# taz.de -- Argentinien ein Jahr unter Javier Milei: Arm sein im Anarcho-Kapita… | |
> Argentiniens Präsident legt die Kettensäge an den Sozialstaat. In den | |
> Elendsvierteln von Buenos Aires nutzt das vor allem den Drogenbaronen. | |
Bild: Buenos Aires, glitzernde Wolkenkratzer im Hintergrund, vorne das Elendsvi… | |
Buenos Aires taz | Schnell, schnell weg von dieser Straßenecke. Mari | |
Ventura drängelt plötzlich, die kleine Frau mit Brille wittert Ärger in der | |
Villa 31, einem Elendsviertel der argentinischen Hauptstadt. Aus den | |
Billigshops hier dröhnt Popmusik, vor einer der knallbunten Baracken stehen | |
Drogenabhängige Schlange, wohl um an „Paco“ zu kommen, Kokainpaste. Weiter | |
hinten drücken sich behelmte Polizisten auf zwei Quads durch die | |
menschenvolle Gasse. Mari Ventura, 40 Jahre alt, Kindergärtnerin, | |
Aktivistin, will weg sein, wenn Polizei und „los Narcos“, die Dealer, | |
aufeinandertreffen. | |
Etwa 40.000 Personen hausen in der Villa 31. Wie in anderen argentinischen | |
„Villas miserias“ leben die Menschen hier seit Jahrzehnten in einer elenden | |
Balance aus Selbsthilfe, Kriminalität und staatlicher Kontrolle. Doch, sagt | |
Mari Ventura wenig später an einer ruhigeren Ecke: Seit ein Staatsfeind das | |
Land regiert, kippt die Lage. | |
Mit einer Kettensäge war Javier Milei 2023 in den argentinischen | |
Präsidentschaftswahlkampf gezogen, um den aufgeblähten Sozialstaat zu | |
zerlegen. Eine Schocktherapie verordnete der frühere Wirtschaftsprofessor | |
dem von Krisen gebeutelten Land. Ein Jahr ist seit Mileis Vereidigung | |
vergangen und manche Entwicklung gibt seinem „anarcho-kapitalistischen“ | |
Kurs recht. | |
Die Hyperinflation ist gesunken, die Preise für Brot, Kaffee, Fleisch sind | |
hoch, aber stabiler, mit langfristigen Steuervergünstigungen will Milei | |
ausländische Investoren ins Land locken. Darauf hoffen viele in der | |
Mittelschicht, die Unternehmer:innen in den funkelnden Wolkenkratzern | |
von Buenos Aires feiern es. | |
## Wer „mehr Milei wagen“ will | |
„Sie sind mein Lieblingspräsident“, schmachtete auch Donald Trump nach | |
seinem Wahlsieg in den USA in einem Telefonat mit Milei, [1][wenig später | |
lud er den Argentinier zu sich nach Hause ein], gemeinsam mit Elon Musk. | |
Auf der anderen Seite des Atlantiks will [2][der FDP-Vorsitzende Christian | |
Lindner] jetzt „mehr Milei wagen“. Doch was Milei, was eine Schocktherapie | |
für die Schwächsten in einer Gesellschaft bedeutet, bleibt hinter den | |
Slogans und Wirtschaftsdaten verdeckt. | |
Wie staubig-schwarze Spinnweben hängen die selbst gebastelten | |
Stromleitungen über den Gassen der Villa 31. Immer wieder fangen sie Feuer, | |
gerade jetzt, im argentinischen Sommer. Mitte November starben hier zwei | |
Menschen bei einem Kabelbrand. Hoch über dem Leitungsknäuel spannen sich | |
die Brücken der Autopista Arturo Illia, am Eingang der Villa liegt ein | |
Markt, daneben Haufen von Müll, der wochenlang nicht abgeholt wurde. Einige | |
stochern im gärenden Unrat nach Verwertbarem. Ein Bekannter von Mari | |
Ventura zeigt auf die Szene und sagt: „Hier sind unsere Investitionen.“ | |
Die Armut in der Villa 31 ist alt. Das Viertel liegt eingeklemmt zwischen | |
den Hafenanlagen von Buenos Aires und den Gleisen des Bahnhofs Retiro. | |
Schon in den 1930er Jahren bauten sich in der Weltwirtschaftskrise verarmte | |
