# taz.de -- Interview zu Nobelpreisträgerin Han Kang: „Sie geht dorthin, wo … | |
> Bilder der Gewalt haben Han Kang nachhaltig traumatisiert. Das meint die | |
> Literaturwissenschaftlerin Marion Eggert im Gespräch. | |
Bild: Am 10. Dezember wird ihr der Nobelpreis feierlich verliehen; Han Kang | |
taz: Frau Eggert, am 10. Dezember wird der Literaturnobelpreis feierlich in | |
Stockholm verliehen. [1][Überrascht Sie die Vergabe] an die Südkoreanerin | |
Han Kang? | |
Marion Eggert: Ich war tatsächlich zunächst erstaunt. Je mehr ich mich | |
jetzt aber mit ihrem Werk beschäftige, desto besser kann ich die | |
Entscheidung nachvollziehen. | |
taz: Was ist besonders an der Autorin? | |
Eggert: Zwei Dinge würde ich herausheben. Als erstes die | |
Schonungslosigkeit, mit der sie dorthin geht, wo es schmerzt – insbesondere | |
bei den beiden vielgerühmten Romanen „Die Vegetarierin“ und „Menschenwer… | |
Man spürt beim Lesen, dass das keine Attitüde ist; sie will nicht | |
schockieren und schaut nicht auf Leser und Markt. | |
In einer frühen Erzählung spricht sie davon, sich eine Stelle „zwischen | |
Nacken und Schultern“ zu massieren, die sich zerfetzt und zugleich taub | |
anfühlt, und dabei zu denken, „wenn diese Hand das Sonnenlicht wäre? Wenn | |
sie die ferne Stimme eines Mai-Winds wäre?“ Was da so scheinbar lieblich | |
daherkommt, heißt übersetzt: Die dauerhafte Wunde, die der Mai, also das | |
Massaker von Kwangju im Jahr 1980, geschlagen hat, kann nur heilen, wenn | |
man sie dem Licht aussetzt und die Erinnerungen zu Gehör bringt. | |
Die zweite Besonderheit ist die [2][Lyrizität ihres Erzählens.] Es ist ja | |
viel darauf hingewiesen worden, dass sie als Lyrikerin begonnen hat. Das | |
ist richtig und spielt sicherlich eine Rolle, aber entscheidend ist die | |
literarische Notwendigkeit: Han Kang dokumentiert nicht Ereignisse, sondern | |
Seelenzustände. Das geht nur mit dichterischen Verfahren. | |
taz: Han Kang wurde vor allem durch „Die Vegetarierin“ international | |
bekannt. Welche Rolle spielt dieses Werk in der koreanischen | |
Literaturgeschichte? | |
Eggert: Für Geschichtsschreibung ist es noch zu früh, aber es liegt nahe, | |
dass es als das Werk, das den Grundstein für Han Kangs internationalen Ruhm | |
und damit für den Nobelpreis gelegt hat, einen herausgehobenen Platz in der | |
koreanischen Literaturgeschichtsschreibung erhalten wird. Die | |
Wirkungsgeschichte eines Werkes ist immer auch abhängig von Faktoren | |
außerhalb des Textes. Dass der Filter der gesellschaftlichen Wahrnehmung, | |
die dann in Literaturgeschichte kondensiert, einzelne Werke hervorhebt und | |
damit andere, vielleicht gleichwertige, auf hintere Ränge verweist, ist | |
unvermeidlich und schmälert nicht die Bedeutung derjenigen Werke, auf die | |
sich die Aufmerksamkeit konzentriert. | |
taz: Wie wird es in Südkorea im Vergleich zur internationalen Rezeption | |
gesehen? | |
Eggert: Als der Roman 2016 als erstes koreanisches Werk den International | |
Booker Prize erhielt, hat das in Südkorea große Wellen geschlagen und den | |
Roman erst richtig berühmt gemacht. Das heißt aber nicht, dass er bei | |
seinem Erscheinen in Korea keine Rolle gespielt hätte, und schon gar nicht, | |
dass er im Ausland überbewertet sei. Vielmehr hat der mittlere Teil, | |
„Mongolenfleck“, der zunächst unabhängig in einer Zeitschrift erschien, | |
2005 den höchsten Literaturpreis des Landes erhalten, und als der ganze | |
