# taz.de -- Porträts von Rineke Dijkstra in Berlin: Flüchtige Identitäten in… | |
> In der Berlinischen Galerie sind die Fotografien von Rineke Dijkstra zu | |
> sehen. Sie zeigen ein zärtliches und aufrührendes Portrait des Menschen. | |
Bild: Rineke Dijkstra, „Kolobrzeg, Poland, July 25, 1992“ | |
Alles fließt. Diese antike Weisheit weckt zugleich eine Urangst, denn sie | |
besagt auch: Nichts ist von Dauer. Bilder versprechen, den Strom des | |
Vergehens anzuhalten, indem sie ihren Motiven Beständigkeit verleihen. Vor | |
allem Fotografie gilt als festhaltende Kunstform schlechthin. Die Arbeiten | |
der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra jedoch zeigen keine | |
zeitlosen Dokumente. Umgekehrt machen sie Zeit gnadenlos sichtbar. „Still – | |
Moving. Portraits 1992 – 2024“, so heißt eine umfangreiche Retrospektive | |
[1][in der Berlinischen Galerie]. Der mehrdeutige Titel charakterisiert ihr | |
Werk vortrefflich, denn es changiert lebhaft zwischen Stillstellung und | |
dramatischer Bewegung. | |
Im Mittelpunkt stehen Dijkstras [2][Portraitserien], deren raffinierte | |
Ideen über Konzeptkunst weit hinausgehen. Manche der Arbeiten begleiten | |
Menschen über Jahre hinweg, andere halten das ganze Leben in einem | |
einzigen, angespannten Augenblick fest. Die Zeitläufte werden so zum | |
Protagonisten, wobei die Werkgruppen die vermeintliche Stabilität | |
menschlicher Identität durchkreuzen. | |
So sehen wir einen jungen Mann am Tag seines Eintritts in die französische | |
Fremdenlegion – vor und nach der obligatorischen Kopfrasur. Mehrfach | |
lichtet Dijkstra ihn in den folgenden zwei Jahren ab. Binnen kurzem ist er | |
kaum wiederzuerkennen, in seine weichen Gesichtszüge hat sich militärische | |
Härte eingeprägt. | |
Oder wir begleiten ein Mädchen aus einer Asylunterkunft beim Älterwerden: | |
Aus dem schüchternen Kind und der unsicheren Teenagerin wird sukzessive | |
eine selbstbewusste Frau. Einschneidend die Geburt ihres Kindes, ein Motiv, | |
das Dijkstra fasziniert. In anderen Portraits hält sie Frauen und ihre | |
Neugeborenen unmittelbar nach der Entbindung fest, nackt und isoliert vor | |
die Kamera gestellt. Strapazen sind ihnen anzusehen, zugleich | |
Erleichterung, Liebe und Glück. | |
## Selbsterkundungen der Kinder | |
Jede Geburt ist ein Neuanfang. Aber auch gewöhnlichere Augenblicke können | |
etwas Neues in die Welt bringen. Auf ergreifende Weise zeigt eine | |
Videoarbeit von 2009 britische Schulkinder bei der Betrachtung von Picassos | |
Gemälde „Weeping Woman“. Anfangs zögerlich, ringen sie nach Worten, ihre | |
Gesichter spiegeln die Mühe, das Gesehene zu begreifen. Doch irgendwann | |
sprudeln ihre Gedanken hervor. Ängste und Verunsicherung hört man, aber | |
auch ihr Staunen und abenteuerliche Assoziationen. Die Deutungsversuche der | |
Kinder muten wie Selbsterkundungen an: ästhetische Einsichten mit – so | |
hofft man – fortdauernder Wirkung. | |
Zu den wohl bekanntesten Arbeiten Dijkstras zählt ihre Strand-Serie. Seit | |
den 1990ern fotografiert sie Heranwachsende an Küsten weltweit, darunter | |
auch in Odessa. Unwillkürlich drängt sich beim Anblick der Bilder aus der | |
Ukraine die Frage auf, was in Zeiten des russischen Angriffskriegs wohl aus | |
jenen Kindern und Jugendlichen geworden ist. Allerdings wirken die Modelle | |
schon im Augenblick des Ablichtens keineswegs unbeschwert. Bereits den | |
Jüngsten ist anzusehen, dass sie mit ihren Körperbildern hadern. | |
Gleichzeitig aber sind diese Bilder weit mehr als Kritik am Körperkult. | |
Kunstvoll spielen Blicke und Posen, Badekleidung, Sand und Beton sowie die | |
Färbungen von Meer und Himmel zusammen. Man sieht die Aufnahmen lange an, | |
lässt den Blick zum unscharfen Horizont schweifen. Fast so, als läge man | |
selbst am Strand. | |
Ihre Sogwirkung verdanken die Bilder einer außergewöhnlichen Technik. | |
