| # taz.de -- Die Wahrheit: Welt im Aufruhr ohne Filter | |
| > Immer mehr Nutzer ziehen sich aus sozialen Medien zurück. Aber was bloß | |
| > sollen sie mit ihrer Zeit anfangen? Schweinebraten mit brauner Soße | |
| > kochen? | |
| Bild: Wer den Sozialen Medien entsagt, entwickelt neue analoge Steckenpferde | |
| „Wahrscheinlich werde ich vor Langeweile bald wieder Brot backen, so wie im | |
| Lockdown“, glaubt Andrea Gröllkamp und schielt sehnsüchtig nach ihrem | |
| Handy, das still und stumm auf dem Couchtisch liegt. Schon über eine Stunde | |
| ist vergangen, seit die Bauzeichnerin die Statusmeldungen und Mitteilungen | |
| auf ihrem Gerät gecheckt hat. Allerdings nur aus Gewohnheit, denn wie viele | |
| Nutzer hat die Mittvierzigerin ihre Accounts in den sozialen Netzwerken | |
| gelöscht, seit Meta-Chef Zuckerberg angekündigt hat, das | |
| Faktencheck-Programm für Facebook und Instagram einzustellen. | |
| Auf Tiktok treibt sich niemand aus Gröllkamps Altersklasse herum, und Elon | |
| Musks Plattform X hat sie schon vor Monaten verlassen. „Wenn ich mich von | |
| autoritären Arschlöchern mit Omnipotenzfantasien anlügen lassen will, | |
| brauche ich kein Social Media, da kann ich auch eine Dating-App benutzen“, | |
| erklärt Gröllkamp, die hauptsächlich Urlaubsbilder und Privates geteilt | |
| hat. Doch diese soziale Funktion haben die Algorithmen mittlerweile | |
| eingeschränkt, hat sie beobachtet. | |
| „Statt Meldungen von Freundinnen und Bekannten tauchen mittlerweile fast | |
| nur noch rechtsradikale Küchentipps in meiner Timeline auf“, präzisiert die | |
| tüchtige Bauzeichnerin ihre Kritik. Mit dieser Beobachtung steht sie nicht | |
| alleine da. | |
| Viele Facebook-Nutzer beschweren sich über die anschwellende Flut von | |
| rechtslastigen Nostalgie-Seiten wie „Das waren noch Zeiten“ und „Oma | |
| Hiedler’s Rezepte“, in denen Schweinebraten mit brauner Soße, traditionelle | |
| Rollenbilder und migrantenfreie Freibäder abgefeiert werden. | |
| ## Fehlendes Ritual | |
| „Wenn ich ungefragt Ratschläge unterlegt mit reaktionärem Untergangsraunen | |
| bekommen will, rufe ich meine Mutter an – die kann wenigstens kochen“, sagt | |
| Gröllkamp. Dennoch vermisst die langjährige Nutzerin die tägliche | |
| Onlinebeschäftigung mit den Leben der Anderen. „Mir fehlt mein Ritual. Ich | |
| habe jeden Morgen meinen Insta-Freundinnen beim Früh-Workout zugeschaut und | |
| mich wie Dreck gefühlt, weil ich noch im Bett lag. In der Mittagspause habe | |
| ich ihre Veggie-Bowls gelikt, während ich mir selber Weißmehldreck vom | |
| Discountbäcker reingewürgt habe. Und abends habe ich mir Selfies aus | |
| angesagten Clubs und teuren Restaurants angeschaut, während ich allein auf | |
| dem Sofa lümmelte. Aber immerhin hat dieser konstante Vergleichsdruck | |
| meinem Leben jahrelang Struktur gegeben. Woher soll ich denn jetzt wissen, | |
| wieso ich so scheiße bin?“ | |
| Ein ganz anderes Problem hat Torsten Meisner, der ebenfalls kürzlich den | |
| Netzwerkstecker gezogen hat. Der leicht übergewichtige Radsportler hat auf | |
| Instagram gern Touren geteilt, bei denen er verlässlich Bestzeiten | |
| erzielte. Die zahlreichen Fotos dort zeigen ihn stets im knappen | |
| Radlerdress, aber immer nur vom Nabel aufwärts. „Jetzt will sich unsere | |
| Radlertruppe analog auf der Piste treffen“, klagt Meisner, der seitdem | |
| verzweifelt dem behaupteten Fitnessgrad hinterhertrainiert. | |
| Noch ärger hat es die beiden Endzwanziger Niklas und Marie getroffen, die | |
| sich unter dem trendigen Hashtag #vanlife ein Geschäftsmodell aufgebaut | |