Eisenbahnarbeiter hier erste Hütten. Krisen hat Argentinien seitdem viele | |
erlebt, seit 2009 hat sich die Bewohnerzahl in der Villa 31 nahezu | |
verdoppelt. | |
Knapp 40 Prozent der 46 Millionen Argentinier:innen fristeten schon | |
vor Mileis Amtsantritt ihr Leben unterhalb der Armutsgrenze, heute sind es | |
über die Hälfte. [3][Fast ein Fünftel lebt in extremer Armut,] wie sie | |
sich in der Villa 31 zeigt, beinahe zwei Drittel der Kinder müssen mit | |
einer Mahlzeit am Tag auskommen. | |
## Kulturkampf und Kettensäge | |
Auf ihrer Kindergärtnerinnenschürze trägt Mari Ventura den roten Stern der | |
„Frente de Organizaciones en lucha“ (FOL), einer linksradikalen Gruppe, mit | |
der Arme sich Gehör verschaffen wollen, aber auch soziale Aufgaben | |
übernehmen. Der „Comedor“ etwa, die Volksküche der FOL, ist ein weiß | |
gefliester Raum von 15 Quadratmetern, hier waschen zwei Genossinnen an | |
diesem Vormittag schon Hühnerbeine und schälen Kartoffeln, hacken | |
Knoblauch. | |
Gegessen wird später draußen, unter den bunt bemalten Autobahnpfeilern, 200 | |
Menschen werden so von Montag bis Freitag versorgt. Über 44.000 solcher | |
Volksküchen sind landesweit registriert, in der Coronapandemie haben sie | |
Hunderttausenden, auch aus der unteren Mittelschicht, das Überleben | |
gesichert. Mehr oder weniger gut selbst organisiert, mit Subventionen aus | |
dem nationalen Haushalt. Bis die Kettensäge kam. | |
Schon in den Vierzigerjahren setzten die schöne Evita und ihr Mann, | |
Präsident Juan Perón, auf einen Populismus der Almosen. Ihr „Peronismus“ | |
lebte seitdem in sehr unterschiedlichen Spielarten weiter. Insbesondere | |
linksperonistische Regierungen wie die von Néstor Kirchner und Cristina | |
Fernández de Kirchner, 2003 bis 2015, stützten sich auf die sozialen | |
Bewegungen. Auf öffentliche Arbeitsbeschaffung und auf die Macht der | |
argentinischen Gewerkschaften – Staatsverschuldung und Korruptionsvorwürfe | |
inklusive. | |
Gegen diese peronistische „Kaste“ trat Javier Milei an, als | |
Outsiderpräsident propagiert er den Kahlschlag der Institutionen. Zum | |
Amtsantritt zeigte er auf Tiktok, wie er die Hälfte der Behörden aus dem | |
staatlichen Organigramm reißt: „Kulturministerium, weg damit! | |
Umweltministerium, weg damit!“ | |
Die Volksküchen? Weg damit! Präsident Milei nennt linke Gruppen wie die FOL | |
„Terroristen“. Die Menschenrechtsorganisation CELS klagt, dass seit Mileis | |
Amtsantritt Armutsrentner:innen und andere, die gegen seinen Sparkurs | |
demonstrieren, mit übermäßigem Polizeiaufgebot eingeschüchtert werden. | |
Milei geht es nicht allein um einen ausgeglichenen Haushalt, er führt einen | |
autoritären Kulturkampf. | |
## Eine Superministerin für „Humankapital“ | |
Mit dem Frauenministerium soll auch die „Genderideologie“ fallen, | |
Frauenhäusern kappt er die Zuschüsse. Den bedrohten Frauen im Gewirr der | |
Villa 31 bleibt noch die „Casa invisible“, das unsichtbare Haus der linken | |
Bewegungen im Viertel. Und die Telefonnummer der FOL. „Wenn die Männer ihre | |
Frauen umbringen wollen, versuchen wir zumindest, die Frauen rauszuholen“, | |
sagt Mari Ventura. | |
Bildung, Kultur, Arbeit, Soziales – diese Bereiche hat Präsident Milei in | |
einem „Ministerium für Humankapital“ zusammengefasst. [4][Superministerin | |
Sandra Pettovello] lässt gerade jede Büste, jedes Porträt der mildtätigen | |
