# taz.de -- Die Wahrheit: Kopflos in das neue Jahr | |
> Noch ein neunzigster Geburtstag. Vor dem Glockenschlag Mitternacht | |
> versammelt sich eine illustre und prominente Runde für ein chaotisches | |
> Spiel. | |
Es waren in jedem Jahr dieselben Phantome, die sich am Silvesterabend um | |
Punkt acht im Esszimmer von Sophie von Schöbnau-Rissel manifestierten. | |
Wobei die ehemalige Studienrätin, die sich einiges auf ihre | |
rationalistische Weltauffassung zugute hielt, niemals von „manifestieren“ | |
gesprochen hätte. Es waren eben Gäste, die zufällig die Freundlichkeit | |
besaßen, einer alten Frau von neunzig Jahren an ihrem einsamen | |
Silvesterabend Gesellschaft zu leisten. | |
Die längst Verwitwete konnte nicht wählerisch sein, ihr irdischer | |
Bekanntenkreis beschränkte sich auf einige steinalte Jugendfreundinnen, | |
über deren Geisteshorizont sich die Sonne merklich senkte. Konversationen | |
mit den Damen musste Sophie gegen die immer lauter tosende Brandung der | |
Demenz führen, wozu die Unduldsame sich kaum in der Lage sah. Zu sehr | |
erinnerten sie die sinnlos murmelnden oder verstockt schweigenden | |
Greisinnen an ihre ehemaligen Schüler. Die Unterhaltungen glichen | |
Abfragungen hoffnungsloser Fälle, die mit einem „Ungenügend“ noch zu | |
nachsichtig benotet waren. | |
Von diesem Menetekel erschreckt, mühte sich Sophie, die Sprungfedern ihres | |
eigenen Intellekts täglich zu ölen. Nach dem Aufstehen rezitierte sie die | |
Jamben memorierter Verswerke, abends löste sie Logeleien, das Wochenende | |
widmete Sophie dem als anspruchsvoll geltenden Rätsel einer Zeitung. Doch | |
ihre wahre Leidenschaft galt dem Spiel, bei dem man Persönlichkeiten | |
erraten musste, deren Namen man auf einem Zettel auf der Stirn trug, obwohl | |
die allerletzte Partie mit ihrem Gatten keinen glücklichen Ausgang genommen | |
hatte. | |
An jenem tragischen Silvesterabend vor vielen Jahren hatte sich Eberhard um | |
Punkt acht ans Herz gegriffen und war als ungelöste Figur aus dem Werk des | |
Schriftstellers E.T.A. Hoffmann verstorben, was Sophie bis heute als | |
kränkende Unhöflichkeit empfand. Denn auch Sophie hatte nie erfahren | |
dürfen, wer sie gewesen war. Der Zettel mit der letzten Notiz des | |
Verblichenen war im Chaos des Abends von Sophies Stirn geglitten und | |
zwischen Rettungswagen und Totenbahre verloren gegangen. | |
## Männliche Heroen | |
Immerhin beschränkte Eberhards unerschütterliche Vorliebe für bestimmte | |
männliche Heroen der Geschichte die Auswahl, so dass Sophie noch vor der | |
Beerdigung ihres Mannes eine Liste der aussichtsreichsten Kandidaten | |
zusammengestellt hatte. | |
Zur nächsten Jahreswende nach seinem Tod waren sie erstmals als Festgäste | |
erschienen und kehrten seither verlässlich wieder. Am Kopfende des Tischs | |
saß wie immer der Mongolen-Khan mit seinem undurchdringlich glatten | |
Jadegesicht, auf der Stirn klebte ein Zettel mit der Aufschrift „Hülegü“. | |
Um ihn herum saßen – ebenfalls mit Eigennamen beschriftet – der stets | |
liebenswürdige Einstein, der sich vom gegenüber sitzenden Sir Walter | |
Raleigh gerade Feuer geben ließ. Darüber beschwerte sich stets Kaiser Nero, | |
der entgegen seines Rufs ein Weichei war und Alkohol verabscheute. Doch | |
auch der Imperator hatte den Regeln der Hausherrin zu gehorchen. | |
„The same procedure as last year?“, verlangte der englische Seefahrer zu | |
wissen, nachdem der Kopflose Wodka in die großen Gläser und reichlich über | |
den Tisch gegossen hatte. | |
