| # taz.de -- Argentinien ein Jahr unter Javier Milei: Arm sein im Anarcho-Kapita… | |
| > Argentiniens Präsident legt die Kettensäge an den Sozialstaat. In den | |
| > Elendsvierteln von Buenos Aires nutzt das vor allem den Drogenbaronen. | |
| Bild: Buenos Aires, glitzernde Wolkenkratzer im Hintergrund, vorne das Elendsvi… | |
| Buenos Aires taz | Schnell, schnell weg von dieser Straßenecke. Mari | |
| Ventura drängelt plötzlich, die kleine Frau mit Brille wittert Ärger in der | |
| Villa 31, einem Elendsviertel der argentinischen Hauptstadt. Aus den | |
| Billigshops hier dröhnt Popmusik, vor einer der knallbunten Baracken stehen | |
| Drogenabhängige Schlange, wohl um an „Paco“ zu kommen, Kokainpaste. Weiter | |
| hinten drücken sich behelmte Polizisten auf zwei Quads durch die | |
| menschenvolle Gasse. Mari Ventura, 40 Jahre alt, Kindergärtnerin, | |
| Aktivistin, will weg sein, wenn Polizei und „los Narcos“, die Dealer, | |
| aufeinandertreffen. | |
| Etwa 40.000 Personen hausen in der Villa 31. Wie in anderen argentinischen | |
| „Villas miserias“ leben die Menschen hier seit Jahrzehnten in einer elenden | |
| Balance aus Selbsthilfe, Kriminalität und staatlicher Kontrolle. Doch, sagt | |
| Mari Ventura wenig später an einer ruhigeren Ecke: Seit ein Staatsfeind das | |
| Land regiert, kippt die Lage. | |
| Mit einer Kettensäge war Javier Milei 2023 in den argentinischen | |
| Präsidentschaftswahlkampf gezogen, um den aufgeblähten Sozialstaat zu | |
| zerlegen. Eine Schocktherapie verordnete der frühere Wirtschaftsprofessor | |
| dem von Krisen gebeutelten Land. Ein Jahr ist seit Mileis Vereidigung | |
| vergangen und manche Entwicklung gibt seinem „anarcho-kapitalistischen“ | |
| Kurs recht. | |
| Die Hyperinflation ist gesunken, die Preise für Brot, Kaffee, Fleisch sind | |
| hoch, aber stabiler, mit langfristigen Steuervergünstigungen will Milei | |
| ausländische Investoren ins Land locken. Darauf hoffen viele in der | |
| Mittelschicht, die Unternehmer:innen in den funkelnden Wolkenkratzern | |
| von Buenos Aires feiern es. | |
| ## Wer „mehr Milei wagen“ will | |
| „Sie sind mein Lieblingspräsident“, schmachtete auch Donald Trump nach | |
| seinem Wahlsieg in den USA in einem Telefonat mit Milei, [1][wenig später | |
| lud er den Argentinier zu sich nach Hause ein], gemeinsam mit Elon Musk. | |
| Auf der anderen Seite des Atlantiks will [2][der FDP-Vorsitzende Christian | |
| Lindner] jetzt „mehr Milei wagen“. Doch was Milei, was eine Schocktherapie | |
| für die Schwächsten in einer Gesellschaft bedeutet, bleibt hinter den | |
| Slogans und Wirtschaftsdaten verdeckt. | |
| Wie staubig-schwarze Spinnweben hängen die selbst gebastelten | |
| Stromleitungen über den Gassen der Villa 31. Immer wieder fangen sie Feuer, | |
| gerade jetzt, im argentinischen Sommer. Mitte November starben hier zwei | |
| Menschen bei einem Kabelbrand. Hoch über dem Leitungsknäuel spannen sich | |
| die Brücken der Autopista Arturo Illia, am Eingang der Villa liegt ein | |
| Markt, daneben Haufen von Müll, der wochenlang nicht abgeholt wurde. Einige | |
| stochern im gärenden Unrat nach Verwertbarem. Ein Bekannter von Mari | |
| Ventura zeigt auf die Szene und sagt: „Hier sind unsere Investitionen.“ | |
| Die Armut in der Villa 31 ist alt. Das Viertel liegt eingeklemmt zwischen | |
| den Hafenanlagen von Buenos Aires und den Gleisen des Bahnhofs Retiro. | |
