| # taz.de -- Obdachlosigkeit in New York: Eine moralische Verletzung | |
| > Deutschland und Europa setzen auf „Housing First“, um Obdachlosigkeit zu | |
| > bekämpfen. In New York hat sich das Modell nicht durchgesetzt. Was können | |
| > wir daraus lernen? | |
| Bild: Die Fifth Avenue in New York City zur Weihnachtszeit: Eine obdachlose Fra… | |
| New York, Washington und Berlin taz | Auf dem Gehsteig liegt ein Mann. Oder | |
| eine Frau? Ein Mensch jedenfalls. Körper und Gesicht in einem grauen | |
| Schlafsack verborgen. Dieser Mensch fällt auf. Selbst denen, die sich in | |
| New York gewöhnt haben an die vielen, die in Schlafsäcke oder Decken | |
| gehüllt auf den Wegen liegen. Denn er liegt quer zu den Fußgänger*innen, | |
| die halb an ihm vorbei und halb über ihn hasten. Es sind sehr viele | |
| Fußgänger*innen, das hier ist Lower Manhattan an einem Vormittag, nahe der | |
| Wall Street. Sie alle müssen irgendwohin, irgendwo sein. Und dieser Mensch | |
| liegt ihnen quer. | |
| Es fällt mir schwer, einfach weiterzugehen. Hier in New York und auch in | |
| Berlin, wo ich seit einigen Jahren lebe. Wie fühlt es sich an, zu den Füßen | |
| der anderen zu liegen? Wie hält ein Mensch das aus, ohne vor Angst zu | |
| vergehen? „Nur mit Drogen“, sagt ein Bekannter, der selbst obdachlos war. | |
| „Mit viel Alkohol und anderem, was dich betäubt.“ | |
| Obdachlosigkeit gehört zum Bild von New York City. Am einen Ende Karrieren, | |
| Bankkonten, Lebensstile und Häuser, die am Himmel kratzen. Und am anderen | |
| Ende Menschen, die, als solche kaum mehr erkannt, am Boden leben; von dem, | |
| was ihnen als Almosen zugebilligt wird. Vielleicht sind sich die Extreme | |
| nirgends so nah wie in Manhattan. Als ob sich das obere und das untere Ende | |
| des American Dream hier berühren. | |
| An diesem Ort wurde Anfang der Neunziger ein Konzept geboren, das die | |
| Obdachlosenhilfe auf den Kopf – oder besser gesagt zurück auf die Füße – | |
| stellt. Housing First: Zuerst ein Zuhause. Ein revolutionäres Konzept, das | |
| die Bedürfnisse und Möglichkeiten obdachloser, psychisch erkrankter und | |
| drogensüchtiger Menschen in den Fokus stellt. | |
| ## Eine chronische Krankheit der Metropolen | |
| Doch ausgerechnet in New York, wo Housing First herkommt, gibt es das | |
| Projekt jetzt nicht mehr. In Lower Manhattan und anderswo lässt es sich | |
| kaum einen Block gehen, ohne einem Menschen zu begegnen, der ganz | |
| offensichtlich kein Zuhause hat. Nahe dem Empire State Building liegen sie | |
| in den frühen Morgenstunden zu Dutzenden auf den Gehwegen. „Unsheltered“ | |
| nennen das die Amerikaner*innen. Oder „rough sleeping“ – raues Schlafen. | |
| Obdachlosigkeit ist die chronische Krankheit dieser und fast aller | |
| Metropolen. Als Redakteurin für Soziales habe ich schon einiges darüber | |
| geschrieben, vor allem über die Zustände in Berlin. Auch weil es mir | |
| schwerfällt, vorbeizugehen. | |
| In Berlin, in Deutschland, in halb Europa gilt Housing First inzwischen als | |
| zentral, um Obdachlosigkeit zu überwinden. Dies bis 2030 in aller | |
| Ernsthaftigkeit zu versuchen, haben die Länder der Europäischen Union | |
| einander 2021 in der Lissabonner Erklärung versprochen. Vielleicht, so | |
| dachte ich, lässt sich am Ort des Beginns und des Scheiterns und mit den | |
| Leuten, mit denen alles anfing, ergründen, wie Housing First wirklich | |
| gelingen kann und ob es der Schlüssel zur Genesung ist. | |
| Sam Tsemberis ist der erste, mit dem ich spreche. Vor einigen Monaten hat | |
| das Time Magazine den griechisch-kanadischen Psychologen zu einem der 100 | |
| einflussreichsten Menschen der Welt gekürt. Sam Tsemberis ist der Erfinder | |