„Wurde ich von meinen Untertanen geliebt?“, begann Sophie die Raterunde auf | |
falscher Fährte, worauf nicht nur der mächtige Khan das Haupt schüttelte | |
und die erfolglose Fragerin einen guten Schluck tun musste. | |
„Bin ich ein Genie?“, fragte Albert Einstein, doch diesen Rang mochte der | |
göttliche Nero nur sich selbst zugestehen und verneinte. Einstein wollte am | |
Schnaps bloß nippen, doch das konnte Sophie dem Nobelpreisträger nicht | |
durchgehen lassen. | |
„Ad fundum!“, kommandierte die gefürchtete Lateinlehrerin den Physiker zum | |
Austrinken. Nero fragte nach musikalischer Begabung, und der eher glücklose | |
Entdecker Raleigh wollte wissen, ob er den Lauf der Geschichte maßgeblich | |
verändert habe. Beide Fragen wurden abschlägig mit Hohnlachen beschieden, | |
worauf Nero seinen Schluck geziert hinunterwürgte. | |
Der alte Seebär hingegen legte den Kopf in den Nacken und stürzte den | |
Schnaps mit wohligem Ingrimm in seinen Schlund. Bis auf Hülegü wandte sich | |
die Tischgesellschaft angewidert von diesem Schauspiel ab, da Raleighs Kopf | |
sauber abgetrennt vor ihm auf einem Servierteller lag. | |
Auch der Khan musste trinken: „Würdet ihr sagen, dass ich eine sympathische | |
Person bin?“, hatte der Schlächter von Bagdad wissen wollen. „Ich denke, | |
das kann man ausschließen“, bekannte Sophie eingedenk Hülegüs Hang zu | |
Schädelpyramiden und fragte anschließend, ob wenigstens sie als gerechter | |
Herrscher in die Geschichte eingegangen sei. | |
## Furchtbare Sauerei | |
Nero, dessen Nachfahren allesamt durch das Latinum gerasselt waren, schwieg | |
demonstrativ, Albert Einstein gedachte still grausend der eigenen | |
Schulzeit. Sir Walter Raleigh stand auf und füllte wortlos das Glas der | |
Pädagogin, wobei er abermals eine furchtbare Sauerei anrichtete. | |
„Dann also nicht“, nuschelte Sophie schon tüchtig benebelt, trank und ließ | |
den dienstbaren Raleigh die Kelche wieder mit dem Russenmaß Stogramm | |
füllen. Doch auch die nächste Runde brachte keine Auflösung, ebenso wenig | |
wie die darauf folgende. | |
„Bin ich die Äquivalenz von Masse und Energie?“, raffte sich der elementar | |
beschwipste Einstein zu einer letzten Denkleistung auf, doch sackte in | |
diesem Moment der massige Römer zu Boden. | |
Die fruchtlose Selbstbefragung gelangte an ihr übliches Ende: Nero war | |
vollkommen hinüber, sogar der Mongole konnte sich kaum noch im Sattel | |
halten. Raleigh grölte schmutzige Seemannslieder, und Einstein kicherte | |
blöde über jede Anzüglichkeit. | |
„Ihr seid doch alles Kanaillen“, lallte Sophie, dann wuchtete sich die | |
stockbesoffene Seniorin aus ihrem Sitz und wankte die Stufen zum | |
Schlafzimmer hoch. Dabei löste sich ein Zettel von Sophies Stirn, der ihre | |
ureigene Handschrift trug. | |
Während erste Raketen dem neuen Jahr entgegen zischten, pickte der kopflose | |
Raleigh das Blatt vom Boden auf und bugsierte es mühsam in ein Gefäß auf | |
der Anrichte, das mit Zetteln dieser Art bereits gut gefüllt war. „Wer bin | |
ich?“, stand auf jedem einzelnen dieser Zettel. | |
Pünktlich zum Zwölferschlag der Turmuhr löste sich die prominente Raterunde | |
in einem feinen Nebel auf, der noch eine Weile über der Tafel schwebte, bis | |
er in Schwaden und Kringeln dem Gefäß auf der Anrichte zustrebte und darin | |
verschwand. Es war eine marmorne Urne mit der Gravur „Der Sandmann“. | |
31 Dec 2024 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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