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# taz.de -- Anzeige gegen die Polizei Hanau: Könnte Vili-Viorel Păun noch leb…
> Fünf Jahre nach dem Hanau-Anschlag droht wegen Verjährungsfristen ein
> Ende der Aufarbeitung. Nun erstattet der Vater eines Opfers noch einmal
> Anzeige.
Bild: Ist die Polizei mitschuldig an seinem Tod? Ein Foto des beim Hanau-Attent…
Berlin taz | Dreimal wählte Vili-Viorel Păun in der Nacht vom 19. Februar
2020 den [1][Notruf der Polizei]. Zuvor hatte ein Mann [2][drei Menschen in
zwei Bars am Hanauer Heumarkt] erschossen und auch auf Păuns Auto gefeuert,
war dann mit seinem eigenen PKW davongerast. Păun nahm die Verfolgung auf,
versuchte dabei fünfmal die Polizei zu erreichen, wobei er sich zweimal
vertippte. Doch kein Anruf kam durch. Als der Attentäter schließlich im
Stadtteil Kesselstadt anhielt, erschoss er Păun in dessen Auto – und danach
noch fünf weitere Menschen.
Bis heute sind nach dem rassistischen Attentat von Hanau vom 19. Februar
2020 nicht alle möglichen Behördenfehler aufgearbeitet. Zu einem gehört der
Fall, [3][dass der Polizeinotruf in der Tatnacht fast nicht zu erreichen
war] – und die Frage, wer dafür verantwortlich war. Und ob Vili Viorel Păun
noch leben würde, wäre es anders gewesen.
Um diese offene Frage zu klären, hat am Dienstag Niculescu Păun, der Vater
von Vili-Viorel Păun, nochmals Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft
Hanau gestellt, wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung.
Die Anzeige richtet sich dabei nun erstmals gegen konkrete Polizisten, die
zur Tatzeit in leitender Position waren und damit auch verantwortlich für
den Notruf: Roland Ullmann, damals Polizeipräsident von Südosthessen;
Jürgen Fehler, Polizeidirektor im Main-Kinzig-Kreis; und gegen den
damaligen Leiter der Abteilung Einsatz, mutmaßlich der Beamte Claus S.
## Fehlende Strafverfolgung wäre „unerträglich“
Der Grund für die Anzeige ist auch die Sorge von Niculescu Păun, dass
mögliches Versagen und Straftaten in Kürze nicht mehr verfolgbar sind: Denn
fünf Jahre nach der Tat, also am 19. 2. 2025, tritt die Verjährung ein.
Würden indes neue Ermittlungen aufgenommen, würde diese Frist um weitere
fünf Jahre verlängert. Geschieht dies nicht und bliebe somit ein mögliches
fahrlässiges Tötungsdelikt unverfolgt, wäre das für Păun „unerträglich�…
heißt es in der Strafanzeige.
Die Hanauer Polizeiwache war in der Nacht des Attentats, auch wegen eines
anderen Großeinsatzes kurz zuvor, nur mit vier Beamten und zwei
Praktikanten besetzt. Schon seit Jahren war zudem das Notrufsystem in der
Dienststelle veraltet: Bereits seit 2001 konnten dort nur zwei Anrufe
parallel angenommen werden, weitere Anrufe kamen dann nicht durch. Anders
als andere Polizeiwachen in Hessen hatte Hanau auch kein sogenanntes
Überlauf-System, womit Anrufe an andere Dienststellen weitergeleitet
würden. In der Nacht des Hanau-Attentats erreichten viele Bürger*innen
die Hanauer Wache deshalb nicht, darunter auch Vili-Viorel Păun.
Bereits nach dem Attentat hatte Niculescu Păun Strafanzeige bei der
Staatsanwaltschaft Hanau wegen des mangelhaften Notrufs gestellt. Ein
erstes Ermittlungsverfahren dazu wurde im Mai 2022 jedoch eingestellt,
durch eine Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main: Ein
strafrechtlich relevantes Fehlverhalten von Polizisten sei nicht
feststellbar, alle Beamten seien dienstlichen Vorgaben gefolgt. Auch gebe
es keine zwingende Kausalität, dass früher angenommene Notrufe einen der
neun Morde hätten verhindern können.
