| # taz.de -- Klima im Wahlkampf: Gegenwind für den Klimaschutz | |
| > 2045 will Deutschland klimaneutral sein, fünf Jahre vor der ganzen EU. | |
| > FDP und Industrie stellen das infrage – und schaden damit sich selbst. | |
| Bild: Bloß nicht einknicken: Symbolbild einer beschädigten Windkraftanlage | |
| Berlin taz | Klimapolitisch ist dieser Wahlkampf eher von Rück- als von | |
| Fortschritten geprägt. Dass es so kommen würde, konnte man schon im | |
| November erahnen. Wenige Tage bevor Bundeskanzler [1][Olaf Scholz (SPD) | |
| seinen Finanzminister Christian Lindner (FDP) entließ], wurden | |
| [2][Vorschläge Lindners zur „Wirtschaftswende“] bekannt. Unter | |
| „Handlungsfeld 2“ steht dort: Ersetzen der nationalen durch die | |
| europäischen Klimaziele, also Klimaneutralität 2050 statt 2045. | |
| Die gleiche Forderung findet sich nun auch im Wahlprogramm der Liberalen. | |
| Die Union hat in ihrem Wahlprogramm Klimaneutralität 2045 „fest im Blick“, | |
| 2021 wollte sie sie noch „verbindlich umsetzen“. Im Dezember dachte der | |
| scheidende Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) | |
| zumindest laut darüber nach, die deutschen Klimaziele abzuschaffen. „Die | |
| Zieljahre sind nicht in Stein gemeißelt“, sagte er dem Handelsblatt. „Das | |
| europäische Ziel für Klimaneutralität liegt erst im Jahr 2050. Wenn | |
| Deutschland früher klimaneutral wird, könnten die anderen Länder in der | |
| Zwischenzeit tendenziell mehr CO2 ausstoßen.“ | |
| Das ist, so viel vorweg, weitgehend Quatsch. Für den Klimaschutz könnte die | |
| Forderung trotzdem fatal sein. Und auch für die deutsche Industrie. | |
| Zuerst zum Quatsch. In ihrem Wahlprogramm begründet die FDP ein späteres | |
| Klimaziel damit, dass energieintensive Industrien wie Chemie oder | |
| Stahlherstellung dann mehr Zeit zur Dekarbonisierung hätte. Aber das stimmt | |
| nur in der Theorie. Denn die Industrie ist Teil des Europäischen | |
| Emissionshandels (ETS), [3][Kronjuwel der EU-Klimapolitik.] Die Idee: Will | |
| ein Unternehmen eine Tonne CO2 ausstoßen, braucht es dafür ein Zertifikat. | |
| Von denen versteigert die EU aber nur eine begrenzte Menge, nämlich so | |
| viele, wie in diesem Jahr den EU-Klimazielen zufolge CO2 ausgestoßen werden | |
| darf. | |
| So ergibt sich der Preis, den Unternehmen für ihren CO2-Ausstoß zahlen | |
| müssen: Wollen sie viel ausstoßen, ist es teuer, wollen sie wenig | |
| ausstoßen, ist es billiger. Die Industrie bekommt kostenlose Zertifikate, | |
| damit sie nicht gegen außereuropäische Produzenten ins Hintertreffen gerät, | |
| die keinen CO2-Preis bezahlen. Aber kostenlose Zertifikate gibt es ab 2026 | |
| immer weniger. | |
| Klimaneutral will die EU zwar bis 2050 werden, aber leer wird der Topf mit | |
| den Zertifikaten wohl schon Ende der 2030er oder Anfang der 2040er sein. | |
| Denn im Topf ist nur so viel, wie Energie und Industrie für | |
| Klimaneutralität eben ausstoßen dürfen – und das reicht wahrscheinlich noch | |
| nicht einmal bis 2045. Die Unternehmen können auch Zertifikate kaufen und | |
| lagern. | |
| Wann das letzte Zertifikat benutzt werden darf, ist nämlich noch nicht | |
| geregelt. Aber so wie die Dekarbonisierung der Industrie aktuell läuft, | |
| werden die Unternehmen eher früher als später an ihre Reserven ranmüssen: | |
| Das Umweltbundesamt rechnet für 2045 immer noch mit 49 Millionen Tonnen | |
| CO2-Ausstoß aus der deutschen Industrie, rund ein Viertel ihrer derzeitigen | |
| Emissionen. | |
| Die Industrie muss deswegen sehr viel Geld in die Hand nehmen, um | |