| Schon in den 1930er Jahren bauten sich in der Weltwirtschaftskrise verarmte | |
| Eisenbahnarbeiter hier erste Hütten. Krisen hat Argentinien seitdem viele | |
| erlebt, seit 2009 hat sich die Bewohnerzahl in der Villa 31 nahezu | |
| verdoppelt. | |
| Knapp 40 Prozent der 46 Millionen Argentinier:innen fristeten schon | |
| vor Mileis Amtsantritt ihr Leben unterhalb der Armutsgrenze, heute sind es | |
| über die Hälfte. [3][Fast ein Fünftel lebt in extremer Armut,] wie sie | |
| sich in der Villa 31 zeigt, beinahe zwei Drittel der Kinder müssen mit | |
| einer Mahlzeit am Tag auskommen. | |
| ## Kulturkampf und Kettensäge | |
| Auf ihrer Kindergärtnerinnenschürze trägt Mari Ventura den roten Stern der | |
| „Frente de Organizaciones en lucha“ (FOL), einer linksradikalen Gruppe, mit | |
| der Arme sich Gehör verschaffen wollen, aber auch soziale Aufgaben | |
| übernehmen. Der „Comedor“ etwa, die Volksküche der FOL, ist ein weiß | |
| gefliester Raum von 15 Quadratmetern, hier waschen zwei Genossinnen an | |
| diesem Vormittag schon Hühnerbeine und schälen Kartoffeln, hacken | |
| Knoblauch. | |
| Gegessen wird später draußen, unter den bunt bemalten Autobahnpfeilern, 200 | |
| Menschen werden so von Montag bis Freitag versorgt. Über 44.000 solcher | |
| Volksküchen sind landesweit registriert, in der Coronapandemie haben sie | |
| Hunderttausenden, auch aus der unteren Mittelschicht, das Überleben | |
| gesichert. Mehr oder weniger gut selbst organisiert, mit Subventionen aus | |
| dem nationalen Haushalt. Bis die Kettensäge kam. | |
| Schon in den Vierzigerjahren setzten die schöne Evita und ihr Mann, | |
| Präsident Juan Perón, auf einen Populismus der Almosen. Ihr „Peronismus“ | |
| lebte seitdem in sehr unterschiedlichen Spielarten weiter. Insbesondere | |
| linksperonistische Regierungen wie die von Néstor Kirchner und Cristina | |
| Fernández de Kirchner, 2003 bis 2015, stützten sich auf die sozialen | |
| Bewegungen. Auf öffentliche Arbeitsbeschaffung und auf die Macht der | |
| argentinischen Gewerkschaften – Staatsverschuldung und Korruptionsvorwürfe | |
| inklusive. | |
| Gegen diese peronistische „Kaste“ trat Javier Milei an, als | |
| Outsiderpräsident propagiert er den Kahlschlag der Institutionen. Zum | |
| Amtsantritt zeigte er auf Tiktok, wie er die Hälfte der Behörden aus dem | |
| staatlichen Organigramm reißt: „Kulturministerium, weg damit! | |
| Umweltministerium, weg damit!“ | |
| Die Volksküchen? Weg damit! Präsident Milei nennt linke Gruppen wie die FOL | |
| „Terroristen“. Die Menschenrechtsorganisation CELS klagt, dass seit Mileis | |
| Amtsantritt Armutsrentner:innen und andere, die gegen seinen Sparkurs | |
| demonstrieren, mit übermäßigem Polizeiaufgebot eingeschüchtert werden. | |
| Milei geht es nicht allein um einen ausgeglichenen Haushalt, er führt einen | |
| autoritären Kulturkampf. | |
| ## Eine Superministerin für „Humankapital“ | |
| Mit dem Frauenministerium soll auch die „Genderideologie“ fallen, | |
| Frauenhäusern kappt er die Zuschüsse. Den bedrohten Frauen im Gewirr der | |
| Villa 31 bleibt noch die „Casa invisible“, das unsichtbare Haus der linken | |
| Bewegungen im Viertel. Und die Telefonnummer der FOL. „Wenn die Männer ihre | |
| Frauen umbringen wollen, versuchen wir zumindest, die Frauen rauszuholen“, | |
| sagt Mari Ventura. | |
| Bildung, Kultur, Arbeit, Soziales – diese Bereiche hat Präsident Milei in | |