## Neue Erkenntnisse aus dem U-Ausschuss
Nicolescu Păun bezieht sich nun aber auf [4][neue Erkenntnisse aus dem
hessischen Untersuchungsausschuss zum Hanau-Attentat], der sich auch der
Frage des Notrufs widmete. Zudem befragte Păuns Anwalt erstmals frühere
Arbeitskollegen von Vili-Viorel Păun zu dessen Charakter, die allesamt
beteuerten, dass dieser kein Draufgänger gewesen sei, sondern konfliktscheu
und mit Respekt für die Polizei. Die Schlussfolgerung: Păun wäre in jedem
Fall einer Polizeianweisung gefolgt, dem Täter nicht weiter
hinterherzufahren – wenn er denn die Wache erreicht hätte.
In der neuen Strafanzeige wird der Polizei nun ein
„Organisationsverschulden hinsichtlich der technischen und personellen
Ausstattung des Notrufs“ in der Tatnacht vorgeworfen. Diese sei ihrer
„staatlichen Schutzpflicht zur Abwendung von Bedrohungen gegen Leib und
Leben von Bürgern“ nicht nachgekommen. Auch bestünden konkrete, personelle
Verantwortlichkeiten für die bis zum Anschlag seit 18 Jahren andauernde
„technische Mangellage“ des Notrufsystems in Hanau. Hätte das System
funktioniert, wäre Păun „heute mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit noch am Leben“, heißt es in der Anzeige.
Die Strafanzeige wirft den damals leitenden Polizisten Roland Ullmann,
Jürgen Fehler und dem Leiter der Abteilung Einsatz, der sehr wahrscheinlich
Claus S. gewesen sei, vor, von dem nur eingeschränkt funktionierenden
Notruf gewusst, aber nichts dagegen unternommen zu haben. Im
Untersuchungsausschuss äußerte sich Fehler dazu widersprüchlich: Einerseits
bestritt er, vom fehlenden Überlauf gewusst zu haben. Andererseits erklärte
er, Anrufer mit nicht dringenden Anliegen seien gebeten worden, eine andere
Polizeinummer anzurufen und nicht den Notruf, um diesen nicht zu
blockieren.
Dass Fehler als Polizeidirektor nichts vom fehlenden Überlauf gewusst haben
will, sei „wenig glaubhaft“, heißt es in der Anzeige. Schon vor Jahren sei
es intern wie durch Bürger*innen zu einer „erheblichen Anzahl von
Beschwerden“ über die schwierige Erreichbarkeit des Notrufs gekommen.
Auch Landespolizeipräsident Ullmann hatte im Ausschuss angegeben, nichts
vom fehlenden Überlauf gewusst zu haben. Dass es technische Probleme in
Hanau gab, sei ihm aber bekannt gewesen, konstatierte der Ausschuss. Der
Plan sei damals gewesen, diese Probleme mit einem Neubau der Hanauer
Dienststelle zu lösen. Diese hätte sich aber 8 Jahre verzögert, eine
Übergangslösung sei auch von Ullmann nicht veranlasst worden. Auch Wünschen
nach mehr Personal sei er nicht nachgekommen.
Schließlich sei auch der Leiter der Abteilung Einsatz beim Polizeipräsidium
Südosthessen, Claus S., und der laut Kollegen auch für die
Funktionsfähigkeit der Polizeinotrufe in Hessen zuständig war,
mitverantwortlich für den mangelhaften Notruf gewesen.
Wegen ihrer Leitungsfunktionen wäre es die Sorgfaltspflicht der Polizisten
gewesen, „etwaige Missstände beheben zu lassen“, heißt es in der Anzeige.
Mindestens ein Überlauf des Notrufs in andere Dienststellen hätte
organisiert werden müssen. Auch gebe es sehr wohl eine Kausalität durch den
nicht erreichbaren Notruf. Denn wie Bekannte Vili-Viorel Păun beschrieben,
hätte dieser „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ seine
Verfolgung des Hanau-Attentäters aufgegeben, wenn er dazu von der Polizei
aufgefordert worden wäre.