Evita Perón aus den öffentlichen Gebäuden tilgen, sozialen Bewegungen wie | |
der FOL liefert ihr Ministerium keine Grundnahrungsmittel für ihre | |
Volksküchen mehr. | |
Als im Sommer herauskam, dass bei 300 Tonnen staatlich gebunkertem | |
Milchpulver das Haltbarkeitsdatum ablaufen würde, ließ die Ministerin die | |
Trockenmilch durch das Militär einer Stiftung der rechtskatholischen | |
Organisation Opus Dei übergeben. Kurz zuvor hatte Pettovello mit | |
evangelikalen Fundamentalisten Verträge über eigene Volksküchen | |
geschlossen. Die neuen Sozialpartnerschaften der Milei-Regierung: | |
erzkonservativ. | |
Mari Ventura leitet 200 Meter von der linksradikalen Volksküche entfernt | |
einen Kindergarten der FOL. Noch. Ventura öffnet leise die Tür im | |
Erdgeschoss, denn die 15 Kinder hier unten halten gerade genau wie die im | |
ersten Stock auf roten und gelben Matten Mittagsschlaf. An der Wand hängen | |
ihre kleinen Rucksäcke, über jedem Haken ein Name: Calet, Magaly, Zoe, | |
Jhoel. Auch hier im Kindergarten wird schon das Mittagessen vorbereitet. | |
Auch hier fehlen die nationalen Lieferungen von Nahrungsmitteln. | |
Zwei Kindergärten musste FOL schon schließen, sagt Mari Ventura im stillen | |
Lagerraum, neben Säcken mit Reis, Nudeln, Linsen. Die kommen jetzt teils | |
von der Stadt Buenos Aires, teils sind es Spenden. Ventura selbst verdient | |
nur noch die Hälfte, sagt sie, 78.000 Pesos im Monat, in etwa 80 Euro. „Das | |
ist nicht nichts, aber es reicht nicht. Wenn ich nicht Lebensmittel aus dem | |
Kindergarten mitnehmen könnte, würde ich unter einer Brücke leben.“ | |
## Hocharbeiten für ein Mittelschichtsleben | |
Die Kinder bleiben bis zum späten Nachmittag in der Obhut von Ventura und | |
ihren Kolleginnen, die Eltern, Putzkräfte, Lager- oder Bauarbeiter, sind | |
auf den Kindergarten angewiesen. Über vierzig Prozent der argentinischen | |
Bevölkerung arbeitet im „informellen Sektor“. Sie halten das Land am | |
Laufen, sind aber meist nicht versichert. Steuern zahlen sie selten, sehr | |
zum Ärger der Mittelschicht. Dass Milei ihnen jetzt die staatlichen Almosen | |
streicht, finden nicht wenige einfach gerecht. Auch rassistische Vorurteile | |
mögen eine Rolle spielen. Die Villas und ihre Bewohner:innen kennen | |
viele Argentinier:innen nur aus dem Fernsehen. | |
An einer silbernen Kette trägt Mari Ventura ein Herz um den Hals, darauf | |
eingraviert die Gesichter ihrer Kinder. Die älteste Tochter, 21, hat es | |
geschafft, sich hochzuarbeiten, studiert Medizin. Dass sie wie viele junge | |
Menschen mit Ambitionen auf ein Mittelschichtsleben Milei gewählt hat, | |
frustriert die linke Mutter. [5][Ohne das öffentliche, kostenlose | |
Bildungssystem, das Milei jetzt zusammenstreicht,] hätte sie ihrem Kind | |
kein Studium ermöglichen können, sagt Ventura. „Er hat Gehirnwäsche | |
betrieben mit all seinen Versprechungen im Wahlkampf.“ | |
Unter Venturas vielen Sorgen sind die Narcos die größte. Denn wo der Staat | |
sich zurückzieht, hätten die Drogenbarone freien Lauf. Bislang ist | |
Argentinien weit entfernt von den Drogenproblemen anderer Länder | |
Lateinamerikas. Doch vom Kokain, das über die Flussschifffahrt aus Peru und | |
Bolivien kommt und weiter nach Europa soll, bleiben immer mehr | |
Nebenprodukte in den Häfen Argentiniens hängen. Mit desaströsen Folgen. | |
„Die Narcos wollen nicht, dass die Kinder zur Schule und auf die | |