Dijkstra fotografiert mit Großformat-Plattenkamera, mit der sie ihre | |
Modelle frontal aufnimmt. Der Blick ins Objektiv erfordert von den Modellen | |
besondere Konzentration, denn die Fotografin steht neben ihrem Gerät. Zudem | |
setzt sie auch am Tag Blitzlicht ein, was die Motive dezent entrückt. Auf | |
diese Weise entstehen Fotografien von erstaunlicher Detailgenauigkeit mit | |
einer minutiös durchdachten Komposition. Allein schon deshalb sind es keine | |
alltäglichen Augenblicke, sondern artifizielle Situationen. Etwas von | |
dieser Künstlichkeit sickert in den Ausdruck der Modelle ein. Ihre Haltung | |
scheint selten natürlich, bisweilen eher skulptural. Das Geschehen findet | |
oft unter freiem Himmel statt, wodurch keine intime Stimmung aufkommt. Auch | |
die Modelle inszenieren sich selbst wie Stars und schlüpfen in ungewohnte | |
Rollen, was Charakterzüge enthüllt, die sonst verborgen blieben. | |
Gleichwohl zeigt sich Dijkstra weniger am Künstlichen als vielmehr am ganz | |
normalen Leben interessiert. Mit diesem inszenierten Realismus stehen | |
Dijkstras Arbeiten in der Tradition von Vermeer und einem authentischen | |
Interesse an sozialer Wirklichkeit. Privates wird auf die öffentliche Bühne | |
der Kunst gehoben. Damit wird es aber nicht nur zum Politikum, denn | |
vordergründig politisch sind Dijkstras Arbeiten freilich nicht. Was die | |
Bilder einfangen und inszenieren, reicht tiefer: alltägliches Leben, das in | |
den Bildern weiterlebt. Die Biografien der abgebildeten Personen verdichten | |
sich zu fotografischen Augenblicken. Zahllose Erinnerungen und Erwartungen | |
zeichnen einen jeden Menschen, ob bewusst oder unbewusst. Gerade das | |
Unbewusste kann die Fotografie sichtbar machen. | |
## Panzer der Coolness | |
Gemessen am echten Leben erscheinen Fotografien trotz alledem als eine | |
ungeheuerliche Reduktion, die entscheidende Details missen lässt. Die im | |
Abendlicht glitzernden Meeresoberflächen aus Dijkstras Strand-Serie mögen | |
zunächst sogar schöner erscheinen als der Anblick des realen Meeres, wenn | |
die Aufnahme geschickt eine unansehnliche Umgebung ausblendet. Aber es | |
fehlen doch Seeluft und das Wellenrauschen, Möwenrufe und der Trubel | |
anderer Strandbesucher. Eine Enttäuschung, denn die Sehnsucht nach dieser | |
Lebensfülle können Fotos nicht befriedigen. | |
Die Lücke zwischen Bild und Wirklichkeit enttäuscht aber nicht nur den | |
Blick. Sie reichert ihn auch an. Besonders eindrücklich gelingt das | |
Dijkstra in ihren Club-Aufnahmen aus Liverpool. Jugendliche haben sich hier | |
zum Ausgehen herausgeputzt. Im nüchternen Blick der Kamera schimmert unter | |
dem Panzer ihrer Coolness Unsicherheit, aber auch etwas Unfertiges durch. | |
Noch ist nicht entschieden, wer oder was aus ihnen werden wird. Im Raum | |
hinter diesen Fotos zeigt die Berlinische Galerie Video-Loops, die | |
ebenfalls zur Serie gehören. Hier sieht man die Jugendlichen beim Tanzen. | |
Mehrfach bewegen sie sich zum selben Track, ein flüchtiges Spiel zwischen | |
Anpassung und Abweichung. | |
Dijkstras so still und inszeniert daherkommende Arbeiten bringen die | |
Klischees unseres Alltagsverstands ins Wanken. Gehört die Identität einer | |
Person zum modernen Selbstverständnis – nur wenn wir dieselbe Person | |
bleiben, gelten wir als geschäfts-, rechts- und sozialfähig –, so zeigen | |
uns diese Bilder, dass kein Mensch ein statisches Wesen ist. Vielmehr sind | |
wir allesamt Prozesse. Dijkstra visualisiert diese Transformationen mit | |
analytischer Prägnanz. Das lässt uns unser Gegenüber mit anderen Augen | |
sehen, mit einem Blick, der begreifen möchte und der nicht einverstanden | |
ist, sondern irritiert. Ein gereiztes Auge jedoch verlangt nach | |
Augentropfen – oder aber danach, zu beheben, was die Irritation auslöste. | |
2 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Martin Mettin | |
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