# taz.de -- Roman von Nobelpreisträgerin Han Kang: Schnee auf ihren toten Gesi… | |
> Han Kang beleuchtet in „Unmöglicher Abschied“ ein verdrängtes Kapitel | |
> koreanischer Geschichte. Im Zentrum des Romans steht eine | |
> Frauenfreundschaft. | |
Bild: Die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang | |
Zwei Jahre hat Gyeongha an ihrem Roman über [1][das Massaker in Kwangju im | |
Südkorea der 1980er Jahre] gearbeitet. Recherchierte in Archiven, sprach | |
mit Zeitzeugen. Seitdem hat sie Symptome, die einer posttraumatischen | |
Belastungsstörung gleichen. Nachts wie tags fühlt sie sich von Soldaten und | |
Scharfschützen verfolgt, Realität und Traum verwischen. Von ihrer Familie | |
zieht sich Gyeongha immer mehr zurück, verkriecht sich, isst kaum noch. Ihr | |
Leben fängt an „sich aufzulösen wie ein Stück Würfelzucker in einem Glas | |
Wasser“. | |
Von allen entfremdet, weiß sie nicht, an wen sie ihren Abschiedsbrief | |
richten soll, den sie Tag um Tag neu aufsetzt. Doch wer auch immer es sein | |
wird, sie will ihm oder ihr keine Bürde sein. Und so steht Gyeongha auf, | |
sammelt Müll ein, bringt ihn auf die Straße – und tritt ins Licht. Und | |
zurück ins Leben. „So bin ich dem Tod entwischt. Wie ein Komet, der drohte | |
mit der Erde zu kollidieren und diese dann um wenige Grad Abweichung | |
verfehlt.“ | |
„Unmöglicher Abschied“ heißt der neue Roman von Han Kang, [2][Trägerin d… | |
Literaturnobelpreises von 2024,] die 2016 weltweit mit „Die Vegetarierin“ | |
bekannt wurde. In eine Schublade stecken lässt sich Han Kang kaum. Mal sind | |
es historische Fakten, denen sie sich widmet [3][(„Menschenwerk“),] mal | |
gesellschaftliche Normen („Die Vegetarierin“, „Deine kalten Hände“), m… | |
Trauer („Weiß“), mal Verlust und Selbstermächtigung („Griechischstunden… | |
Gemein ist ihren Romanen die [4][feine, sanfte, poetische Sprache,] ganz | |
gleich, wie schwer das Thema ist und wie drastisch sie – auch das ein | |
Merkmal ihrer Bücher – Szenen oder Begebenheiten beschreibt. | |
Trauer und Aufarbeitung | |
Schwer ist auch das Thema ihres neuen Romans. Es geht um ein Massaker auf | |
der Insel Jeju, Schmerz, Trauer und den Versuch, die Geschichte – auch die | |
der eigenen Familie – aufzuarbeiten, in einer Gesellschaft, die sich dieser | |
Geschichte am liebsten entledigen möchte. | |
Gyeongha, gerade wieder zurück im Leben, erfährt, dass ihre Freundin Inseon | |
im Krankenhaus liegt. Inseon bittet sie, in ihr Haus auf Jeju zu fahren, um | |
ihren Vogel Ama vor dem Tod zu retten, bevor ihm Essen und Wasser ausgehen. | |
Damit beginnt eine Art Roadmovie. Gyeongha, vielleicht auch froh darüber, | |
ihrer Untätigkeit zu entkommen, fährt direkt zum Flughafen. Auf Jeju gerät | |
sie in einen Schneesturm, nimmt den falschen Bus, verläuft sich in der | |
Dunkelheit. Erst im Morgengrauen findet sie, die Finger und Zehen taub, | |
Inseons Haus. Und den toten Vogel. Und noch etwas: kistenweise Dokumente | |
über das Abschlachten von über 30.000 vermeintlich „Roten“ in den Jahren | |
1948 und 1949 auf Jeju. | |
Durchgefroren und übermüdet, mit pochenden Migränekopfschmerzen, | |
durchforstet Gyeongha die Kisten. Wie während ihrer Recherche zu Kwangju | |
verwischen Realität und (Fieber-)Traum. Gyeongha erscheint erst der tote | |
Vogel, dann ihre Freundin Inseon. Ist Inseon im Krankenhaus gestorben? | |
„Wenn ihre Seele gekommen ist, mich zu besuchen, bin ich im Leben; ist | |
jedoch sie am Leben, dann bin ich als Seele hier“, fantasiert Gyeongha in | |
ihrem Delirium. | |
Dann lässt sie sich einfach auf die Situation ein. Lässt sich von Inseon – | |
oder vielmehr ihrem Geist – die Geschichte ihrer Familie erzählen, so wie | |
Inseon sie aus Archiven herausgearbeitet hat und was ihr ihre Mutter von | |
ihren Besuchen von Massengräbern und Gefängnissen berichtet hat. | |
Wie durch eine Kameralinse | |
Han Kang präsentiert den Leser*innen das Thema damit implizit, wie der | |
Blick durch eine Kameralinse. Die expliziten Bilder, die Han Kang malt, | |
sind andererseits so drastisch, dass man beim Lesen den Schmerz des | |
Mädchens, das die Knochen ihres Bruders zwischen denen tausender anderer | |
Ermordeter in einem Massengrab vermutet, ebenso fühlt wie den des jungen | |
Mannes, dessen Schwester, noch ein Säugling, am Strand erschossen und ins | |
Meer geworfen wurde. | |
Dann wiederum legt Han Kang leichten, weißen Schnee auf die Geschichte. Auf | |
die Gesichter der Toten. „Perfekt sechseckige“ Schneeflocken mit „zarten | |
Ästchen“ lässt sie zögernd auf den Boden fallen „wie der Nachklang eines | |
Musikstücks … oder wie die Fingerkuppen, die vorsichtig zurückgezogen | |
werden, anstatt jemandes Schulter zu berühren.“ | |
Wegen der Schwere des Romanstoffs habe sie leichte Motive verwenden wollen, | |
„deshalb suchte ich nach Themen wie der Leichtigkeit des Vogels, der | |
Flamme, des Schnees“, erklärte Han Kang dem Magazin Transfuge aus | |
Frankreich, wo „Unmöglicher Abschied“ bereits 2023 erschien. „Der Schnee | |
fällt zwischen Realität und Traum und schafft einen Zwischenraum“, so Han | |
Kang zu Transfuge. | |
In einem solchen Zwischenraum zwischen Realität und Traum bewegt sich der | |
gesamte Roman. Meisterlich verwebt Han Kang das Massaker von Jeju mit | |
einer Geschichte über Freundschaft und Familie, deren Bande den weiblichen | |
Figuren gegenseitig Halt geben. Ob sie sie aber retten, das bleibt im | |
Ungewissen. | |
15 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Johanna Treblin | |
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