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# taz.de -- Argentinien ein Jahr unter Javier Milei: Arm sein im Anarcho-Kapita…
> Argentiniens Präsident legt die Kettensäge an den Sozialstaat. In den
> Elendsvierteln von Buenos Aires nutzt das vor allem den Drogenbaronen.
Bild: Buenos Aires, glitzernde Wolkenkratzer im Hintergrund, vorne das Elendsvi…
Buenos Aires taz | Schnell, schnell weg von dieser Straßenecke. Mari
Ventura drängelt plötzlich, die kleine Frau mit Brille wittert Ärger in der
Villa 31, einem Elendsviertel der argentinischen Hauptstadt. Aus den
Billigshops hier dröhnt Popmusik, vor einer der knallbunten Baracken stehen
Drogenabhängige Schlange, wohl um an „Paco“ zu kommen, Kokainpaste. Weiter
hinten drücken sich behelmte Polizisten auf zwei Quads durch die
menschenvolle Gasse. Mari Ventura, 40 Jahre alt, Kindergärtnerin,
Aktivistin, will weg sein, wenn Polizei und „los Narcos“, die Dealer,
aufeinandertreffen.
Etwa 40.000 Personen hausen in der Villa 31. Wie in anderen argentinischen
„Villas miserias“ leben die Menschen hier seit Jahrzehnten in einer elenden
Balance aus Selbsthilfe, Kriminalität und staatlicher Kontrolle. Doch, sagt
Mari Ventura wenig später an einer ruhigeren Ecke: Seit ein Staatsfeind das
Land regiert, kippt die Lage.
Mit einer Kettensäge war Javier Milei 2023 in den argentinischen
Präsidentschaftswahlkampf gezogen, um den aufgeblähten Sozialstaat zu
zerlegen. Eine Schocktherapie verordnete der frühere Wirtschaftsprofessor
dem von Krisen gebeutelten Land. Ein Jahr ist seit Mileis Vereidigung
vergangen und manche Entwicklung gibt seinem „anarcho-kapitalistischen“
Kurs recht.
Die Hyperinflation ist gesunken, die Preise für Brot, Kaffee, Fleisch sind
hoch, aber stabiler, mit langfristigen Steuervergünstigungen will Milei
ausländische Investoren ins Land locken. Darauf hoffen viele in der
Mittelschicht, die Unternehmer:innen in den funkelnden Wolkenkratzern
von Buenos Aires feiern es.
## Wer „mehr Milei wagen“ will
„Sie sind mein Lieblingspräsident“, schmachtete auch Donald Trump nach
seinem Wahlsieg in den USA in einem Telefonat mit Milei, [1][wenig später
lud er den Argentinier zu sich nach Hause ein], gemeinsam mit Elon Musk.
Auf der anderen Seite des Atlantiks will [2][der FDP-Vorsitzende Christian
Lindner] jetzt „mehr Milei wagen“. Doch was Milei, was eine Schocktherapie
für die Schwächsten in einer Gesellschaft bedeutet, bleibt hinter den
Slogans und Wirtschaftsdaten verdeckt.
Wie staubig-schwarze Spinnweben hängen die selbst gebastelten
Stromleitungen über den Gassen der Villa 31. Immer wieder fangen sie Feuer,
gerade jetzt, im argentinischen Sommer. Mitte November starben hier zwei
Menschen bei einem Kabelbrand. Hoch über dem Leitungsknäuel spannen sich
die Brücken der Autopista Arturo Illia, am Eingang der Villa liegt ein
Markt, daneben Haufen von Müll, der wochenlang nicht abgeholt wurde. Einige
stochern im gärenden Unrat nach Verwertbarem. Ein Bekannter von Mari
Ventura zeigt auf die Szene und sagt: „Hier sind unsere Investitionen.“
Die Armut in der Villa 31 ist alt. Das Viertel liegt eingeklemmt zwischen
den Hafenanlagen von Buenos Aires und den Gleisen des Bahnhofs Retiro.