| von Housing First. | |
| „Es geht nicht nur um die Obdachlosen, es geht um uns.“ Das ist einer der | |
| ersten Sätze, die Tsemberis zu mir sagt. In den Achtzigern arbeitete er in | |
| der Psychiatrie des New Yorker Bellevue Hospitals, einem der größten | |
| Krankenhäuser der USA, mit Menschen, die als schwer krank gelten. Er wohnte | |
| nur ein paar Blöcke von der Klinik in Midtown Manhattan entfernt; auf dem | |
| Weg traf er seine Patient*innen in zunehmender Verwahrlosung auf der | |
| Straße wieder. „Sie trugen zum Teil noch ihren blauen Krankenhauspyjama, | |
| absolut verstörend“, sagt Tsemberis. Er verließ das Krankenhaus, um mit | |
| obdachlosen Menschen zu arbeiten. In einem Van besuchten er und zwei | |
| Kollegen die Menschen auf der Straße. | |
| ## Was brauchen Menschen auf der Straße? | |
| Viel anzubieten hatten sie nicht: Die Psychiatrie oder eine der | |
| Massenunterkünfte für Obdachlose, mit hunderten von Betten. Kaum | |
| auszuhalten für einen stabilen Menschen, unvorstellbar für jene mit | |
| Ängsten, Panikattacken, Wahnvorstellungen. Ich muss an Berlin denken, als | |
| Tsemberis das erzählt. Auch hier harren viele obdachlose Menschen noch in | |
| der bittersten Kälte aus: Bloß nicht in die Notunterkunft. | |
| Die bisherigen Ansätze seien einfach nicht gut gewesen, sagt Tsemberis. | |
| Herumzulaufen, mit den Leuten zu reden und zu entscheiden, welche Hilfen | |
| gut für sie sind. In einem Hilfesystem, in dem Obdachlose sich erst | |
| beweisen mussten: Therapie machen, Medikamente regelmäßig nehmen, „clean | |
| werden“, dann vielleicht irgendwann eine Wohnung. „Wir mussten anders | |
| arbeiten, also haben wir die Leute einfach gefragt, was sie brauchen.“ | |
| Das klingt so unerhört simpel. Ist es nicht das, was | |
| Sozialarbeiter*innen immer tun? Und ist es nicht so, dass manche | |
| Menschen, gerade die psychisch erkrankten, diese Frage nicht mehr | |
| beantworten können? Tsemberis sagt: „Wenn man obdachlose Menschen ernsthaft | |
| fragt, was sie brauchen, dann kommt eine Antwort fast immer zuerst“ – egal, | |
| ob diese Menschen Stimmen hören, suchtkrank sind oder völlig verwahrlost | |
| aussehen. „Eine Wohnung.“ Housing First. So simpel ist das. Dieses | |
| Bedürfnis erfüllte nur niemand. | |
| In einem Tagestreff in Midtown Manhattan, in dem obdachlose Menschen sich | |
| aufwärmen, etwas essen, ihre Wäsche waschen konnten, begann 1992 die Arbeit | |
| der Organisation Pathways to Housing, die Geburtsstunde von Housing First. | |
| Die Menschen brauchten Wohnungen, und Sam Tsemberis und sein Team waren | |
| gewillt, sie ihnen zu beschaffen. So wie zuvor eine Decke oder eine warme | |
| Mahlzeit. | |
| Nun glaube bitte keine*r, man drückt einem drogenabhängigen Menschen, der | |
| seit Jahren auf der Straße lebt, einfach einen Schlüssel in die Hand. Diese | |
| Mieter*innen sind zum Teil schwierig, unbeliebt bei Vermieter*innen. | |
| Dass überhaupt so viele von ihnen auf der Straße gelandet sind, liegt | |
| daran, dass im aufstrebenden New York der Siebziger und Achtziger die | |
| lausigen, heruntergekommenen Appartements verschwanden, die für wenig Geld | |
| jede*n aufnahmen. Die Vermieter*innen fanden schlicht lukrativere Wege | |
| der Vermarktung – und das würde sich in den kommenden Jahrzehnten nie mehr | |
| ändern, nur verschärfen. | |
| ## Eine einfache Rechnung | |
| Parallel hatte die Reagan-Regierung in den Achtzigern dem Bau von | |
| Sozialwohnungen eine radikale Absage erteilt und Bundesmittel gestrichen. | |
| Und die Psychiatrien, die noch in den Sechziger Jahren Menschen mit | |
| psychischen Erkrankungen dauerverwahrten, reformierten sich dank der | |