Roman 2007 erschien, ist er sehr wohlwollend besprochen worden. Anders als | |
in der westlichen Rezeption wurde er aber weniger feministisch gelesen, | |
sondern als Bearbeitung einer viel grundsätzlicheren Verquickung von Leben | |
und Liebe mit Gewalt. | |
taz: Viele von Han Kangs Werken befassen sich mit Trauma und Gewalt. Gibt | |
es historische oder kulturelle Gründe, warum diese Themen in ihrer | |
Literatur so stark vertreten sind? | |
Eggert: Kulturelle Gründe kann ich nicht erkennen. Historische und | |
biografische dagegen werden von Han Kang selbst benannt. Sie hat als Kind | |
indirekt das Massaker in der Stadt Kwangju miterlebt, mit dem sich die | |
Militärdiktatur zunächst gefestigt und zugleich den Widerstand angestachelt | |
hat. Bilder davon, die sie zu sehen bekam, haben sie nachhaltig | |
traumatisiert. | |
Gewalt zieht sich aber durch die koreanische Geschichte des gesamten 20. | |
Jahrhunderts: die [3][Kolonialisierung durch Japan,] das einen sehr | |
repressiven Kolonialapparat eingerichtet hat, die brutale Niederschlagung | |
der Unabhängigkeits- und Widerstandsbewegungen in dieser Zeit, kurz nach | |
dem Ende des Zweiten Weltkriegs dann der unglaublich grausame Koreakrieg, | |
in dessen Vorfeld der Partisanenkrieg in unzugänglicheren Gebieten | |
Südkoreas und das Massaker von Cheju 1948, über das Han Kang in | |
„Unmöglicher Abschied“ schreibt. All das sind wichtige Gegenstände und | |
prägende Faktoren der südkoreanischen Literatur insgesamt. | |
taz: Wie wird die koreanische Geschichte, besonders die Aufarbeitung der | |
Militärdiktatur, in der koreanischen Gesellschaft reflektiert? | |
Eggert: Die Ereignisse von Kwangju etwa sind durchaus auch anderweitig | |
aufgearbeitet worden, die Erinnerung daran ist identitätsstiftend für die | |
koreanische Linke. Aber Han Kang geht es nicht um Schlichtung und | |
Schiedsspruch, sondern darum, eine Sprache zu finden für das Unsagbare, den | |
Geistern der Vergangenheit Form zu geben, so dass sie weniger neues Unheil | |
anrichten können. Darin liegt die Bedeutung ihrer Werke. | |
taz: Welche Rolle spielt Han Kang in der zeitgenössischen koreanischen | |
Literaturszene? | |
Eggert: Sie hat im Laufe der Jahre so gut wie alle wichtigen | |
Literaturpreise Südkoreas erhalten, dazu kommt seit 2016 ihr | |
internationaler Ruhm – sie gehört also schon lang zum inneren Zirkel der | |
hochangesehenen Autorinnen. Zu ihrer zurückhaltenden Persönlichkeit passte | |
es aber nicht, diese Stellung für mediale Dauerpräsenz oder in eine | |
Machtposition innerhalb des Literaturbetriebs zu nutzen. Sie scheint sich | |
dem auch jetzt eher entziehen zu wollen. | |
taz: Erwarten Sie, dass dies zu einer stärkeren Rezeption anderer | |
koreanischer Autoren führen wird? | |
Eggert: Da sehe ich keinen Automatismus. Hat der Nobelpreis für Jon Fosse | |
die Aufmerksamkeit für andere norwegische Autoren erhöht? Es könnte im | |
koreanischen Fall sogar den gegenteiligen Effekt haben, wenn die | |
Übersetzungsförderung durch die südkoreanische Regierung nun reduziert oder | |
gar ausgesetzt werden sollte, weil das Ziel Nobelpreis erreicht wurde. Ich | |
sehe die koreanische Literatur aber aufgrund ihrer Qualität und | |
Vielseitigkeit ohnehin auf dem Weg, aus ihrem internationalen Nischendasein | |
herauszukommen. | |
10 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
David Bieber | |
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