| einem „Ministerium für Humankapital“ zusammengefasst. [4][Superministerin | |
| Sandra Pettovello] lässt gerade jede Büste, jedes Porträt der mildtätigen | |
| Evita Perón aus den öffentlichen Gebäuden tilgen, sozialen Bewegungen wie | |
| der FOL liefert ihr Ministerium keine Grundnahrungsmittel für ihre | |
| Volksküchen mehr. | |
| Als im Sommer herauskam, dass bei 300 Tonnen staatlich gebunkertem | |
| Milchpulver das Haltbarkeitsdatum ablaufen würde, ließ die Ministerin die | |
| Trockenmilch durch das Militär einer Stiftung der rechtskatholischen | |
| Organisation Opus Dei übergeben. Kurz zuvor hatte Pettovello mit | |
| evangelikalen Fundamentalisten Verträge über eigene Volksküchen | |
| geschlossen. Die neuen Sozialpartnerschaften der Milei-Regierung: | |
| erzkonservativ. | |
| Mari Ventura leitet 200 Meter von der linksradikalen Volksküche entfernt | |
| einen Kindergarten der FOL. Noch. Ventura öffnet leise die Tür im | |
| Erdgeschoss, denn die 15 Kinder hier unten halten gerade genau wie die im | |
| ersten Stock auf roten und gelben Matten Mittagsschlaf. An der Wand hängen | |
| ihre kleinen Rucksäcke, über jedem Haken ein Name: Calet, Magaly, Zoe, | |
| Jhoel. Auch hier im Kindergarten wird schon das Mittagessen vorbereitet. | |
| Auch hier fehlen die nationalen Lieferungen von Nahrungsmitteln. | |
| Zwei Kindergärten musste FOL schon schließen, sagt Mari Ventura im stillen | |
| Lagerraum, neben Säcken mit Reis, Nudeln, Linsen. Die kommen jetzt teils | |
| von der Stadt Buenos Aires, teils sind es Spenden. Ventura selbst verdient | |
| nur noch die Hälfte, sagt sie, 78.000 Pesos im Monat, in etwa 80 Euro. „Das | |
| ist nicht nichts, aber es reicht nicht. Wenn ich nicht Lebensmittel aus dem | |
| Kindergarten mitnehmen könnte, würde ich unter einer Brücke leben.“ | |
| ## Hocharbeiten für ein Mittelschichtsleben | |
| Die Kinder bleiben bis zum späten Nachmittag in der Obhut von Ventura und | |
| ihren Kolleginnen, die Eltern, Putzkräfte, Lager- oder Bauarbeiter, sind | |
| auf den Kindergarten angewiesen. Über vierzig Prozent der argentinischen | |
| Bevölkerung arbeitet im „informellen Sektor“. Sie halten das Land am | |
| Laufen, sind aber meist nicht versichert. Steuern zahlen sie selten, sehr | |
| zum Ärger der Mittelschicht. Dass Milei ihnen jetzt die staatlichen Almosen | |
| streicht, finden nicht wenige einfach gerecht. Auch rassistische Vorurteile | |
| mögen eine Rolle spielen. Die Villas und ihre Bewohner:innen kennen | |
| viele Argentinier:innen nur aus dem Fernsehen. | |
| An einer silbernen Kette trägt Mari Ventura ein Herz um den Hals, darauf | |
| eingraviert die Gesichter ihrer Kinder. Die älteste Tochter, 21, hat es | |
| geschafft, sich hochzuarbeiten, studiert Medizin. Dass sie wie viele junge | |
| Menschen mit Ambitionen auf ein Mittelschichtsleben Milei gewählt hat, | |
| frustriert die linke Mutter. [5][Ohne das öffentliche, kostenlose | |
| Bildungssystem, das Milei jetzt zusammenstreicht,] hätte sie ihrem Kind | |
| kein Studium ermöglichen können, sagt Ventura. „Er hat Gehirnwäsche | |
| betrieben mit all seinen Versprechungen im Wahlkampf.“ | |
| Unter Venturas vielen Sorgen sind die Narcos die größte. Denn wo der Staat | |
| sich zurückzieht, hätten die Drogenbarone freien Lauf. Bislang ist | |
| Argentinien weit entfernt von den Drogenproblemen anderer Länder | |
| Lateinamerikas. Doch vom Kokain, das über die Flussschifffahrt aus Peru und | |