| Antipsychiatriebewegung. Ohne Lebensort übrig blieben allerdings die, die | |
| kein soziales Netz aus Familie und Freund*innen auffing. | |
| ‚Housing First‘ sei nicht ‚Housing Only‘, sagt Tsemberis. Die Menschen,… | |
| mit Pathways to Housing eine Wohnung fanden, wurden auf unbestimmte Zeit | |
| begleitet. Das Geld für die Miete und für die sozialpsychologische | |
| Betreuung kam von der Stadt. Tsemberis macht eine einfache Rechnung auf, | |
| die auch in Europa gern bemüht wird: Ein Platz in einer Psychiatrie kostet | |
| rund 300.000 US-Dollar im Jahr und bringt meist keine nachhaltige | |
| Veränderung. „Für das gleiche Geld können zehn Menschen mit Unterstützung | |
| in ihrer eigenen Wohnung leben“, sagt Tsemberis. Das ließ sich von der | |
| kommunalen bis zur nationalen Ebene sowohl demokratischen als auch | |
| republikanischen Politiker*innen verkaufen. | |
| New York, diese Stadt mit tausenden obdachlosen Menschen – wie viele davon | |
| kann Housing First in Wohnungen bringen? Es sei nie um Zahlen gegangen, | |
| sagt Tsemberis. Jedenfalls nicht für ihn. „Ich wollte wissen, ob und wie | |
| der Ansatz funktioniert.“ Von Anfang an wurde das Projekt wissenschaftlich | |
| begleitet. Eine der langjährigen Forscher*innen ist Ana Stefančić von | |
| der Columbia University. | |
| Es sei fast ironisch, sagt Stefančić. Eine Art Missverständnis. Wenn es | |
| heute um Housing First gehe, dann vor allem um die Wohnungen und um die | |
| Beendigung von Obdachlosigkeit. Dabei sei das doch der einfachste Teil. | |
| „Wenn wir Obdachlosigkeit beenden wollten, dann könnten wir das einfach | |
| tun“, sagt Stefančić. Eine Frage von politischen Entscheidungen, eine reine | |
| Abwägung in wohlhabenden Gesellschaften. Ich muss an Finnland denken. Bis | |
| 2027 sollen dort alle Langzeitwohnungslosen mit Wohnungen versorgt sein, | |
| die Finnen sind schon jetzt sehr nah dran. [1][Auch sie nennen das Housing | |
| First und sind damit so erfolgreich, dass manche denken, da käme das | |
| Konzept her.] | |
| ## Die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben | |
| Die Finnen haben über alle politischen Lager hinweg entschieden, keine | |
| Wohnungslosigkeit mehr hinzunehmen. Sie schließen die | |
| Wohnungslosenunterkünfte und bieten den Menschen stattdessen Appartements | |
| an. Absolut bemerkenswert ist das. Anders als im New Yorker Modell ist aber | |
| der Ausgangspunkt die Versorgung Wohnungsloser mit Wohnungen, nicht die | |
| sozialpsychologische Begleitung obdachloser Menschen. Gerade mit der Gruppe | |
| der psychisch schwer Erkrankten haben sie in Finnland ihre Probleme. | |
| In New York und in ihrer Forschung, erzählt Stefančić, sei es immer darum | |
| gegangen, ob und wie Housing First für diese Menschen die Chancen auf ein | |
| erfüllteres Leben erhöhen kann. Die fehlende Wohnung ist das | |
| Offensichtlichste, was dem im Wege steht. Aber bei weitem nicht das | |
| einzige. 242 Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und | |
| Drogenkonsum hatten in den ersten fünf Jahren über Pathways to Housing | |
| eine Wohnung in New York gefunden. | |
| Über 80 Prozent lebten auch noch ein Jahr später darin. Das Projekt war | |
| deutlich erfolgreicher als vergleichbare Initiativen. Es war der Beweis, | |
| der inzwischen noch viele Male erbracht wurde: Dass die Menschen, denen man | |
| es am wenigsten zutraut, an denen wir auf der Straße vorbeigehen und allzu | |
| selten in deren Gesichter schauen, die meist schon als Kinder nicht viel | |
| anderes als Vernachlässigung erlebt haben, dass es für diese Menschen mit | |
| der richtigen Unterstützung Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben gibt. | |