| haben, das im Wesentlichen auf dem stillgelegten Westfalia-Camper von | |
| Niklas Eltern und exotischen Hintergründen aus dem Internet besteht. „Als | |
| ob wir uns leisten könnten, mit dem Wohnmobil bis nach Thailand zu gurken“, | |
| meint Marie augenrollend, während sie auf einem Dauercampingplatz bei | |
| Rösrath in NRW eine Asien-Story für die 20K-Follower auf ihrem Laptop | |
| zusammenschneidet. „Wenn die alle in die Realität abwandern, muss der | |
| Niklas wieder Gabelstapler fahren“, fürchtet die Nageldesignerin. | |
| Aber verträgt unsere Gesellschaft so viel Wahrheit überhaupt noch? Können | |
| wir die Welt ohne die rosa Filter ertragen, die wir in sozialen Netzwerken | |
| über unsere Biografien legen? „Jenseits unserer Wahrnehmung ist nichts, | |
| Existenz ist kein Prädikat“, meint der Philosoph Jasper J. Jasper dazu, der | |
| ausweislich seiner Facebook-Profilinfo ein vielgefragter Vordenker ist, im | |
| analogen Leben jedoch als Packer arbeitet. Jasper wehrt sich gegen die | |
| „Diktatur des Faktischen“, weil man dort teure Überziehungsgebühren und | |
| Miete zahlen muss. | |
| Onlinepsychologin Eletta Breinert rät Social-Media-Flüchtlingen immerhin | |
| vom kalten Entzug ab. „An die analoge Wirklichkeit muss man sich in kleinen | |
| Schritten herantasten“, meint sie. Derzeit betreut Breinert den | |
| Tiktok-Aussteiger Leon. Der 16-Jährige ist überzeugt, dass er nur in den | |
| Tanzvideos auf dem Bildschirm existiert. Sein analoges Ich hält er für | |
| einen bösen Dämonen, der aus einer X-Box entkommen ist. | |
| ## Ohne Körpergefühl | |
| Damit Leon sein Körpergefühl wiedererlangt, soll er im Auftrag seiner | |
| Therapeutin Computerspiele in der Wirklichkeit nachspielen. Gerade rast der | |
| Junge mit einem gestohlenen Wagen durch Los Angeles. „Hauptsache, Leon | |
| hampelt nicht mehr ständig vor dem Spiegel herum“, rechtfertigt Breinert | |
| die extrem teure Therapie. | |
| Aber was soll die allgegenwärtigen Screens ersetzen? Mit einem massenhaften | |
| Rückzug aus sozialen Netzwerken würde eine riesige Freizeitlawine auf | |
| vollkommen unvorbereitete Gesellschaften zurollen. Es ist nicht einmal | |
| klar, ob genug Hobbys für die weltweit drei Milliarden Facebook-Nutzer zur | |
| Verfügung stünden. Nicht auszudenken, wenn sie alle zu basteln begönnen. | |
| Durchschnittlich 20,8 Stunden pro Woche verbringt allein der oder die | |
| Deutsche in den Netzwerken. Was passiert, wenn so viel Lebenszeit | |
| unkontrolliert freigesetzt wird? Nicht nur für die Angehörigen eine | |
| Horrorvorstellung. Auch Parteien und Vereine fürchten, von Mitgliedern mit | |
| Gestaltungsanspruch überrannt zu werden. Dass sich „Millionen Knalltüten | |
| mit Tagesfreizeit“ womöglich politisch einbringen könnten, ist ein | |
| Worst-Case-Szenario, das auch EU-Digitalkommissarin Henna Virkkunen ernst | |
| nimmt. | |
| Falls der Exodus anhält, will sie mit Mitteln des EU-Strukturfonds ein | |
| Überlaufbecken für Digitalflüchtlinge schaffen. Wer Instagram, Facebook und | |
| Tiktok aus Gewissensgründen den Rücken kehrt, soll Asylanspruch auf der | |
| Plattform „Euro-VZ“ haben, wo alle Teilnehmer von EU-Chefin Ursula von der | |
| Leyen persönlich willkommen gegruschelt werden. | |
| Bis es soweit ist, will sich wenigstens Andrea Gröllkamp auf eigene Faust | |
| eine möglichst zeitraubende Freizeitbeschäftigung zu suchen. „Ich könnte | |
| Gobelins knüpfen, das soll unfassbar lange dauern.“ | |
| 22 Jan 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Bartel | |
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