Schon in den 1930er Jahren bauten sich in der Weltwirtschaftskrise verarmte
Eisenbahnarbeiter hier erste Hütten. Krisen hat Argentinien seitdem viele
erlebt, seit 2009 hat sich die Bewohnerzahl in der Villa 31 nahezu
verdoppelt.
Knapp 40 Prozent der 46 Millionen Argentinier:innen fristeten schon
vor Mileis Amtsantritt ihr Leben unterhalb der Armutsgrenze, heute sind es
über die Hälfte. [3][Fast ein Fünftel lebt in extremer Armut,] wie sie
sich in der Villa 31 zeigt, beinahe zwei Drittel der Kinder müssen mit
einer Mahlzeit am Tag auskommen.
## Kulturkampf und Kettensäge
Auf ihrer Kindergärtnerinnenschürze trägt Mari Ventura den roten Stern der
„Frente de Organizaciones en lucha“ (FOL), einer linksradikalen Gruppe, mit
der Arme sich Gehör verschaffen wollen, aber auch soziale Aufgaben
übernehmen. Der „Comedor“ etwa, die Volksküche der FOL, ist ein weiß
gefliester Raum von 15 Quadratmetern, hier waschen zwei Genossinnen an
diesem Vormittag schon Hühnerbeine und schälen Kartoffeln, hacken
Knoblauch.
Gegessen wird später draußen, unter den bunt bemalten Autobahnpfeilern, 200
Menschen werden so von Montag bis Freitag versorgt. Über 44.000 solcher
Volksküchen sind landesweit registriert, in der Coronapandemie haben sie
Hunderttausenden, auch aus der unteren Mittelschicht, das Überleben
gesichert. Mehr oder weniger gut selbst organisiert, mit Subventionen aus
dem nationalen Haushalt. Bis die Kettensäge kam.
Schon in den Vierzigerjahren setzten die schöne Evita und ihr Mann,
Präsident Juan Perón, auf einen Populismus der Almosen. Ihr „Peronismus“
lebte seitdem in sehr unterschiedlichen Spielarten weiter. Insbesondere
linksperonistische Regierungen wie die von Néstor Kirchner und Cristina
Fernández de Kirchner, 2003 bis 2015, stützten sich auf die sozialen
Bewegungen. Auf öffentliche Arbeitsbeschaffung und auf die Macht der
argentinischen Gewerkschaften – Staatsverschuldung und Korruptionsvorwürfe
inklusive.
Gegen diese peronistische „Kaste“ trat Javier Milei an, als
Outsiderpräsident propagiert er den Kahlschlag der Institutionen. Zum
Amtsantritt zeigte er auf Tiktok, wie er die Hälfte der Behörden aus dem
staatlichen Organigramm reißt: „Kulturministerium, weg damit!
Umweltministerium, weg damit!“
Die Volksküchen? Weg damit! Präsident Milei nennt linke Gruppen wie die FOL
„Terroristen“. Die Menschenrechtsorganisation CELS klagt, dass seit Mileis
Amtsantritt Armutsrentner:innen und andere, die gegen seinen Sparkurs
demonstrieren, mit übermäßigem Polizeiaufgebot eingeschüchtert werden.
Milei geht es nicht allein um einen ausgeglichenen Haushalt, er führt einen
autoritären Kulturkampf.
## Eine Superministerin für „Humankapital“
Mit dem Frauenministerium soll auch die „Genderideologie“ fallen,
Frauenhäusern kappt er die Zuschüsse. Den bedrohten Frauen im Gewirr der
Villa 31 bleibt noch die „Casa invisible“, das unsichtbare Haus der linken
Bewegungen im Viertel. Und die Telefonnummer der FOL. „Wenn die Männer ihre
Frauen umbringen wollen, versuchen wir zumindest, die Frauen rauszuholen“,
sagt Mari Ventura.
Bildung, Kultur, Arbeit, Soziales – diese Bereiche hat Präsident Milei in
einem „Ministerium für Humankapital“ zusammengefasst. [4][Superministerin
Sandra Pettovello] lässt gerade jede Büste, jedes Porträt der mildtätigen
Evita Perón aus den öffentlichen Gebäuden tilgen, sozialen Bewegungen wie
der FOL liefert ihr Ministerium keine Grundnahrungsmittel für ihre
Volksküchen mehr.