| Warum das so wichtig ist – für uns genauso wie für diese Menschen – | |
| ergründe ich mit Kim Hopper. Hopper ist Anthropologe, an der Columbia | |
| University forscht und lehrt er zu dem, was den Menschen zum Menschen | |
| macht. Mit ihm, so hörte ich immer wieder bei meiner Recherche, müsse ich | |
| unbedingt sprechen, wenn es um Obdachlosigkeit in New York geht. | |
| „Weil ich einer der Dinosaurier bin“, sagt Hopper. Bereits Ende der | |
| Siebziger, noch als Student, war er in das legendäre Gerichtsverfahren | |
| verwickelt, das 1981 zu New Yorks „right to shelter“ – dem Recht | |
| obdachloser Menschen auf Unterbringung – führte. Dieses Recht wurde zwar | |
| kürzlich für erwachsene Migrant*innen beschränkt, aber es bleibt bis | |
| heute bemerkenswert in einem Land, in dem anderswo ganze Zeltstädte voller | |
| obdachloser Menschen existieren. | |
| ## Das bittere Ende des American Dream | |
| „Aber schon zehn Jahre später waren wir frustriert“, sagt Hopper. Zwar gab | |
| es in der ganzen Stadt Notunterkünfte, aber ein „shelter“ ist kein Zuhause. | |
| Es blieb ein Verharren in Notlösungen, die aus Obdachlosigkeit nur | |
| Wohnungslosigkeit machten. Und mit der eben die Menschen, für die | |
| Notunterkünfte nicht in Frage kamen, auf den Straßen verwahrlosten. Als | |
| junger Mann, frisch in New York, erzählt Hopper, sei er erst entsetzt | |
| gewesen über die Zustände und dann auch abgestumpft. Vielleicht ist | |
| Obdachlosigkeit doch ein unvermeidbares Großstadtphänomen? Als | |
| Wissenschaftler, der mit obdachlosen Menschen und psychisch Erkrankten | |
| arbeitet, habe er dann begriffen, dass der Fehler nicht bei diesen Menschen | |
| liegt, sondern in deren Behandlung. | |
| Bis heute denken viele anders, und vielleicht ist das der wahre Grund, | |
| warum wir Obdachlosigkeit überhaupt hinnehmen können. In den Vereinigten | |
| Staaten ist es eben das bittere Ende des American Dream. Diese Menschen | |
| hätten es einfach nicht geschafft, sich nicht genug angestrengt, seien faul | |
| oder schwach. Auch in Berlin habe ich ähnliche Argumente gehört, die uns | |
| die Verantwortung vom Leib halten. Als hätten alle die gleichen | |
| Möglichkeiten, es „zu schaffen“. Menschen, die in Heimen aufwuchsen, | |
| Missbrauch erfahren haben, als junge Erwachsene trotz aller Traumatisierung | |
| sich selbst überlassen sind. | |
| Nicht alle werden psychisch krank. Und nicht alle landen auf der Straße. | |
| Aber es sind fast immer die mit den wenigsten Chancen von Kindheit an. Die, | |
| für die die Gesellschaft schon in frühen Jahren nicht die passende Hilfe | |
| gefunden hat. Die aus unaushaltbaren Zuständen fliehen, um irgendwie zu | |
| überleben. Obdachlosigkeit ist wie eine Störungsmeldung, sagt Hopper. Eine | |
| verlässliche Anzeige für soziale Probleme in einer Gesellschaft. | |
| „Jedes Mal, wenn wir an einem Menschen, der ganz offensichtlich Hilfe | |
| braucht, vorbeigehen, ohne zu helfen, passiert etwas in unserem Körper“, | |
| sagt Hopper. Eine schmerzvolle, unbewusste Botschaft, selbst wenn wir | |
| Obdachlosigkeit ablehnen. Eine „moralische Verletzung“, nennt es Hopper. | |
| Als in den Siebzigern und Achtzigern in New York Obdachlosigkeit immer | |
| sichtbarer wurde, hätten die Menschen noch aufgestöhnt – unmöglich könne | |
| eine zivilisierte Gesellschaft auf diese Weise leben! „Und 40 Jahre später | |
| leben wir noch immer damit“, sagt Hopper. Wie das sein kann und welchen | |
| Preis wir dafür zahlen, diskutiert der Anthropologe in einem seiner | |
| nächsten Seminare. | |
| ## Keine bezahlbaren Wohnungen | |
| Housing First in New York verfolgte erfolgreich eine andere, eine | |