| klimaneutral zu werden und nicht den teuren CO2-Preis zahlen zu müssen. | |
| „Ein Eigentor“, nennt Levi Henze die Gedankenspiele des ehemaligen | |
| BDI-Präsidenten Russwurm deswegen. Henze arbeitet für die Denkfabrik | |
| Dezernat Zukunft. | |
| ## Industrie schwächt Verhandlungsposition | |
| Wenn das offizielle Klimaziel um fünf Jahre verschoben würde, schwäche die | |
| Industrie ihre eigene Verhandlungsposition in Deutschland und Europa, wenn | |
| es um Hilfe bei der Dekarbonisierung geht – und sobald die Industrie keine | |
| kostenlosen Zertifikate mehr bekommt, wird das akut. „Aktuell gibt es keine | |
| großen Unterstützungsmaßnahmen auf europäischer Ebene“, sagt Henze, „un… | |
| Deutschland würde bei späterem Klimaziel die Förderung wohl eher geringer | |
| ausfallen.“ | |
| Ein späteres Klimaziel bringt der Industrie wegen des Emissionshandels | |
| nichts und schwächt vielleicht sogar ihre Verhandlungsposition. Auch für | |
| die Sektoren Gebäude und Verkehr wird ab 2027 ein Emissionshandel gelten. | |
| Das Ende von 80 bis 90 Prozent der deutschen Emissionen gibt also der | |
| europäische Emissionshandel vor, nicht das deutsche Klimaziel. Und der | |
| Rest? | |
| Der Rest sind Emissionen aus der Landwirtschaft und der Natur, die durch | |
| Viehhaltung und Dünger entstehen, aber auch wenn zum Beispiel Wälder | |
| abbrennen und CO2 emittieren. Zwar will die FDP auch für diese Bereiche | |
| einen Emissionshandel entwickeln, aber das ist unheimlich kompliziert: Für | |
| jeden Wald, jede Weide müsste erfasst werden, wie viel CO2 gebunden wird | |
| oder entweicht. Ob sich ein solcher Emissionshandel irgendwie umsetzen | |
| lässt, ist unter Expert*innen umstritten. Solange es ihn nicht gibt, ist | |
| hier jede von Deutschland eingesparte Tonne CO2 wirklich eine Tonne CO2 | |
| weniger in der Atmosphäre. Aber eben auch nur für 10 bis 20 Prozent des | |
| deutschen Treibhausgasausstoßes. | |
| „Symbolisch“ nennt Frauke Thies, Exekutivdirektorin der Denkfabrik Agora | |
| Energiewende, die Diskussion ums deutsche Klimaziel, schließlich sei es mit | |
| dem EU-Klimaschutzrahmen abgestimmt. Symbolisch – aber nicht ohne Folgen: | |
| Jede Schwächung des Klimaschutzes, auch jede symbolische, sorge für | |
| Verunsicherung, wie man am Rückgang der Wärmepumpenverkäufe sehe. | |
| „Planungssicherheit ist für die Industrie und die Menschen entscheidend und | |
| lässt sich durch ein stabiles regulatorisches Umfeld erreichen“, sagt | |
| Thies, und die leide durch solche Diskussionen. Außerdem sei Deutschland | |
| Klima-Vorreiter. „Auch im Hinblick auf die Klimaschutzanstrengungen anderer | |
| Länder ist es daher sehr wichtig, dass Deutschland den Kurs hält“, sagt | |
| Thies. | |
| In der EU wird gerade über die genauen Klimaziele für 2040 verhandelt. 90 | |
| Prozent Emissionsreduktion im Vergleich zu 1990 könnten dabei herauskommen, | |
| aber auch weit weniger ehrgeizige Ziele. Der ETS2 für Gebäude und Verkehr | |
| wird von Rechtsextremen und aus Polen, Tschechien und der Slowakei | |
| angegriffen. Das Verbrenner-Aus 2035 ist noch lange nicht in trockenen | |
| Tüchern. Allen ist klar: Um die Richtung der europäischen Klimapolitik wird | |
| derzeit verbissen gekämpft. Eine Streichung der deutschen Klimaziele würde | |
| als Zeichen verstanden werden. Das reiche Deutschland will sich nicht mehr | |
| anstrengen – warum sollten wir es tun? | |
| 14 Jan 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jonas Waack | |
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