# taz.de -- Realistische Malerei in Hamburg: Ein katholisches Glühen | |
> Die Hamburger Deichtorhallen zeigen eine Retrospektive des Schweizer | |
> Malers Franz Gertsch. Sind seine riesigen Gemälde wirklich so | |
> hyperrealistisch? | |
Bild: Franz Gertsch: Medici 1971/72 | |
Gemälde von Franz Gertsch haben immer etwas Skandalisierendes. Aber zwanzig | |
von den bunten Großformaten, wie sie jetzt in den Hamburger Deichtorhallen | |
hängen, sind kaum zu fassen in ihrer hedonistisch getriebenen Radikalität. | |
Man muss sich ein Lieblingsgemälde suchen, eines der ins Riesige | |
projizierten Gesichter oder eines der Gruppenbilder, und sich darin | |
versenken. Dann wird das eigene Sehen zur Arbeit, die man, im | |
preußisch-puritanischen Sinn, irgendwann erledigt hat. Was nun gleich zu | |
der Frage führt, wo das katholische Glühen [1][in Franz Gertschs Gemälden] | |
eigentlich herkommt. Jedenfalls hatte er, der 2022 im Alter von 92 Jahren | |
starb, eine sehr lebendige Beziehung zur fleischlichen Welt. | |
Folgt man der pädagogischen Beschilderung seiner Retrospektive in Hamburg, | |
hat er sich zunächst an gefundenen Fotografien versucht, dann eigene | |
erstellt und diese dann bis ins letzte Detail ausgemalt. Dies ist auch die | |
Illusion, die seine riesigen Gemälde, beginnend 1971, nahelegen. Aber es | |
kann nicht sein. Denn Kleinbildfotografien, schon vergrößert auf A1, geben | |
deutlich ihr Korn preis. Die Wirkung ist dieselbe wie bei Pixeln heute: Je | |
mehr die kleinste Einheit in Erscheinung tritt, desto verschwommener wird | |
das Abbild. | |
Die Beziehung seiner Malerei – oft nur mit gewöhnlicher Wandfarbe auf | |
unpräparierter Leinwand – zur Fotografie ist vampirhaft. Sie saugt das | |
Fotografische auf und nährt sich davon. Von der Alltagsfotografie nimmt | |
sie: die Kadrierung, den Moment, die Zeugenschaft und die Zärtlichkeit. | |
Zugegeben, die Zärtlichkeit gehört nicht zu einer Theorie der | |
[2][Fotografie]. In der Ergründung von Details bleibt der Maler nur vage in | |
der fotografischen Logik, er folgt der Vermutung, was wohl mit einer Linse | |
bei diesem Licht auf Kodachrome gebannt hätte werden können, stilistisch | |
bis in das abstrakteste Flirren. Das Malerische daran ist die komplette | |
Camouflage. | |
Interessant, dass es nicht gleich klappt, obwohl die drei kleinen Kinder in | |
der Badewanne in ihrer häuslichen Intimität auf dem Bild „Brecht, | |
Hanne-Lore, Silvia“ ungeheuer gut getroffen sind. Das Hochformat scheint | |
ein Hindernis zu sein. Noch mehr [3][aber das Familiale]. Das ist eine | |
seltsame Sache in der Geschichte der Malerei, bei Velázquez, [4][Manet] | |
oder [5][Beckmann] hebt das große Projekt erst ab, wenn eine bestimmte | |
soziale Distanz gefunden ist, nicht mehr persönlich und noch nicht | |
offiziell. Der Familienvater Gertsch findet solch eine Distanz in der | |
Künstlerboheme. Deren Dreh- und Angelpunkt sieht er in einem | |
offensichtlich vermögenden, sehr jungen Künstler mit einem weichen, zu | |
gepamperter Gleichgültigkeit neigenden Gesicht: Luciano Castelli. | |
## Gertsch ist gar nicht Pop | |
Jetzt sind es Querformate, so etwas wie Plakate-als-Fotos-als-Gemälde, die | |
