# taz.de -- Kostüme reparieren: Der Sound des Tüllrocks | |
> Das Berliner Kostümkollektiv repariert und rettet Kostüme, auch für | |
> Mehrfachverwendung in Theaterproduktionen. Die freie Szene nutzt das | |
> Angebot rege. | |
Bild: Muriel Nestler ist die Initiatorin des Kostümkollektivs e. V | |
Plötzlich steht da im Kellergeschoss des Berliner Kunstquartier Bethanien | |
nicht mehr Muriel Nestler, Gründungsmitglied des [1][Berliner | |
Kostümkollektivs], sondern: eine Flunder. Nestlers Arme werden vom weit | |
auskragenden Flunderbauch des Ganzkörperkostüms verdeckt, nur ihre Hände | |
sind sichtbar. | |
Ihr Beine verschwinden hinter dem schmaler werdenden Unterteil der Flunder. | |
Wo die Schwanzflosse endet, ragen ihre braunen Stiefel hervor. Und dort, wo | |
die Augen der Flunder wären, guckt Nestlers Gesicht durch ein kreisförmig | |
abgenähtes Loch raus. | |
Das Flunderkostüm habe sie mit besonders viel Aufwand repariert, hatte | |
Katja Birkle, Modedesignerin und Mitarbeiterin des Kostümkollektivs, zuvor | |
erzählt. Das war dem Kostüm nicht anzusehen, als es unförmig auf dem | |
Kleiderbügel hing. Also hat Nestler es sich kurzerhand übergezogen. | |
„Die müssen dann natürlich noch irgendwie Flossenhandschuhe dazu machen, | |
oder so“, sagt Nestler, nachdem sie das Kostüm wieder ausgezogen und auf | |
den Bügel gehängt hat. „Aber das müssen die sich dann selbst überlegen.“ | |
„Die“, das sind die freien Theaterschaffenden, die sich dieses | |
Flunderkostüm vielleicht mal für eine Theaterproduktion ausleihen werden. | |
Vielleicht, weil in ihrem Stück eine Flunder eine Rolle spielt. Oder weil | |
ihnen beim Stöbern im Fundus plötzlich die Idee kommt, einen Fisch in die | |
Produktion einzubauen. | |
## Der Fischer und die Flunder | |
Wie auch immer, es wird dann ein glücklicher Zufall sein, dass die | |
[2][Kostümbildnerin Petra Korink] dieses Probenkostüm für die | |
Theaterproduktion „Der Fischer und seine Frau“ vergangenen Sommer | |
anfertigen ließ. Und es, nachdem es abgespielt war, nicht einfach wegwarf | |
oder im privaten Keller verstauben ließ. Sondern es dem Fundus des | |
Kostümkollektivs im Kunstquartier Bethanien überlassen hat. | |
Das Flunderkostüm ist eines von rund 50.000 Kostümen, die dort hängen. Sie | |
stammen aus alten Produktionen oder dem aufgelösten Fundus von | |
Kunstschaffenden oder Theatergruppen. Sorgfältig repariert, katalogisiert | |
und etikettiert warten sie an langen Kleiderstangen und in deckenhohen | |
Regalen darauf, kreativ genutzt zu werden. Bei Muriel Nestler im Fundus des | |
Kostümkollektivs ist fast alles zu finden: von der Rokoko-Krause über die | |
Priesterrobe bis zum Astronautenanzug – alles da. | |
Der Fundus sei ihr Baby, sagt Nestler, die in den 90er Jahren Kostüm- und | |
Bühnenbild studiert hat. Sie trägt jetzt wieder ihre schwarze Jeans und | |
weinrote Strickjacke und sitzt auf einer Bank am Fenster im Souterrain des | |
Kunstquartiers. Eine Tasse Tee in der Hand, fängt sie an zu erzählen. Wie | |
sie damals die Idee hatte, Kostüme zu retten, die dann weiterzuverleihen an | |
freie Theaterschaffende, die mit eher kleinen Budgets arbeiten müssen. | |
Sie fand Mistreiterinnen und Mistreiter, gründete mit ihnen den Verein | |
Kostümkollektiv. Um herauszufinden, ob nicht doch alles nur eine | |
Schnapsidee ist, haben sie 2011 eine Umfrage in der freien Szene gemacht, | |
ob die mit so einem Fundus überhaupt was anfangen können. Ergebnis: konnten | |
sie. Das half, um Geld aufzutreiben. Die Lotto-Stiftung Berlin unterstützte | |
das Projekt, private Darlehen auch. Dazu: viel Unterstützung von | |
Kolleginnen und Mitstreitern. | |
## Fundus im Kreuzberger Bethanien | |
2012 schon konnte der Fundus in den frisch sanierten Kellerräumen des | |
Bethanien eröffnet werden. Seit 2018 gibt es auch einen Zuschuss vom Land | |
Berlin. Mittlerweile sind es 60.000 Euro im Jahr. Dazu kommen die Einnahmen | |
aus der Ausleihe, die bei weitem nicht die Kosten decken können, wenn die | |
Preise für die freie Szene bezahlbar bleiben sollen. Von dem Geld zahlt | |