| Bolivien kommt und weiter nach Europa soll, bleiben immer mehr | |
| Nebenprodukte in den Häfen Argentiniens hängen. Mit desaströsen Folgen. | |
| „Die Narcos wollen nicht, dass die Kinder zur Schule und auf die | |
| Universität gehen“, sagt Mari Ventura. Sie suchten junge Kunden und Dealer; | |
| wo die Sozialarbeit weggekürzt werde, hätten sie leichtes Spiel. | |
| Gastón Colombres, 37, braun gebrannt, offener Priesterkragen, sieht das | |
| ganz ähnlich. Bei einem Rundgang durch die „Ciudad oculta“, 20 Kilometer | |
| weiter im Süden von Buenos Aires, schüttelt der Geistliche allerlei Hände. | |
| Ein junger Mann kommt zu „Tonga“, wie ihn alle hier nennen, um seine | |
| Kreuzhalskette segnen zu lassen. | |
| ## Der Kampf mit den Narcos | |
| Auch die Ciudad oculta ist überspannt mit Stromleitungsknäueln, in den | |
| Gassen stöbern herrenlose Hündchen im Müll. „Die Armen müssen sich selbst | |
| retten“, sagt Padre Tonga. Doch egal was sie sich aufbauten, es sei | |
| gefährdet. „Die Drogen zerstören alles.“ Und Mileis Regierung interessiert | |
| sich nicht dafür. | |
| Dass die Villa 15 „verborgene Stadt“ genannt wird, erklären sich ihre | |
| Bewohner:innen mit einer Mauer, die die Militärdiktatur 1978 vor ihrem | |
| Viertel hochzog. Ausländischen Gästen der Fußball-WM sollte damals der | |
| Anblick des Elendsviertels erspart bleiben. | |
| Padre Tonga, ständig am Handy, setzt dagegen voll auf Sichtbarkeit. | |
| Signalrot, Flaschengrün, Orange – die Gebäude seiner Pfarrei „Virgen del | |
| Carmen“ leuchten in der Novembersonne. Vor dem Gemeindehaus warten etwa 15 | |
| Frauen, Rosenkränze in der Hand, kleine Kinder auf dem Schoß. Die größeren | |
| beichten gerade bei Colombres’ Mitbruder, ihre Erstkommunion steht an. | |
| „Der Kampf mit den Narcos wird härter“, sagt Padre Tonga. Einer seiner | |
| Mitbrüder, der argentinienweit bekannte Pepe di Paola, zog vor Kurzem in | |
| einen anderen Landesteil, weil die Drogenbarone ihn mit dem Tod bedrohten. | |
| Das zeigt, wie ernst die Narcos die Sozialarbeit der Armenpriester nehmen. | |
| Nur will der Präsident kein Geld mehr dafür ausgeben. | |
| Padre Tonga und seine Mitbrüder sehen sich in der Tradition von Carlos | |
| Mugica. In den Fünfzigerjahren ließ der seine vornehme Herkunft und das | |
| Jurastudium hinter sich, um als Priester bei den Armen in den Villas zu | |
| leben. Für Bildung, Gesundheitsversorgung und mehr soziale Gerechtigkeit | |
| setzte sich der Befreiungstheologe ein. | |
| Nicht nur mit der konservativen Kirchenleitung, auch mit den Militärs, die | |
| sich schon zur Machtergreifung anschickten, geriet er darüber in Konflikte, | |
| am 11. Mai 1974 erschossen sie Mugica nach einer Messe. Seine letzten | |
| Worte: „Jetzt, mehr als je zuvor, müssen wir beim Volk sein.“ | |
| ## Die andere Ikone: Diego Maradona | |
| In diesem Geist lässt Padre Tonga an allen Ecken der Ciudad oculta kleine | |
| Kapellen bauen, die schaffen Beschäftigung und wirken wie Markierungen: | |
| Hier herrscht die Jungfrau Maria, nicht die Kokainpaste. An den Kapellen | |
| treffen sich regelmäßig die „kleinen Entdecker“ zu Spielen und Ausflügen. | |
| Ein Musikfestival und Tanzabende bietet die Kirchengemeinde, bolivianischen | |
| Tanz, paraguayischen, Einkehrtage für Frauen. Die wirksamste Waffe gegen | |
| die Drogen aber, sagt Padre Tonga, sei etwas anderes. | |