ein mediales Motiv bei Andy Warhol geliehen haben, das des „Superstars“. In | |
„Medici“, vier mal sechs Meter, erscheinen fünf langhaarige Männer hinter | |
einer Holzbarriere. Ihre Ausrichtung im Halbprofil, ihre Stimmung und | |
Ähnlichkeit gibt ihnen etwas Jüngerhaftes. Superstar Luciano Castelli | |
wächst auf den Foto-Pompgemälden in seine Rolle. Er ist zwölf Jahre jünger | |
als Gertsch, schwebend zwischen Kunst und Musik, der spirituelle Anker | |
einer WG in einer abgewrackten Villa in Luzern. Ausgerechnet Luzern! Als er | |
dann 1978 in Westberlin am Moritzplatz auftauchen wird, ist es mit seiner | |
Zweitkarriere als Stilikone in Franz-Gertsch-Gemälden vorbei. | |
[6][Patti Smith, in den 70ern mit ihren Gedichtlesungen] ungefähr so | |
erfolgreich wie Troubadix beim Singen, wird in eine Kölner Galerie gelockt, | |
ärgert sich über den Blitzlichtfotografen, ist dabei, ein Blatt Poesie zu | |
zerknüllen: Noch einmal drückt Gertsch auf den Auslöser. So entsteht die | |
Vorlage für sein riesiges Gemälde mit Smith links im Bild und viel weißer | |
Wand rechts davon. | |
Gertsch selbst ist gar nicht Pop, nicht laut und flüchtig, sondern ganztags | |
ein besessener Diener der Kunst in einem riesigen Atelier in der | |
deutschsprachigen Schweiz, mit Paintbrush und Pinsel seine Motive | |
zusammenflickend. Wie man an seiner nächsten Phase sieht, den | |
Holzschnittdrucken auf Japanpapier, ist ihm das Sujet Natur. Dass am Ende | |
eines derartig akribischen Prozesses alles atmet, ist mehr als | |
unwahrscheinlich. Aber das tut es. Vielleicht ließe sich seine Arbeit mit | |
der eines Romanciers vergleichen. Das Modewort der Diskursverwalter heißt | |
ja auch immer noch „lesen“. | |
24 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] /!357104&s=Franz+Gertsch&SuchRahmen=Print/ | |
[2] /Portraets-von-Rineke-Dijkstra-in-Berlin/!6057930 | |
[3] /Analyse-des-gegenwaertigen-Kapitalismus/!5806874 | |
[4] /Gespraech-mit-US-Kuenstler-Henry-Taylor/!6007708 | |
[5] /Mit-Fehlern-behaftete-Kunstgeschichte/!5927800 | |
[6] /Neues-Buch-von-Saengerin-Patti-Smith/!5686692 | |
## AUTOREN | |
Ulf Erdmann Ziegler | |
## TAGS | |
Kunst | |
Zeitgenössische Malerei | |
zeitgenössische Fotografie | |
Pop | |
Ausstellung | |
Kunsthalle Hamburg | |
Fotografie | |
Berlin Ausstellung | |
Nachruf | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ausstellung „Illusion“ in Hamburg: Das Sein als Anschein | |
Hamburgs Kunsthalle führt in der Ausstellung „Illusion“ durch | |
Kunstgeschichte. Das ist amüsant, auch wenn Werke zu Religion und | |
Sozialutopie fehlen. | |
Italienischer Fotograf gestorben: United Colors of Oliviero Toscani | |
Mit Werbekampagnen für Benetton löste Oliviero Toscani in den 1990er Jahren | |
Debatten aus. Jetzt ist der Fotograf im Alter von 82 Jahren gestorben. | |
Porträts von Rineke Dijkstra in Berlin: Flüchtige Identitäten in achtzig Bil… | |
In der Berlinischen Galerie sind die Fotografien von Rineke Dijkstra zu | |
sehen. Sie zeigen ein zärtliches und aufrührendes Portrait des Menschen. | |
Nachruf auf Claes Oldenburg: Allein mit Tintenfass | |
Er senkte die Schwelle vom Atelier zur Straße, brachte Ironie ins Spiel der | |
Skulptur. Claes Oldenburg war der Grübler der amerikanischen Pop-Art. |