Universität gehen“, sagt Mari Ventura. Sie suchten junge Kunden und Dealer; | |
wo die Sozialarbeit weggekürzt werde, hätten sie leichtes Spiel. | |
Gastón Colombres, 37, braun gebrannt, offener Priesterkragen, sieht das | |
ganz ähnlich. Bei einem Rundgang durch die „Ciudad oculta“, 20 Kilometer | |
weiter im Süden von Buenos Aires, schüttelt der Geistliche allerlei Hände. | |
Ein junger Mann kommt zu „Tonga“, wie ihn alle hier nennen, um seine | |
Kreuzhalskette segnen zu lassen. | |
## Der Kampf mit den Narcos | |
Auch die Ciudad oculta ist überspannt mit Stromleitungsknäueln, in den | |
Gassen stöbern herrenlose Hündchen im Müll. „Die Armen müssen sich selbst | |
retten“, sagt Padre Tonga. Doch egal was sie sich aufbauten, es sei | |
gefährdet. „Die Drogen zerstören alles.“ Und Mileis Regierung interessiert | |
sich nicht dafür. | |
Dass die Villa 15 „verborgene Stadt“ genannt wird, erklären sich ihre | |
Bewohner:innen mit einer Mauer, die die Militärdiktatur 1978 vor ihrem | |
Viertel hochzog. Ausländischen Gästen der Fußball-WM sollte damals der | |
Anblick des Elendsviertels erspart bleiben. | |
Padre Tonga, ständig am Handy, setzt dagegen voll auf Sichtbarkeit. | |
Signalrot, Flaschengrün, Orange – die Gebäude seiner Pfarrei „Virgen del | |
Carmen“ leuchten in der Novembersonne. Vor dem Gemeindehaus warten etwa 15 | |
Frauen, Rosenkränze in der Hand, kleine Kinder auf dem Schoß. Die größeren | |
beichten gerade bei Colombres’ Mitbruder, ihre Erstkommunion steht an. | |
„Der Kampf mit den Narcos wird härter“, sagt Padre Tonga. Einer seiner | |
Mitbrüder, der argentinienweit bekannte Pepe di Paola, zog vor Kurzem in | |
einen anderen Landesteil, weil die Drogenbarone ihn mit dem Tod bedrohten. | |
Das zeigt, wie ernst die Narcos die Sozialarbeit der Armenpriester nehmen. | |
Nur will der Präsident kein Geld mehr dafür ausgeben. | |
Padre Tonga und seine Mitbrüder sehen sich in der Tradition von Carlos | |
Mugica. In den Fünfzigerjahren ließ der seine vornehme Herkunft und das | |
Jurastudium hinter sich, um als Priester bei den Armen in den Villas zu | |
leben. Für Bildung, Gesundheitsversorgung und mehr soziale Gerechtigkeit | |
setzte sich der Befreiungstheologe ein. | |
Nicht nur mit der konservativen Kirchenleitung, auch mit den Militärs, die | |
sich schon zur Machtergreifung anschickten, geriet er darüber in Konflikte, | |
am 11. Mai 1974 erschossen sie Mugica nach einer Messe. Seine letzten | |
Worte: „Jetzt, mehr als je zuvor, müssen wir beim Volk sein.“ | |
## Die andere Ikone: Diego Maradona | |
In diesem Geist lässt Padre Tonga an allen Ecken der Ciudad oculta kleine | |
Kapellen bauen, die schaffen Beschäftigung und wirken wie Markierungen: | |
Hier herrscht die Jungfrau Maria, nicht die Kokainpaste. An den Kapellen | |
treffen sich regelmäßig die „kleinen Entdecker“ zu Spielen und Ausflügen. | |
Ein Musikfestival und Tanzabende bietet die Kirchengemeinde, bolivianischen | |
Tanz, paraguayischen, Einkehrtage für Frauen. Die wirksamste Waffe gegen | |
die Drogen aber, sagt Padre Tonga, sei etwas anderes. | |
Am Bolzplatz des Viertels teilt sich die heilige Jungfrau die Wand mit | |
einer anderen Ikone: im himmelblau-weißen Dress, nur wenige Kilometer von | |
hier geboren, Diego Maradona, drogengeschädigte Hand Gottes. | |
150 Kinder betreut die Kirchengemeinde in ihrem Kindergarten, 400 in der | |
Grundschule. Im Fußballklub, da kann Tonga seinen Stolz kaum verbergen, | |