Als im Sommer herauskam, dass bei 300 Tonnen staatlich gebunkertem
Milchpulver das Haltbarkeitsdatum ablaufen würde, ließ die Ministerin die
Trockenmilch durch das Militär einer Stiftung der rechtskatholischen
Organisation Opus Dei übergeben. Kurz zuvor hatte Pettovello mit
evangelikalen Fundamentalisten Verträge über eigene Volksküchen
geschlossen. Die neuen Sozialpartnerschaften der Milei-Regierung:
erzkonservativ.
Mari Ventura leitet 200 Meter von der linksradikalen Volksküche entfernt
einen Kindergarten der FOL. Noch. Ventura öffnet leise die Tür im
Erdgeschoss, denn die 15 Kinder hier unten halten gerade genau wie die im
ersten Stock auf roten und gelben Matten Mittagsschlaf. An der Wand hängen
ihre kleinen Rucksäcke, über jedem Haken ein Name: Calet, Magaly, Zoe,
Jhoel. Auch hier im Kindergarten wird schon das Mittagessen vorbereitet.
Auch hier fehlen die nationalen Lieferungen von Nahrungsmitteln.
Zwei Kindergärten musste FOL schon schließen, sagt Mari Ventura im stillen
Lagerraum, neben Säcken mit Reis, Nudeln, Linsen. Die kommen jetzt teils
von der Stadt Buenos Aires, teils sind es Spenden. Ventura selbst verdient
nur noch die Hälfte, sagt sie, 78.000 Pesos im Monat, in etwa 80 Euro. „Das
ist nicht nichts, aber es reicht nicht. Wenn ich nicht Lebensmittel aus dem
Kindergarten mitnehmen könnte, würde ich unter einer Brücke leben.“
## Hocharbeiten für ein Mittelschichtsleben
Die Kinder bleiben bis zum späten Nachmittag in der Obhut von Ventura und
ihren Kolleginnen, die Eltern, Putzkräfte, Lager- oder Bauarbeiter, sind
auf den Kindergarten angewiesen. Über vierzig Prozent der argentinischen
Bevölkerung arbeitet im „informellen Sektor“. Sie halten das Land am
Laufen, sind aber meist nicht versichert. Steuern zahlen sie selten, sehr
zum Ärger der Mittelschicht. Dass Milei ihnen jetzt die staatlichen Almosen
streicht, finden nicht wenige einfach gerecht. Auch rassistische Vorurteile
mögen eine Rolle spielen. Die Villas und ihre Bewohner:innen kennen
viele Argentinier:innen nur aus dem Fernsehen.
An einer silbernen Kette trägt Mari Ventura ein Herz um den Hals, darauf
eingraviert die Gesichter ihrer Kinder. Die älteste Tochter, 21, hat es
geschafft, sich hochzuarbeiten, studiert Medizin. Dass sie wie viele junge
Menschen mit Ambitionen auf ein Mittelschichtsleben Milei gewählt hat,
frustriert die linke Mutter. [5][Ohne das öffentliche, kostenlose
Bildungssystem, das Milei jetzt zusammenstreicht,] hätte sie ihrem Kind
kein Studium ermöglichen können, sagt Ventura. „Er hat Gehirnwäsche
betrieben mit all seinen Versprechungen im Wahlkampf.“
Unter Venturas vielen Sorgen sind die Narcos die größte. Denn wo der Staat
sich zurückzieht, hätten die Drogenbarone freien Lauf. Bislang ist
Argentinien weit entfernt von den Drogenproblemen anderer Länder
Lateinamerikas. Doch vom Kokain, das über die Flussschifffahrt aus Peru und
Bolivien kommt und weiter nach Europa soll, bleiben immer mehr
Nebenprodukte in den Häfen Argentiniens hängen. Mit desaströsen Folgen.