| Am Bolzplatz des Viertels teilt sich die heilige Jungfrau die Wand mit | |
| einer anderen Ikone: im himmelblau-weißen Dress, nur wenige Kilometer von | |
| hier geboren, Diego Maradona, drogengeschädigte Hand Gottes. | |
| 150 Kinder betreut die Kirchengemeinde in ihrem Kindergarten, 400 in der | |
| Grundschule. Im Fußballklub, da kann Tonga seinen Stolz kaum verbergen, | |
| sind 800 Kinder und Jugendliche organisiert. Zweimal die Woche haben die | |
| jungen Frauen Futsal-Training, viermal die Woche trainieren die Jungs, | |
| Jahrgänge 2006 bis 2010. Sie sind besonders gefährdet, sollen möglichst | |
| wenig leere Zeit haben. | |
| „Sie sehen, dass die, die sich mit den Narcos einlassen, plötzlich ein | |
| Stockwerk draufsetzen oder sich ein Auto kaufen“, sagt Padre Tonga auf dem | |
| Weg zum Hallentraining der Jüngsten. Das schnelle Geld lockt. Dem entgegen | |
| will der Priester die Jugendlichen Fleiß und Verantwortungsgefühl lehren, | |
| den Glauben an die Virgen und in den eigenen Wert. | |
| ## Beten vor dem Spiel | |
| „Jungfrau Maria, wir gehören dir. Jeden Tag versuchen wir, eine gute | |
| Familie zu sein, in der niemand ausgeschlossen wird und jeder seinen Platz | |
| findet“, betet einer der Jungen in der Sporthalle aus Klinker, vor beiden | |
| Teams, vor seiner Trainerin. Grün und Weiß sind die Farben des Fußballklubs | |
| von Padre Tongas Gemeinde, vor jedem Spiel wird gebetet: „Wir wollen ein | |
| Licht in unserer Nachbarschaft sein, das Spiel des Lebens gewinnen, wie | |
| Jesus mit Leidenschaft für das Gute leben … Immer weiter, vorwärts!“ Die | |
| anderen kleinen Lungen holen Luft: Amen! | |
| Es ist 19.10 Uhr, unten in der Halle pfeift die Trainerin das Spiel an, | |
| oben, in drei der Klassenräume, sitzen die Erwachsenen zusammen, die den | |
| Schulabschluss nachholen möchten. Auch die Erwachsenenbildung wollte die | |
| Regierung wegkürzen, sagt Padre Tonga, der durch die Fenster den | |
| Abendschüler:innen zuwinkt. Doch in diesem Fall hätte der Protest Erfolg | |
| gehabt, das Programm laufe zunächst weiter. | |
| In einem blauen Gebäude direkt neben der Kirche bietet Padre Tongas | |
| Gemeinde 40 Männern für die Zeit des Drogenentzugs eine Unterkunft. „Noch | |
| bezahlt die Stadt die Therapie“, sagt Colombres. „Aber wie lange noch?“ | |
| Auf die Stadt Buenos Aires und die anderen 23 Provinzen des Landes setzen | |
| jetzt viele, was die Sozialzuschüsse, Umweltauflagen und den Erhalt der | |
| Demokratie angeht. Bislang gehört keine:r der Gouverneur:innen zu | |
| Mileis Partei La Libertad Avanza. Doch in einem Jahr stehen die | |
| Provinzwahlen an und schon jetzt entzieht der Präsident den widerständigen | |
| unter den Gouverneur:innen das Geld, das ihnen eigentlich aus dem | |
| nationalen Haushalt zusteht. „Auch der Bürgermeister von Buenos Aires passt | |
| sich an Milei an“, klagt Padre Tonga auf dem Schulflur. | |
| Schon vor der Präsidentschaftswahl 2023 haben die Armenpriester vor Mileis | |
| Plänen gewarnt. Aus ganz Argentinien kamen sie nach Buenos Aires, um eine | |
| Protestmesse vor Tausenden Armen zu feiern, in einem offenen Brief | |
| schrieben sie: „Wir glauben, dass die Vergötterung des Marktes zu einer | |
| Entmenschlichung führt“. Wenn man nur Löwen wecke, sei es logisch, „dass | |
| die wehrlosesten Lämmer gefressen werden“. | |
| Dass Mileis Leute die Militärdiktatur relativieren, stößt den Priestern | |
