# taz.de -- Die Wahrheit: Kein Fußbreit den Schlafittchen! | |
> Karnevals- oder Demonstrationszug? Im Rheinland ist das nicht immer ganz | |
> leicht zu unterscheiden. | |
Bild: Sind das noch Demonstranten oder schon Karnevalisten? | |
Ich verstehe nichts von Politik. Das wird mir schnell klar, als ich mich in | |
die Demonstration gegen rechts eingereiht habe. „Kein Fußpilz am | |
Schlafittchen!“, röhrt – jedenfalls nach meiner Interpretation – der | |
Einpeitscher am Zugweg in ein kaputtes Megafon. Dieser Slogan ist mir neu, | |
obwohl Urheber und Gerät sicher schon seit den frühen achtziger Jahren | |
gegen den Faschismus auf den Beinen sind. | |
„Das ist auch für mich heute die sechste Demo“, empört sich ein | |
Vertrauenslehrer mit Pappschild gegen Hass und Hetze und fordert mehr | |
mündliche Mitarbeit von uns allen. Immerhin die gewerkschaftlich | |
organisierte Sambatruppe haut so enthusiastisch ins Geschirr, als wolle sie | |
nicht nur die AfD, sondern auch die Bolsonaro-Faschisten im akustisch weit | |
entfernten Brasilien aus dem Parlament trommeln. Allerdings bin ich nicht | |
sicher, ob die Brasilianer ihre Samba noch erkennen, wenn sie aus | |
teutonischen Gewerkschaftspauken dröhnt. Aber Trommelgruppen gehören ebenso | |
zu Kundgebungen gegen rechts wie linke Urgesteine mit defekten | |
Flüstertüten. | |
## Kostümierte Fußgruppen | |
Besonders, wenn es eine Demo im Rheinland ist, die von einem gewissenlosen | |
Sauerländer in ungünstige Zeitnähe zum Straßenkarneval gezwungen wurde. | |
Erst als die Kapelle eine Schweigeminute einlegt, verstehe ich, was der | |
Mann mit dem rückkoppelnden Megafon meint. „Kein Fußbreit den Faschisten!�… | |
rufe ich die Auflösung. Die Mitmarschierenden stimmen allerdings lieber in | |
einen Ohrwurm ein, den eine kostümierte Fußgruppe mitgebracht hat. Es ist | |
noch nicht ganz klar, ob die Jecken aus antifaschistischer Überzeugung | |
dabei sind oder einfach den falschen Umzug erwischt haben. Oder bin ich es, | |
der als Demonstrant verkleidet in einem Veedelszug mitgeht? | |
Das kann ich dann doch ausschließen, denn bei Demos ist die Stimmung | |
ausgelassener. Karneval wird im Rheinland erheblich ernster genommen als | |
Faschismus und weist eine größere Vielfalt von Uniformen auf. Daran kann | |
man die beiden Veranstaltungsformate im Zweifelsfall ganz gut | |
unterscheiden. | |
## Antikapitalistische Trinkgemeinschaften | |
Die Jecken werden fix in die Volksfront eingemeindet, obwohl der politische | |
Charakter der Veranstaltung etwas leidet, weil nun alle Beteiligten | |
Karnevalslieder singen. Sogar der Ruf „Alerta, alerta“ wird jetzt | |
überwiegend mit der Antwort „Carnevalista“ bedacht. Das rheinische | |
Stimmungslied beweist seine Integrationskraft über politische Grenzen | |
hinweg, sogar die Stalinisten einer Polit-Sekte erweisen sich als | |
textsichere Reaktionäre. | |
Immerhin geht es im Lied um die Vergesellschaftung von alkoholischen | |
Getränken in einer antikapitalistischen Trinkgemeinschaft. Kaum ist ein | |
Kiosk in Sicht, wird das Ansinnen in die revolutionäre Tat umgesetzt. Auch | |
in meiner Arbeiterhand landet ein befreites Bier, und ich trinke das eine | |
oder andere mit. Man darf ja nie nachlassen im Kampf gegen den Faschismus. | |
Wieder versucht der Aktivist mit dem schadhaften Megafon, unverständliche | |
Forderungen einzubringen. „Hund statt Frau’n!“, höre ich jetzt heraus. W… | |
diskutieren das Anliegen in Kleingruppen, aber es findet nicht einmal unter | |
den mitgeführten Vierbeinern eine Mehrheit. | |
Die Kostümierten verschwinden auf halber Strecke in einer Brauchtumskneipe, | |
worauf die geschulten Kader der Polit-Sekte umstandslos vom Karnevals- zum | |
Partisanenlied schwenken, weil sich die Parteilinie geändert hat. Schon | |
bollert die Sambatruppe wieder los. Immerhin gelingt es den einheimischen | |
Schlagwerkern, durch ihr brüskes Spiel zu illustrieren, wie sehr unsere | |
Gesellschaft auf die Hilfe ausländischer Fachkräfte angewiesen ist. | |
## Fragen aus der Mottenkiste | |
Bei dem Versuch, mich von ihrer arg geradlinigen Militärsamba nicht zum | |
faschistoiden Marschtritt hinreißen zu lassen, stolpere ich über meine | |
eigenen Füße und fluche dabei sehr laut in ein Pianissimo der uralten | |
ÖTV-Zimbeln. Hoffnungsvoll richten sich die Augen der Demonstranten auf | |
mich. Offenbar hält man mich für den geeigneteren Agitator als das linke | |
Urgestein mit dem kaputten Megafon. Blöderweise bin ich sehr schlecht in | |
Protestieren. Jedenfalls kann ich nicht gut Parolen rufen, weil ich in | |
pathosgeeigneten Momenten zur Ironie neige. Als Beerdigungsredner und | |
Revolutionsführer bin ich eher eine Notlösung. Aber vielleicht ist heute | |
meine letzte Chance, mich wenigstens einmal als Ikone des Widerstands auf | |
die Barrikaden der Weltgeschichte zu wuchten. Ich skandiere also eine total | |
harmlose Frage aus der Mottenkiste der Agitationskunst. | |
„Wer hat uns verraten?!“, rufe ich, während die Perkussionisten zur | |
nächsten Ostgoten-Samba ansetzen. Seit letztem Mittwoch wird diese Frage | |
zur großen Erleichterung der deutschen Sozialdemokratie überwiegend mit | |
„Christdemokraten!“ beantwortet. Doch der Ruf der agitierten Massen verebbt | |
im Klanggewitter der Verdianer vom Planeten Orff. „Lymphdrainagen!“, | |
lautete er vermutlich nicht, obwohl ich genau das herausgehört habe. Aber | |
wie gesagt, ich verstehe heute echt nichts von Politik. | |
7 Feb 2025 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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