„Die Narcos wollen nicht, dass die Kinder zur Schule und auf die
Universität gehen“, sagt Mari Ventura. Sie suchten junge Kunden und Dealer;
wo die Sozialarbeit weggekürzt werde, hätten sie leichtes Spiel.
Gastón Colombres, 37, braun gebrannt, offener Priesterkragen, sieht das
ganz ähnlich. Bei einem Rundgang durch die „Ciudad oculta“, 20 Kilometer
weiter im Süden von Buenos Aires, schüttelt der Geistliche allerlei Hände.
Ein junger Mann kommt zu „Tonga“, wie ihn alle hier nennen, um seine
Kreuzhalskette segnen zu lassen.
## Der Kampf mit den Narcos
Auch die Ciudad oculta ist überspannt mit Stromleitungsknäueln, in den
Gassen stöbern herrenlose Hündchen im Müll. „Die Armen müssen sich selbst
retten“, sagt Padre Tonga. Doch egal was sie sich aufbauten, es sei
gefährdet. „Die Drogen zerstören alles.“ Und Mileis Regierung interessiert
sich nicht dafür.
Dass die Villa 15 „verborgene Stadt“ genannt wird, erklären sich ihre
Bewohner:innen mit einer Mauer, die die Militärdiktatur 1978 vor ihrem
Viertel hochzog. Ausländischen Gästen der Fußball-WM sollte damals der
Anblick des Elendsviertels erspart bleiben.
Padre Tonga, ständig am Handy, setzt dagegen voll auf Sichtbarkeit.
Signalrot, Flaschengrün, Orange – die Gebäude seiner Pfarrei „Virgen del
Carmen“ leuchten in der Novembersonne. Vor dem Gemeindehaus warten etwa 15
Frauen, Rosenkränze in der Hand, kleine Kinder auf dem Schoß. Die größeren
beichten gerade bei Colombres’ Mitbruder, ihre Erstkommunion steht an.
„Der Kampf mit den Narcos wird härter“, sagt Padre Tonga. Einer seiner
Mitbrüder, der argentinienweit bekannte Pepe di Paola, zog vor Kurzem in
einen anderen Landesteil, weil die Drogenbarone ihn mit dem Tod bedrohten.
Das zeigt, wie ernst die Narcos die Sozialarbeit der Armenpriester nehmen.
Nur will der Präsident kein Geld mehr dafür ausgeben.
Padre Tonga und seine Mitbrüder sehen sich in der Tradition von Carlos
Mugica. In den Fünfzigerjahren ließ der seine vornehme Herkunft und das
Jurastudium hinter sich, um als Priester bei den Armen in den Villas zu
leben. Für Bildung, Gesundheitsversorgung und mehr soziale Gerechtigkeit
setzte sich der Befreiungstheologe ein.
Nicht nur mit der konservativen Kirchenleitung, auch mit den Militärs, die
sich schon zur Machtergreifung anschickten, geriet er darüber in Konflikte,
am 11. Mai 1974 erschossen sie Mugica nach einer Messe. Seine letzten
Worte: „Jetzt, mehr als je zuvor, müssen wir beim Volk sein.“
## Die andere Ikone: Diego Maradona
In diesem Geist lässt Padre Tonga an allen Ecken der Ciudad oculta kleine
Kapellen bauen, die schaffen Beschäftigung und wirken wie Markierungen:
Hier herrscht die Jungfrau Maria, nicht die Kokainpaste. An den Kapellen
treffen sich regelmäßig die „kleinen Entdecker“ zu Spielen und Ausflügen.
Ein Musikfestival und Tanzabende bietet die Kirchengemeinde, bolivianischen
Tanz, paraguayischen, Einkehrtage für Frauen. Die wirksamste Waffe gegen
die Drogen aber, sagt Padre Tonga, sei etwas anderes.
Am Bolzplatz des Viertels teilt sich die heilige Jungfrau die Wand mit
einer anderen Ikone: im himmelblau-weißen Dress, nur wenige Kilometer von
hier geboren, Diego Maradona, drogengeschädigte Hand Gottes.