## „Er hat genau zugehört, was die Polizei gesagt hat“
„Die Polizei hat die Aufgabe, für Recht und Ordnung zu sorgen. Diese drei
Personen hatten die Verantwortung für unsere Sicherheit“, sagte Niculescu
Păun am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Hanau. Er wies darauf hin,
dass sein Sohn noch vormittags am Tag des Anschlags, am 19. Februar 2020,
einen Unfall hatte, selbst den Notruf wählte und den Unfall meldete. „Er
hat genau zugehört, was die Polizei gesagt hat“, so Păun.
Deswegen verstehe er nicht, warum die Staatsanwaltschaft davon ausgeht,
dass Vili die Anweisungen sowieso nicht befolgt hätte. „In den Akten steht,
dass Vili nicht versucht hat, die Täter allein zu fassen – er hat fünfmal
versucht, die Polizei zu erreichen“, so Păun. Er betonte ebenfalls, dass
das Problem mit dem Notruf zum Zeitpunkt des Anschlags nicht neu gewesen
sei. „Ich hoffe, dass die Staatsanwaltschaft reagiert.“
Hagen Kopp von der Initiative 19. Februar, in der sich auch Betroffene des
Anschlags organisieren, erklärte: „Vili-Viorel Păun hat mehrfach versucht,
die Polizei zu alarmieren. Ohne die Hartnäckigkeit seines Vaters, Niculescu
Păun, wäre dieser Skandal nicht ans Licht gekommen, denn es wurde von allen
Seiten versucht, ihn zu vertuschen.“ Păun hatte selber erst später
festgestellt, dass sein Sohn mehrfach versucht hatte, die Polizei
anzurufen, als er im Mai 2020, also wenige Monate nach dem Anschlag, das
Handy seines Sohns von der Polizei zurückbekommen hatte.
Die Staatsanwaltschaft Hanau bestätigte am Nachmittag der taz den Eingang
der Anzeige. Diese wurde nun geprüft, sagte ein Sprecher. Daher könne man
derzeit keine weiteren Angaben machen.
Die Polizei Hanau hatte zuletzt betont, dass seit Februar 2021 die Probleme
mit dem Notruf abgestellt seien und nun ein Überlauf in die Leitstelle des
Polizeipräsidiums Frankfurt/Main existiere. Auch der Neubau ist inzwischen
bezogen.
## Innenminister hatte sich entschuldigt
Der hessische Innenminister Roman Poseck (CDU) hatte sich im vergangenen
Jahr bei den Angehörigen und Überlebenden entschuldigt. „Eine
Entschuldigung allein reicht nicht – es braucht Konsequenzen“, forderte
Hagen Kopp. „Es ist die letzte Möglichkeit in dieser Kette des Versagens,
juristisch aktiv zu werden.“ Kopp erinnert auch daran, dass Ullmann und
Fehler „nach ihrem Fehlverhalten, nach diesem jahrelangen Missstand und dem
Versuch, alles zu vertuschen, beide befördert wurden“. Ullmann wurde wenige
Monate später zum hessischen Landespolizeipräsidenten befördert, Jürgen
Fehler zum leitenden Polizeidirektor. „Wie kann es sein, dass dort, wo über
Erinnerungskultur geredet wird, solche Personen trotz ihres Versagens
befördert werden?“
Auch Said Etris Hashemi, der den Anschlag überlebt hat, forderte am
Dienstag Konsequenzen. „Die Strafanzeige, die heute gestellt wird, ist eine
Möglichkeit für die Behörden, ihre Fehler anzuerkennen und rückgängig zu
machen.“ Auch er hatte am Abend des Anschlags versucht, die 110 zu
erreichen. „Es gab mehrere Versuche, aber alles ist ins Leere gegangen.“
Aktualisiert am 7. Jan 2025 um 14.30 Uhr
7 Jan 2025
## LINKS
[1] /Keine-Ermittlungen-zu-Notruf-in-Hanau/!5780632
[2] /Ein-Jahr-nach-Hanau/!5748572
[3] https://kein-abschlussbericht.org/aufklaerung/analysen-texte/notruf/
[4] /Abschlussbericht-zu-Hanau-Morden/!5978472
## AUTOREN
Konrad Litschko
Yağmur Ekim Çay
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