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# taz.de -- Theater von Leila Hekmat: Dekadenz und Orgasmen
> Leila Hekmats schräg-absurder Theaterabend „Gloriette“ läuft seit Freit…
> im Berliner HAU. Es ist ein wilder Mix, die Commedia dell'Arte lässt
> grüßen.
Bild: Irrwitzige Tänze einer versinkenden Konsumgesellschaft
Gleich hebt sich der Vorhang für die erste Arbeit [1][der US-amerikanischen
Künstlerin Leila Hekmat] an einem institutionellen Theater. Zu erwarten
sind: Opulenz, Dekadenz und umwerfende Kostüme. Das sind die Markenzeichen
Hekmats, die sich vor allem mit Installationen, Performances und
Ausstellungen einen Namen gemacht hat. Jetzt also ihr Debüt auf der
Theaterbühne, zu dem sie das [2][Berliner HAU] eingeladen hat. Eine
interdisziplinäre musikalische Komödie, die am Freitag Premiere hatte.
Endlich, der Vorhang hebt sich. Und die Bühne ist: leer. Nur Nebelschwaden
wabern herum, rokokoartige Musik mit Flöte und Cembalo tönt vom linken
Rang. Und aus dem Off erzählt eine Stimme, dass das Kaufhaus „Gloriette“
bald öffnen wird. Der „ideale Erholungsort für den heimatlosen modernen
Geist“.
Es ist die große Leere, das Nichts, um das es in Leila Hekmats
schräg-absurden Theaterabend „Gloriette“ geht. Das Nichts, das bleibt,
sogar wenn die Konsumwelt untergeht, die Leere, die unter der menschlichen
Haut-Hülle lauert. Und es geht um die Chancen, die dieses Nichts bietet. Um
die Offenheit, die Möglichkeiten, die sich darin verbergen. Und nicht
zuletzt um das Neue, das aus dieser Leere zu entstehen vermag.
Das „Gloriette“ liegt am Rande Venedigs und droht durch den steigenden
Meeresspiegel langsam zu versinken. In den Verkaufshallen aber geht der
Betrieb weiter. Verkäuferinnen und Verkäufer kümmern sich scheinbar
unbekümmert um ihre sehr speziellen Abteilungen. „I’m feeling kind of
empty. I need to fill my holes“, ich fühle mich irgendwie leer, ich muss
meine Löcher füllen, ist ein Satz, den die Figuren auf der Bühne immer
wieder sagen.
Fetischkleidung und Hausfrauenschick
Zehn Tänzer und Performer sind es, viele von ihnen verbindet eine
langjährige Zusammenarbeit mit Hekmat. Sie tragen die typischen
Hekmat-Kostüme. Und die sind wie immer fantastisch: ein wilder Mix aus
klerikalen Gewändern, elisabethanischer Mode, Fetischkleidung und
50er-Jahre-Hausfrauenschick. Dazu maskenhaftes, schrilles Make-up,
Rokoko-Lockenperücken, allerlei Hauben und Kopftücher. Und natürlich: auf
die Kleidung genähte Fake-Penisse und -Brüste.
Groteske Typen sind es, die an die Commedia dell'Arte erinnern. Eine
dekadente Gesellschaft, abgeschottet von der Außenwelt, ständig auf der
Suche nach Lustbefriedigung, Sinn und Transzendenz. Und nach sich selbst.
Das Kaufhaus Gloriette hat dafür einiges im Angebot: Plateauschuhe, die
einen nicht nur „high“ machen, sondern näher zu Gott bringen. Orgasmen in
diversen Stärken und Formen. Die Verkäuferinnen und Verkäufer selbst bieten
sich feil mit dem wenig zweideutigen Werbeslogan: „Come inside me. I’m on
sale“.
Oder die sogenannte „Undulating Undies“, wellige Unterwäsche, von den
plätschernden Wellen der venezianischen Kanäle inspiriert. Aber auch allem
anderen Fließenden, Offenen, Queerem: „I can see you are an open ended
person, proud of your pussy. What about some undulation Undies?“, wird
gesungen. (Ich kann sehen, dass Sie eine Person mit offenem Ende sind,
stolz auf Ihre Pussy. Wie wär’s mit welliger Unterwäsche?)
Fantastische Szenerien
Hekmat hat ihr Stück in Szenen eingeteilt. Mit jedem Vorhang, der sich
hebt, öffnet sich der Blick auf eine neue fantastische Szenerie: ein mit
Pflanzen behängtes Fahrrad, aus denen bunt bestrumpfte Beine ragen. Ein
menschhohes hölzernes Spielpferd auf Rädern wird auf die Bühnen geschoben.
Eine schwarz glänzende Gondel, die als Bartresen dient. Ein Mini-Karussell
auf Rädern, zum Friseursalon umfunktioniert.
Die Musik spielt eine wichtige Rolle an diesem Abend. Roman Lemberg und
Roman Ole haben für Hekmat fast schon eine Art barocke Oper komponiert,
manchmal mit Anleihen aus dem Jazz und Ausflügen in die sakrale Musik,
einige Stellen erinnern an englische Lullabies oder Balladen.
In einer anrührenden Koloratur-Arie besingt Roman Ole alias „Fagotta“ eine
Art Coming-Out: „I tried to hide what I felt in my soul. But now I feel, I
must be real, I’ll play my own role.“ (Ich habe versucht zu verstecken, was
ich in meiner Seele fühle, aber jetzt fühle ich, dass ich echt sein muss,
ich spiele meine eigene Rolle.) Jeder Körper sei schick und okay, endet die
Arie. Das wirkt wie ein Moment der Echtheit, und vielleicht ist er es auch,
aber natürlich wird er schnell wieder mit einem spöttischen Kommentar
aufgelöst. Und weiter geht’s, im irrwitzigen Tanz der versinkenden
Konsumgesellschaft.
So hoch der Schauwert auch ist, sosehr es Spaß macht, sich von Hekmats
schlauen Wortwitz verwirren zu lassen, der Musik zuzuhören und den
verwegenen Performern zuzusehen: Für einen knapp zweieinhalbstündigen Abend
fehlt dann doch irgendwann die dramaturgische Entwicklung, entkommt die
immerwährend frivole Endzeitstimmung nicht einer gewissen Redundanz.
Und trotzdem ist der Abend originell, schlau und irritierend genug, dass
man sich am Ende unbedingt wünscht: Hoffentlich wird das Kaufhaus
„Gloriette“ niemals untergehen.
9 Dec 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Verena Harzer
## TAGS
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