150 Kinder betreut die Kirchengemeinde in ihrem Kindergarten, 400 in der
Grundschule. Im Fußballklub, da kann Tonga seinen Stolz kaum verbergen,
sind 800 Kinder und Jugendliche organisiert. Zweimal die Woche haben die
jungen Frauen Futsal-Training, viermal die Woche trainieren die Jungs,
Jahrgänge 2006 bis 2010. Sie sind besonders gefährdet, sollen möglichst
wenig leere Zeit haben.
„Sie sehen, dass die, die sich mit den Narcos einlassen, plötzlich ein
Stockwerk draufsetzen oder sich ein Auto kaufen“, sagt Padre Tonga auf dem
Weg zum Hallentraining der Jüngsten. Das schnelle Geld lockt. Dem entgegen
will der Priester die Jugendlichen Fleiß und Verantwortungsgefühl lehren,
den Glauben an die Virgen und in den eigenen Wert.
## Beten vor dem Spiel
„Jungfrau Maria, wir gehören dir. Jeden Tag versuchen wir, eine gute
Familie zu sein, in der niemand ausgeschlossen wird und jeder seinen Platz
findet“, betet einer der Jungen in der Sporthalle aus Klinker, vor beiden
Teams, vor seiner Trainerin. Grün und Weiß sind die Farben des Fußballklubs
von Padre Tongas Gemeinde, vor jedem Spiel wird gebetet: „Wir wollen ein
Licht in unserer Nachbarschaft sein, das Spiel des Lebens gewinnen, wie
Jesus mit Leidenschaft für das Gute leben … Immer weiter, vorwärts!“ Die
anderen kleinen Lungen holen Luft: Amen!
Es ist 19.10 Uhr, unten in der Halle pfeift die Trainerin das Spiel an,
oben, in drei der Klassenräume, sitzen die Erwachsenen zusammen, die den
Schulabschluss nachholen möchten. Auch die Erwachsenenbildung wollte die
Regierung wegkürzen, sagt Padre Tonga, der durch die Fenster den
Abendschüler:innen zuwinkt. Doch in diesem Fall hätte der Protest Erfolg
gehabt, das Programm laufe zunächst weiter.
In einem blauen Gebäude direkt neben der Kirche bietet Padre Tongas
Gemeinde 40 Männern für die Zeit des Drogenentzugs eine Unterkunft. „Noch
bezahlt die Stadt die Therapie“, sagt Colombres. „Aber wie lange noch?“
Auf die Stadt Buenos Aires und die anderen 23 Provinzen des Landes setzen
jetzt viele, was die Sozialzuschüsse, Umweltauflagen und den Erhalt der
Demokratie angeht. Bislang gehört keine:r der Gouverneur:innen zu
Mileis Partei La Libertad Avanza. Doch in einem Jahr stehen die
Provinzwahlen an und schon jetzt entzieht der Präsident den widerständigen
unter den Gouverneur:innen das Geld, das ihnen eigentlich aus dem
nationalen Haushalt zusteht. „Auch der Bürgermeister von Buenos Aires passt
sich an Milei an“, klagt Padre Tonga auf dem Schulflur.
Schon vor der Präsidentschaftswahl 2023 haben die Armenpriester vor Mileis
Plänen gewarnt. Aus ganz Argentinien kamen sie nach Buenos Aires, um eine
Protestmesse vor Tausenden Armen zu feiern, in einem offenen Brief
schrieben sie: „Wir glauben, dass die Vergötterung des Marktes zu einer
Entmenschlichung führt“. Wenn man nur Löwen wecke, sei es logisch, „dass
die wehrlosesten Lämmer gefressen werden“.
Dass Mileis Leute die Militärdiktatur relativieren, stößt den Priestern
auf, dass der Präsident sich als Messias der Argentinier inszeniert,
genauso. Und vor allem ärgert sie, wie Milei mit ihrem Oberhaupt umgeht.