| auf, dass der Präsident sich als Messias der Argentinier inszeniert, | |
| genauso. Und vor allem ärgert sie, wie Milei mit ihrem Oberhaupt umgeht. | |
| ## Der Präsident und der Papst | |
| Papst Franziskus, selbst geprägt durch die Befreiungstheologie, gibt sich | |
| diplomatisch, was den Präsidenten seines Heimatlandes betrifft. „Keine | |
| Regierung kann moralisch verlangen, dass ihre Bevölkerung Entbehrungen | |
| erleidet, die mit der Menschenwürde unvereinbar sind“, formulierte er | |
| einmal allgemein. In vorsichtigem Protest ließ er sich mit | |
| Gewerkschafter:innen der staatlichen Fluggesellschaft fotografieren, | |
| die Milei privatisieren will. | |
| Der Präsident hingegen nannte den Papst schon „Hurensohn“ und unterstellte | |
| ihm einen „ruchlosen Charakter“. In einem Interview sagte Milei: „Der Pap… | |
| ist der Vertreter des Bösen auf Erden, der den Thron des Hauses Gottes | |
| besetzt. Der Papst fördert den Kommunismus mit all den Katastrophen, die er | |
| verursacht hat.“ | |
| Im März machte eine weitere Messe der Armenpriester Furore, bei der | |
| skandiert wurde: „Das Vaterland steht nicht zum Verkauf.“ Für den | |
| Erzbischof von Buenos Aires ging das zu weit, er pfiff die Priester zurück: | |
| Gottesdienste dürften nicht für politische Zwecke instrumentalisiert | |
| werden. | |
| „Wir Curas villeros stehen nicht auf der Seite einer Partei“, sagt Padre | |
| Tonga, das Thema scheint ihm unangenehm. Bei der Priestergemeinschaft | |
| Option für die Armen sei das anders, sie sei tatsächlich mit der Peronistin | |
| Cristina Kirchner verbunden. Seine Mitbrüder hingegen verhandelten mit | |
| allen politischen Akteur:innen, wenn es den Armen dient. „Auf unterer Ebene | |
| kann man auch mit Mileis Leuten reden“, das tue er. Mit Respekt. Den | |
| allerdings vermisst Padre Tonga beim Präsidenten selbst. „Ich meine, das | |
| ist der Papst!“ | |
| Tatsächlich gebe es zu viel Korruption, sagt Padre Tonga, auch innerhalb | |
| der sozialen Bewegungen. Der Reformbedarf sei groß, doch Mileis Kurs sei zu | |
| radikal. „Ausgleich, soziale Gerechtigkeit, das ist die Aufgabe des | |
| Staates!“ Allein schon, um die Narcos in Schach zu halten. | |
| ## Zehntausende haben ihre Jobs verloren | |
| Zwar sank im November die Jahresinflation im Land, im Vergleich zum | |
| Vormonat stieg sie aber wieder leicht an. Das argentinische | |
| Bruttoinlandsprodukt werde um 3,5 Prozent schrumpfen, prognostiziert die | |
| Weltbank. Selbst liberale Ökonomen wie Hans-Dieter Holtzmann, Chef der | |
| FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Buenos Aires, fragen sich, ob | |
| Mileis gute Zahlen über Einmaleffekte hinaus anhalten. Wo der soziale | |
| Ausgleich fehle, würden auch ausländische Investitionen riskanter, sagt | |
| Holtzmann. | |
| Zehntausende haben ihre Arbeit in Bibliotheken, bei der Post oder den | |
| Ferrocarriles Argentinos, der Eisenbahn, verloren. Das Trinkwasser soll | |
| jetzt privatisiert werden, die Subventionen für Strom, Lebensmittel, Benzin | |
| sind passé. Trotzdem unterstützt noch etwa die Hälfte der Bevölkerung | |
| Mileis Politik. | |
| „Der Mittelschicht hat er gesagt, dass sie leiden wird, jetzt leidet sie“, | |
| sagt Padre Tonga. Die Argentinier:innen schätzen solche Ehrlichkeit – | |
| und wollen hoffen, dass es ihnen langfristig besser geht. Bislang drückt | |
| Milei seine Politik per Dekret durch, im Parlament hat er keine Mehrheit. | |