Nestler alles. Sie bekommt ein kleines Gehalt, ist immer da, wenn der | |
Fundus auf hat, dreimal die Woche, jeweils vier Stunden. | |
Dazu gibt es Näherinnen, jemanden für Social Media, für die Finanzen, die | |
Kommunikation und die Webseite. Dazu eine Putzhilfe. Manche machen das | |
ehrenamtlich, andere arbeiten als Mini-Jobber. Viel Zeit geht drauf, um | |
Kostüme zu reparieren und die Kostümdatenbank zu pflegen, in der die | |
Theaterschaffenden nach allen Kostümen mit Bild, Größen- und | |
Materialangaben penibel verschlagwortet suchen können. | |
Ein einmaliges Angebot in Berlin, das von der freien Szene rege genutzt | |
wird. Im Schnitt betreut Nestler acht Theaterproduktionen pro Woche. Vom | |
Ein-Personen-Stück bis zu ganzen Ensembles. Ausleihen, Anprobieren, | |
Rückgabe. | |
[3][Lydia Ziemke] bringt einen Rock zurück. Die freie Theaterregisseurin | |
hat ihn in ihrer deutsch-arabischen Produktion „Existenz“ eingesetzt. Der | |
Rock war nicht ganz so ausladend und weiblich, wie sie ihn haben wollte für | |
ihr Stück. Er hatte andere Vorzüge. „Hör mal“, sagt sie und greift in den | |
Rock, der schon auf dem Rückgabetisch liegt. Der Tüll raschelt und knistert | |
deutlich. Genau richtig für ihr Stück, in dem sie viel mit Geräuschen | |
arbeitet. Der Sound des Tüllrocks hat sie zu einer ganz neuen Szene | |
inspiriert, sagt Ziemke. | |
## Idealnutzerin des Kostümkollektivs | |
Sie kommt aber nicht nur in den Fundus, weil sie auf die Inspirationen | |
eines Rockes hofft. Irgendwann, sagt sie, hat sie gemerkt, dass sie die | |
Kostüme für ihre Produktionen nicht immer neu produzieren oder kaufen will. | |
Der Fundus hilft ihr, nachhaltig zu arbeiten. Ziemke ist damit so etwas wie | |
die Idealnutzerin des Kostümkollektivs. | |
Thomas Gläser ist ein weiteres Mitglied des Vereins. Er steht im Nähraum | |
des „Hauses der Materialisierung“ am Alexanderplatz. Oder besser, in einem | |
Container, der die Nähwerkstatt des Kostümkollektivs beherbergt. Hier | |
werden die Kostüme aus dem Fundus repariert. Der Raum bietet aber auch | |
Arbeitsplätze mit Nähmaschinen für freie Kostümbildner. | |
Gläser trägt einen selbstgewebten Schal um den Hals. Fischgrätmuster, sagt | |
er. Nichts besonders. Er muss es wissen, Gläser hat einst sein | |
Pädagogik-Studium abgebrochen, um Maßschneider zu werden. Seine Motivation: | |
die moralisch fragwürdigen Produktionsbedingungen in der industriellen | |
Bekleidungsproduktion. Er wollte sich seine Klamotten selbst nähen können. | |
Hier im Container gibt er heute vor allem Profi-Tipps. | |
## Nachhaltige Infrastruktur | |
Heute ist „Fetzen und Flicken“ angesagt, die offene Nähstube des | |
Kostümkollektivs. Da ist eine Naht geplatzt, dort muss geweitet, woanders | |
gekürzt werden. Gläser weiß, wie es geht. Er ist hier Teil seiner eigenen | |
Vision. Der Vision einer nachhaltigen Infrastruktur. Das Kostümkollektiv | |
ist für ihn einer von vielen Schritten dorthin. Auch, weil das Kollektiv | |
über die Pflege des Fundus hinaus jedem hilft, der näherischen Rat braucht. | |
Zurück im Fundus. Muriel Nestler teilt diese Vision. Sie nippt an ihrem | |
Tee. In einer idealen Welt, sagt sie, hätte sie mehr Mitarbeitende, mehr | |
Werkstätten, mehr Kostüme. Ihr schwebt ein die gesamte künstlerische | |
Produktion abdeckender, nachhaltiger Betrieb vor. Noch größer, ein | |
künstlerisches Nachhaltigkeits-Netzwerk, dem alle Berliner | |
Kulturinstitutionen angehören. Das wäre ihr Traum. | |
Es klingelt wieder, Nestler öffnet die Tür. Ein kurzes Gespräch, sie nickt. | |
Dann verschwindet sie mit der Künstlerin in den Tiefen ihres Fundus. Was | |
auch immer gewünscht wird, sie hat das passende Stück. Oder zumindest eine | |
Inspiration. | |
20 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://kostuemkollektiv.de/start/ | |
[2] /!220726&s=Petra+Korink&SuchRahmen=Print/ | |
[3] /Gerichtsdrama-ueber-Abschiebung/!5781065 | |
## AUTOREN | |
Verena Harzer | |
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