## Der Präsident und der Papst
Papst Franziskus, selbst geprägt durch die Befreiungstheologie, gibt sich
diplomatisch, was den Präsidenten seines Heimatlandes betrifft. „Keine
Regierung kann moralisch verlangen, dass ihre Bevölkerung Entbehrungen
erleidet, die mit der Menschenwürde unvereinbar sind“, formulierte er
einmal allgemein. In vorsichtigem Protest ließ er sich mit
Gewerkschafter:innen der staatlichen Fluggesellschaft fotografieren,
die Milei privatisieren will.
Der Präsident hingegen nannte den Papst schon „Hurensohn“ und unterstellte
ihm einen „ruchlosen Charakter“. In einem Interview sagte Milei: „Der Pap…
ist der Vertreter des Bösen auf Erden, der den Thron des Hauses Gottes
besetzt. Der Papst fördert den Kommunismus mit all den Katastrophen, die er
verursacht hat.“
Im März machte eine weitere Messe der Armenpriester Furore, bei der
skandiert wurde: „Das Vaterland steht nicht zum Verkauf.“ Für den
Erzbischof von Buenos Aires ging das zu weit, er pfiff die Priester zurück:
Gottesdienste dürften nicht für politische Zwecke instrumentalisiert
werden.
„Wir Curas villeros stehen nicht auf der Seite einer Partei“, sagt Padre
Tonga, das Thema scheint ihm unangenehm. Bei der Priestergemeinschaft
Option für die Armen sei das anders, sie sei tatsächlich mit der Peronistin
Cristina Kirchner verbunden. Seine Mitbrüder hingegen verhandelten mit
allen politischen Akteur:innen, wenn es den Armen dient. „Auf unterer Ebene
kann man auch mit Mileis Leuten reden“, das tue er. Mit Respekt. Den
allerdings vermisst Padre Tonga beim Präsidenten selbst. „Ich meine, das
ist der Papst!“
Tatsächlich gebe es zu viel Korruption, sagt Padre Tonga, auch innerhalb
der sozialen Bewegungen. Der Reformbedarf sei groß, doch Mileis Kurs sei zu
radikal. „Ausgleich, soziale Gerechtigkeit, das ist die Aufgabe des
Staates!“ Allein schon, um die Narcos in Schach zu halten.
## Zehntausende haben ihre Jobs verloren
Zwar sank im November die Jahresinflation im Land, im Vergleich zum
Vormonat stieg sie aber wieder leicht an. Das argentinische
Bruttoinlandsprodukt werde um 3,5 Prozent schrumpfen, prognostiziert die
Weltbank. Selbst liberale Ökonomen wie Hans-Dieter Holtzmann, Chef der
FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Buenos Aires, fragen sich, ob
Mileis gute Zahlen über Einmaleffekte hinaus anhalten. Wo der soziale
Ausgleich fehle, würden auch ausländische Investitionen riskanter, sagt
Holtzmann.
Zehntausende haben ihre Arbeit in Bibliotheken, bei der Post oder den
Ferrocarriles Argentinos, der Eisenbahn, verloren. Das Trinkwasser soll
jetzt privatisiert werden, die Subventionen für Strom, Lebensmittel, Benzin
sind passé. Trotzdem unterstützt noch etwa die Hälfte der Bevölkerung
Mileis Politik.
„Der Mittelschicht hat er gesagt, dass sie leiden wird, jetzt leidet sie“,
sagt Padre Tonga. Die Argentinier:innen schätzen solche Ehrlichkeit –
und wollen hoffen, dass es ihnen langfristig besser geht. Bislang drückt
Milei seine Politik per Dekret durch, im Parlament hat er keine Mehrheit.
Das wird sich bei den Kongresswahlen in einem Jahr ändern, davon ist Padre
Tonga überzeugt. Auf der „anderen Seite“ gäbe es schlicht keine starken
Kandidat:innen.
Hier in der verborgenen Stadt, wo Mileis Kettensäge bis in die Körper der
Armen dringt, lebten vor allem Zugewanderte aus Venezuela, Bolivien,
Paraguay, sagt der Priester. Sie haben keine Wahl.
7 Dec 2024
## LINKS
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[3] /Sozialpolitik-in-Argentinien/!6018771
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## AUTOREN
Stefan Hunglinger
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