche: Tastend im Archiv
> Was kommt zum Vorschein, wenn Staatsakte in ihrer Ritualität betrachtet
> und Archive vom Alltag her gedacht werden? Drei Ausstellungen auf
> Spurensuche.
Bild: Vincent Haynes: „Großer Zapfenstreich“, 2024, verschiedene Farben au…
Auf den melancholisch wirkenden Malereien von Vincent Haynes ist kaum etwas
wiederzuerkennen. Obwohl er mit seinem breiten, aber dünn aufgetragenen
Pinselstrich auch bekannte Bilder aus den Nachrichten festhält. Den
Zapfenstreich für Ursula von der Leyen etwa. Auf der großformatigen
Leinwand scheinen dann nur gesichtslose Uniformierte aus einem braun-grauen
Dunkel, das ohnehin der Grundton vieler seiner Bilder ist.
Wie sie da so stramm in der Reihe stehen, einer hält die Fackel in der
Hand, und dazwischen eine weibliche Figur auftaucht. Ihre blonde Fönfrisur
deutet dann doch auf die CDU-Politikerin hin, die 2019 mit diesem
Zeremoniell von ihrem Amt als Verteidigungsministerin entlassen wurde.
„Ceremonies“ heißt auch die Serie des in Bremen lebenden Haynes, die jetzt
bei [1][Tanya Leighton] zu sehen ist. Ein Staatsbegräbnis auf Jamaika, ein
Bankett auf den Philippinen – jeweils Bilder von offiziellen, politischen
Zeremonien – sind in den Galerieräumen aufgereiht. Indem Haynes aber die
Gesichter nur als leere Flächen, nur Konturen und Farben herausarbeitet,
werden auf seinen Leinwänden sonst gern übersehene Strukturen und Symbole
dieser politischen Riten sichtbar.
Und es kommen ungewöhnliche Fragen auf: Warum etwa wird weltweit, über
viele Grenzen hinweg, immer ein roter Teppich bei Staatsbesuchen
ausgerollt? Die Antwort darauf könnte viel über die globalen Zustände heute
erklären, vielleicht.
## Bestes Cover
Man kennt doch dieses Schielen aus der Kunstgeschichte. Der Kardinal mit
Humanistenkäppchen blickt, über Gott sinnend, nach oben, wobei sich das
eine Auge ganz besonders weit nach außen, sozusagen zu Gott hin, dreht.
Raffaels Porträt des Tommaso Inghirami von vermutlich 1509 hängt jetzt im
[2][Nagel Draxler Kabinett]. Aber es ist ganz seltsam: Kappe und Gewand
sind blau, nicht kardinalsrot, und Inghirami schaut einen direkt an, also
mit dem einen Auge, das andere strebt nach wie vor ins Weite.
Der zwischen Berlin und Peking lebende Ji Dachun hat Inghirami auf seiner
kleinformatigen Kopie des Renaissanceporträts ziemlich gut getroffen, trotz
gröberen Pinselstrichs als bei Raffael. Man erkennt ihn und ist zugleich
etwas verwirrt von den veränderten Codes. Kaum wahrnehmbar lässt Ji Dachun
Insekten über das Gesicht des Kardinals krabbeln.
Glatt ein bißchen albern, aber trotzdem gut ist auch seine Kopie von der
rechten Hand Jesu aus Leonardo da Vincis „Salvator Mundi“, das Original
entstand um 1500. Die ikonische Segensgeste wird bei Ji Dachun zur
ironischen, wenn er dem Christus einen Joint zwischen die Finger klemmt.
Das funktioniert, auch weil Ji Dachun meisterhaft kopiert, aber mit dieser
und jener Ungenauigkeit des Pinsels die Kopie durchaus offenlegt.
An anderer Stelle nimmt er sich die hybriden Höllenwesen eines Hieronymus
Bosch vor oder mengt seinen Kopien Figuren der chinesischen Mythologie bei.
Das alles ist so eingängig und befreiend wie die gute Coverversion eines
Popsongs: Das Altbekannte wird verzerrt, slapstickartig unterbrochen, und
zu etwas Ungewohntem übertönt.
## Leerstellen der Geschichtsschreibung
Das Schweigen der Archive, davon handelte die Gegenwartskunst vor Kurzem
noch viel. Von den Leerstellen der Geschichtsschreibung und von denjenigen,
die darin verloren gegangen sind. Wer weiß etwa von den Opfern des „Malayan
Emergency“ (1948–1960), jener Zeit, als die Kommunisten Malayas in
bewaffneten Aktionen gegen die britische Kolonialherrschaft vorgingen? Die
aus Singapur kommende Künstlerin Sim Chi Yin erinnert in der [3][Galerie
Zilberman] an ihren Großvater, einen linken Journalisten, der von
Antikommunisten während dieses Notstands ermordet wurde.
Briefe und Postkarten, aus London, aus Berlin, hängt sie an die Wände.
Darauf vermengt sie heutige Eindrücke als Reisende mit Fragen an die
Vergangenheit, Bemerkungen über das nicht anzugewöhnende europäische Essen
überschneiden sich mit Überlegungen, warum die Familie nie über den Mord
sprechen konnte.
Die Gruppenausstellung „Swaying the Current“ ist nicht ganz im Trend, ist
doch das Zweifelnde, Suchende, Spekulative der sieben teilnehmenden
Künstler:innen mittlerweile von einer politischen Kunst abgelöst worden,
die auf vermeintliche Wahrheiten oder Identifizierung setzt. Es ist aber
gut, dass es in dieser Ausstellung keine Gewissheiten über Konflikte gibt,
von denen man höchstens eine Ahnung hat. Man bleibt Außenstehende:r.
Auch bei den hyperkonkreten Grafitzeichnungen von Cengiz Tekin, die sich
durch alle Galerieräume ziehen und alleine schon einen Besuch wert sind:
fotorealistisch in Schwarz-Weiß, wie der gekrümmte Nagel in der Wand einen
Schatten wirft, wie ein kleines Bild der Mutter an den Lichtschalter
geklemmt ist, dann ein Gewehr am Haken hängt.
Tekin fertigte diese Zeichnungen 2017 an, als in seiner Heimatstadt
Diyarbakır ein kriegerischer Konflikt zwischen dem türkischen Staat und
Teilen der kurdischen Bewegung ausgebrochen war. In ihrer Wirklichkeit
machen Tekins Zeichnungen einen Moment greifbar, ohne wirklich eine Aussage
über ihn zu treffen. Stattdessen vermitteln sie ein Gefühl: das der
Abgeschiedenheit während eines Alltags in der Krise.
3 Feb 2025
## LINKS
[1] https://www.tanyaleighton.com/exhibitions/zeremoniell#12
[2] https://nagel-draxler.de/exhibition/image-time-and-boundary/
[3] https://www.zilbermangallery.com/swaying-the-current-en-e385.html
## AUTOREN
Sophie Jung
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