| Das wird sich bei den Kongresswahlen in einem Jahr ändern, davon ist Padre | |
| Tonga überzeugt. Auf der „anderen Seite“ gäbe es schlicht keine starken | |
| Kandidat:innen. | |
| Hier in der verborgenen Stadt, wo Mileis Kettensäge bis in die Körper der | |
| Armen dringt, lebten vor allem Zugewanderte aus Venezuela, Bolivien, | |
| Paraguay, sagt der Priester. Sie haben keine Wahl. | |
| 7 Dec 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Argentiniens-Praesident-bei-der-CPAC/!6049510 | |
| [2] /Ruecktrittsforderungen-gegen-Lindner/!6049990 | |
| [3] /Sozialpolitik-in-Argentinien/!6018771 | |
| [4] /Sozialpolitik-in-Argentinien/!6018771 | |
| [5] /Proteste-in-Argentinien/!6040634 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Hunglinger | |
| ## TAGS | |
| Argentinien | |
| Javier Milei | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Ökonomie | |
| Sozialstaat | |
| Drogen | |
| Papst Franziskus | |
| wochentaz | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| GNS | |
| Kolumne Stadtgespräch | |
| Bildungspolitik | |
| Buenos Aires | |
| Schwerpunkt USA unter Trump | |
| Bitcoin | |
| Javier Milei | |
| Christian Lindner | |
| G20-Gipfel | |
| Argentinien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kongresswahl in Argentinien: Wo Hundefutter zur Anlage wird | |
| Vor der Parlamentswahl in Argentinien hat der US-Finanzminister einen | |
| Währungstausch in Milliardenhöhe verkündet. Doch nur, wenn Javier Milei | |
| gewinnt. | |
| Sparkurs im spanischen Bildungssystem: Technik aus dem Museum | |
| Auch an der zweitgrößten Universität der spanischen Hauptstadt Madrid ist | |
| die Lage katastrophal. Das liegt vor allem am Sparkurs der | |
| Regionalregierung. | |
| Opfer der Militärdiktatur: Großmütter der Plaza de Mayo finden 138. Enkelkind | |
| Die Großmütter der Plaza de Mayo suchen jene, die während der | |
| Militärdiktatur von 1976 bis 1983 ihren Müttern in Folterzentren entrissen | |
| wurden. | |
| Elon Musk torpediert Haushaltseinigung: Schützt die Demokratien vor den Superr… | |
| Milliardäre wie Elon Musk können sich politischen Einfluss kaufen – siehe | |
| USA, siehe Großbritannien. Ihr Vermögen nur zu besteuern, reicht nicht. | |
| Trump und Krypto: Brandgefährliche Bitcoin-Versprechen | |
| Donald Trumps Versprechungen lassen die Kurse von Kryptowährungen steigen. | |
| Doch seine Vorhaben sind rechtslibertär und brandgefährlich. | |
| Argentiniens Präsident Javier Milei: Schnell zum Italiener gemacht | |
| Seine Großeltern waren vergangenes Jahrhundert ausgewandert. Jetzt stattet | |
| die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ihren Gast mit der | |
| Staatsbürgerschaft aus. Die Opposition ist wenig begeistert. | |
| Christian Lindner: Die libertären Posterboys | |
| Die FDP kratzt am Existenzminimum – der Fünfprozenthürde. Parteichef | |
| Lindner sieht das als dornige Chance und setzt auf irre Vorbilder wie Elon | |
| Musk. | |
| G20-Gipfel in Brasilien: Milei will mit Kapitalismus aus der Armut | |
| Erstmals trafen sich Brasiliens Präsident Lula und Argentiniens Präsident | |
| Milei auf dem G20-Gipfel in Rio de Janeiro. Die Stimmung blieb unterkühlt. | |
| Proteste in Argentinien: Marschieren für die Bildung | |
| In Buenos Aires protestieren Hunderttausende gegen den Sparkurs an | |
| Universitäten. Sie fordern, deren Finanzierung der Inflation anzugleichen. |