| menschliche Perspektive. Es hatte seine Blütezeit zwischen Mitte der | |
| Neunziger und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Dann begannen die Probleme. | |
| Er habe die Organisation in die Hände der falschen Leute gelegt, sagt | |
| Tsemberis. Die bezahlten die Mieten nicht rechtzeitig, die | |
| Vermieter*innen kündigten die Verträge auf, die staatlichen Zuschüsse | |
| blieben aus. 2015 meldete Pathways to Housing New York Insolvenz an. Der | |
| Organisation sei es nicht gelungen, das New Yorker System zu ändern, sagt | |
| Tsemberis. Heute gibt es zwar noch Projekte, die mit Housing First werben. | |
| Aber das ganze System der Obdachlosenhilfe müsse sich an die Idee von | |
| Housing First anpassen, um nachhaltig zu sein, sagt auch Wissenschaftlerin | |
| Stefančić. „Das ist in New York nie passiert.“ | |
| Kim Hopper sagt, das Modell könne nur mit vier Erfolgsfaktoren überleben: | |
| Eine verlässliche sozialpsychologische Betreuung für die Klient*innen, | |
| zuverlässige Mietzahlungen, Rückendeckung für die Mieter*innen bei den | |
| Vermieter*innen. Und vor allem: Ausreichend kleine und bezahlbare | |
| Wohnungen. Das, sagt Hopper, sei der wesentliche Punkt, an dem New York und | |
| andere US-amerikanische Städte inzwischen scheiterten. „Angesichts des | |
| allgemeinen Zustands des Wohnungswesens in den USA könnte die große Zeit | |
| für Housing First hier vorbei sein.“ Selbst wenn noch ein paar Wohnungen | |
| für die Ärmsten der Armen aus dem System gewrungen werden: Ohne | |
| tiefgreifende Veränderungen im Wohnungswesen, sagt Hopper, würden immer | |
| wieder Obdachlose nachkommen. | |
| Immerhin hat das Konzept Housing First schon früh Ableger, den ersten in | |
| der Hauptstadt Washington D.C., wo Pathways to Housing bis heute existiert | |
| und seit 2004 rund 900 Menschen auf ihrem Weg aus der Obdachlosigkeit | |
| unterstützt. Im Laden einer Fastfoodkette treffe ich hier auf den | |
| 46-jährigen Jamal. In der blauen Pathways-Jacke sitzt er an einem der | |
| hinteren Tische und wartet. Mit rund 20 Obdachlosen kommt er so jede Woche | |
| ins Gespräch. Sie wissen, dass er hier sein wird. | |
| Jamal lebte vor 12 Jahren noch selbst auf der Straße. „Drogen und all das | |
| Zeugs“, sagt er. Jamal hat einen langen Weg hinter sich, nichts davon war | |
| einfach. Aber er hat Unterstützung gehabt. Seit drei Jahren arbeitet er für | |
| Pathways. Auch das halte ihn aufrecht, sagt er. Immer wieder besucht Jamal | |
| Menschen in ihrem Zuhause nach Jahren der Obdachlosigkeit. „Schau, das ist | |
| mein Bett, das ist meine Dusche“, sagen sie dann. | |
| ## Wie sieht es in Deutschland aus? | |
| Nach Städten in den USA wurde das Konzept nach Kanada und Europa | |
| exportiert. Gründer Tsemberis reist seitdem durch die ganze Welt, | |
| inzwischen bis nach Brasilien, für Gespräche und Vorträge. Das Scheitern in | |
| New York sei bis heute traumatisch für ihn. Dass die Idee, die hier geboren | |
| wurde, inzwischen Kinder in der ganzen Welt habe, in dutzenden Städten | |
| Hoffnung schüre, tröste dagegen. Für obdachlose Menschen in den USA aber | |
| sieht auch Tsemberis keine guten Zeiten: „Unter Trump werden wir nur | |
| ‚Housing Last‘ bekommen“. | |
| Einen Vorgeschmack lieferte vor wenigen Monaten ein Urteil des Supreme | |
| Court: Die (dank Donald Trumps erster Amtszeit als US-Präsident) | |
| konservative Mehrheit der obersten Richter*innen entschied, dass | |
| obdachlose Menschen für das Campieren auf öffentlichen Plätzen bestraft | |
| werden dürfen. | |
| Aber sind die Zeiten für Großstädte in Deutschland und Europa bessere? Kann | |