sind 800 Kinder und Jugendliche organisiert. Zweimal die Woche haben die | |
jungen Frauen Futsal-Training, viermal die Woche trainieren die Jungs, | |
Jahrgänge 2006 bis 2010. Sie sind besonders gefährdet, sollen möglichst | |
wenig leere Zeit haben. | |
„Sie sehen, dass die, die sich mit den Narcos einlassen, plötzlich ein | |
Stockwerk draufsetzen oder sich ein Auto kaufen“, sagt Padre Tonga auf dem | |
Weg zum Hallentraining der Jüngsten. Das schnelle Geld lockt. Dem entgegen | |
will der Priester die Jugendlichen Fleiß und Verantwortungsgefühl lehren, | |
den Glauben an die Virgen und in den eigenen Wert. | |
## Beten vor dem Spiel | |
„Jungfrau Maria, wir gehören dir. Jeden Tag versuchen wir, eine gute | |
Familie zu sein, in der niemand ausgeschlossen wird und jeder seinen Platz | |
findet“, betet einer der Jungen in der Sporthalle aus Klinker, vor beiden | |
Teams, vor seiner Trainerin. Grün und Weiß sind die Farben des Fußballklubs | |
von Padre Tongas Gemeinde, vor jedem Spiel wird gebetet: „Wir wollen ein | |
Licht in unserer Nachbarschaft sein, das Spiel des Lebens gewinnen, wie | |
Jesus mit Leidenschaft für das Gute leben … Immer weiter, vorwärts!“ Die | |
anderen kleinen Lungen holen Luft: Amen! | |
Es ist 19.10 Uhr, unten in der Halle pfeift die Trainerin das Spiel an, | |
oben, in drei der Klassenräume, sitzen die Erwachsenen zusammen, die den | |
Schulabschluss nachholen möchten. Auch die Erwachsenenbildung wollte die | |
Regierung wegkürzen, sagt Padre Tonga, der durch die Fenster den | |
Abendschüler:innen zuwinkt. Doch in diesem Fall hätte der Protest Erfolg | |
gehabt, das Programm laufe zunächst weiter. | |
In einem blauen Gebäude direkt neben der Kirche bietet Padre Tongas | |
Gemeinde 40 Männern für die Zeit des Drogenentzugs eine Unterkunft. „Noch | |
bezahlt die Stadt die Therapie“, sagt Colombres. „Aber wie lange noch?“ | |
Auf die Stadt Buenos Aires und die anderen 23 Provinzen des Landes setzen | |
jetzt viele, was die Sozialzuschüsse, Umweltauflagen und den Erhalt der | |
Demokratie angeht. Bislang gehört keine:r der Gouverneur:innen zu | |
Mileis Partei La Libertad Avanza. Doch in einem Jahr stehen die | |
Provinzwahlen an und schon jetzt entzieht der Präsident den widerständigen | |
unter den Gouverneur:innen das Geld, das ihnen eigentlich aus dem | |
nationalen Haushalt zusteht. „Auch der Bürgermeister von Buenos Aires passt | |
sich an Milei an“, klagt Padre Tonga auf dem Schulflur. | |
Schon vor der Präsidentschaftswahl 2023 haben die Armenpriester vor Mileis | |
Plänen gewarnt. Aus ganz Argentinien kamen sie nach Buenos Aires, um eine | |
Protestmesse vor Tausenden Armen zu feiern, in einem offenen Brief | |
schrieben sie: „Wir glauben, dass die Vergötterung des Marktes zu einer | |
Entmenschlichung führt“. Wenn man nur Löwen wecke, sei es logisch, „dass | |
die wehrlosesten Lämmer gefressen werden“. | |
Dass Mileis Leute die Militärdiktatur relativieren, stößt den Priestern | |
auf, dass der Präsident sich als Messias der Argentinier inszeniert, | |
genauso. Und vor allem ärgert sie, wie Milei mit ihrem Oberhaupt umgeht. | |
## Der Präsident und der Papst | |
Papst Franziskus, selbst geprägt durch die Befreiungstheologie, gibt sich | |
diplomatisch, was den Präsidenten seines Heimatlandes betrifft. „Keine | |
Regierung kann moralisch verlangen, dass ihre Bevölkerung Entbehrungen | |