| Housing First hier gelingen und was bedeutet das für das hehre Ziel, | |
| Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden? | |
| Housing First ist ein Konzept für ein lebenswertes Leben, nicht nur für die | |
| Versorgung mit Wohnungen. Es ist in der Lage, Lebensperspektiven für die zu | |
| eröffnen, die keine mehr zu haben scheinen. Das zeigen die Erfahrungen aus | |
| New York. Housing First kann scheitern, wenn es nicht richtig ausgestattet | |
| wird, wenn Wohnen und sozialpsychologische Begleitung nicht von Beginn an | |
| zusammen gedacht werden, wenn Mieten so teuer werden, dass sie von | |
| staatlichen Zuschüssen nicht mehr bezahlbar sind und wenn die Grundidee, | |
| dass Empfänger*innen von Hilfen selbst am besten wissen, was sie | |
| brauchen, missachtet wird. Auch das zeigen die Erfahrungen aus New York. | |
| Ich denke an Berlin mit den steigenden Mieten und der immer wieder | |
| verhandelten Frage, wie viel Mietenregulierung es geben darf, wie viel in | |
| den sozialen und gemeinwohlorientierten Wohnungsbau investiert werden soll. | |
| Auch hier verzweifeln Sozialarbeiter*innen daran, dass sie einer | |
| wachsenden Zahl psychisch kranker Menschen auf der Straße kaum etwas | |
| anzubieten haben. Housing-First-Pionierprojekte haben zwar seit 2018 rund | |
| 230 obdachlosen Menschen ein Zuhause ermöglicht. Aber für die | |
| „schwierigsten“ Fälle, die es am meisten nötig haben, sind sie nicht | |
| ausgestattet. | |
| ## Es braucht politischen Willen | |
| [2][Ich denke an Berlin, wo es so viele Projekte und Organisationen in der | |
| Obdachlosenhilfe gibt], dass kaum eine*r den Überblick behält. Ziehen die | |
| wirklich an einem Strang, eint die tatsächlich eine gemeinsame Idee? | |
| Und ich denke an Berlin in Zeiten knapper Kassen, die die Menschen noch | |
| mehr spalten, in die da oben und die ganz unten. | |
| Eine Genesung für die chronische Krankheit Obdachlosigkeit, das wird für | |
| mich nach meiner Reise nach New York noch klarer, kann es nur mit einem | |
| sozialen Wohnungswesen geben. In der Zwischenzeit bewahren wir uns mit | |
| ernsthaft betriebenem Housing First ein Stück Menschlichkeit. Indem wir ein | |
| Angebot für die Menschen schaffen, die Unterstützung am dringendsten nötig | |
| haben. Für beides, ein konsequent soziales Wohnungswesen und ausreichend | |
| ausgestattetes Housing First, sind politische Entscheidungen nötig. Die | |
| wird es nur geben, wenn genügend Menschen danach verlangen. Immerhin liegen | |
| noch keine 40 Jahre der Gewöhnung an eigentlich Unaushaltbares hinter uns. | |
| Wie in New York. | |
| Als ich in den frühen Morgenstunden aus den USA zurück nach Berlin komme, | |
| tragen die wenigen Leute auf der Straße dicke Mützen. Auf einer Bank nahe | |
| der Frankfurter Allee liegt ein Mensch, das Gesicht im Schlafsack | |
| verborgen. Sein Rollstuhl steht neben ihm. | |
| Ein Mensch, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, schläft auf der Straße. | |
| In der Nacht waren es fast null Grad. | |
| Da ist er, der Schmerz, den Kim Hopper „moralische Verletzung“ nennt. „Wir | |
| brauchen mehr Menschen, die das spüren“, hat Hopper gesagt. | |
| Manuela Heim ist taz-Redakteurin für Gesundheit und Soziales. Ihre | |
| US-Recherche wurde durch das [3][Daniel-Haufler-Stipendium] der [4][taz | |
| Panter Stiftung] ermöglicht. | |
| 4 Jan 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Housing-first-in-Finnland/!5914243 | |
| [2] /Revolution-der-Wohnungslosenhilfe/!5805697 | |
| [3] /taz-Panter-Stiftung-USA-Stipendiatinnen/!vn6044493/ | |
| [4] /Panter-Stiftung/!v=e4eb8635-98d1-4a5d-b035-a82efb835967/ | |
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