erleidet, die mit der Menschenwürde unvereinbar sind“, formulierte er | |
einmal allgemein. In vorsichtigem Protest ließ er sich mit | |
Gewerkschafter:innen der staatlichen Fluggesellschaft fotografieren, | |
die Milei privatisieren will. | |
Der Präsident hingegen nannte den Papst schon „Hurensohn“ und unterstellte | |
ihm einen „ruchlosen Charakter“. In einem Interview sagte Milei: „Der Pap… | |
ist der Vertreter des Bösen auf Erden, der den Thron des Hauses Gottes | |
besetzt. Der Papst fördert den Kommunismus mit all den Katastrophen, die er | |
verursacht hat.“ | |
Im März machte eine weitere Messe der Armenpriester Furore, bei der | |
skandiert wurde: „Das Vaterland steht nicht zum Verkauf.“ Für den | |
Erzbischof von Buenos Aires ging das zu weit, er pfiff die Priester zurück: | |
Gottesdienste dürften nicht für politische Zwecke instrumentalisiert | |
werden. | |
„Wir Curas villeros stehen nicht auf der Seite einer Partei“, sagt Padre | |
Tonga, das Thema scheint ihm unangenehm. Bei der Priestergemeinschaft | |
Option für die Armen sei das anders, sie sei tatsächlich mit der Peronistin | |
Cristina Kirchner verbunden. Seine Mitbrüder hingegen verhandelten mit | |
allen politischen Akteur:innen, wenn es den Armen dient. „Auf unterer Ebene | |
kann man auch mit Mileis Leuten reden“, das tue er. Mit Respekt. Den | |
allerdings vermisst Padre Tonga beim Präsidenten selbst. „Ich meine, das | |
ist der Papst!“ | |
Tatsächlich gebe es zu viel Korruption, sagt Padre Tonga, auch innerhalb | |
der sozialen Bewegungen. Der Reformbedarf sei groß, doch Mileis Kurs sei zu | |
radikal. „Ausgleich, soziale Gerechtigkeit, das ist die Aufgabe des | |
Staates!“ Allein schon, um die Narcos in Schach zu halten. | |
## Zehntausende haben ihre Jobs verloren | |
Zwar sank im November die Jahresinflation im Land, im Vergleich zum | |
Vormonat stieg sie aber wieder leicht an. Das argentinische | |
Bruttoinlandsprodukt werde um 3,5 Prozent schrumpfen, prognostiziert die | |
Weltbank. Selbst liberale Ökonomen wie Hans-Dieter Holtzmann, Chef der | |
FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Buenos Aires, fragen sich, ob | |
Mileis gute Zahlen über Einmaleffekte hinaus anhalten. Wo der soziale | |
Ausgleich fehle, würden auch ausländische Investitionen riskanter, sagt | |
Holtzmann. | |
Zehntausende haben ihre Arbeit in Bibliotheken, bei der Post oder den | |
Ferrocarriles Argentinos, der Eisenbahn, verloren. Das Trinkwasser soll | |
jetzt privatisiert werden, die Subventionen für Strom, Lebensmittel, Benzin | |
sind passé. Trotzdem unterstützt noch etwa die Hälfte der Bevölkerung | |
Mileis Politik. | |
„Der Mittelschicht hat er gesagt, dass sie leiden wird, jetzt leidet sie“, | |
sagt Padre Tonga. Die Argentinier:innen schätzen solche Ehrlichkeit – | |
und wollen hoffen, dass es ihnen langfristig besser geht. Bislang drückt | |
Milei seine Politik per Dekret durch, im Parlament hat er keine Mehrheit. | |
Das wird sich bei den Kongresswahlen in einem Jahr ändern, davon ist Padre | |
Tonga überzeugt. Auf der „anderen Seite“ gäbe es schlicht keine starken | |
Kandidat:innen. | |
Hier in der verborgenen Stadt, wo Mileis Kettensäge bis in die Körper der | |
Armen dringt, lebten vor allem Zugewanderte aus Venezuela, Bolivien, | |
Paraguay, sagt der Priester. Sie haben keine Wahl. | |
7 Dec 2024 | |
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