| # taz.de -- Sparkurs im spanischen Bildungssystem: Technik aus dem Museum | |
| > Auch an der zweitgrößten Universität der spanischen Hauptstadt Madrid ist | |
| > die Lage katastrophal. Das liegt vor allem am Sparkurs der | |
| > Regionalregierung. | |
| Bild: Hier demonstrieren Studierende aus Madrid kurz vor Weihnachten | |
| Madrid taz | Wenn der Madrider Chemielaborant César Pastor an seine Uni | |
| denkt, wird er fatalistisch: „Die Lage ist verheerend.“ Die [1][Universidad | |
| Autónoma], die zweitgrößte Universität Madrids, fällt regelrecht | |
| auseinander – und das, obwohl sie erst nach dem Ende der Franco-Diktatur in | |
| den 1970ern entstanden ist: „Immer wieder kommen Teile der | |
| Deckenverkleidung herunter, das Mobiliar, Heizung und Klimaanlagen sind | |
| völlig veraltet“, klagt Pastor. | |
| Es fehle an allen Ecken und Enden. Selbst die Technik sei völlig veraltet. | |
| „Unsere Ergebnisse, die den Forschungen zugrunde liegen, könnten wesentlich | |
| genauer sein, hätten wir moderne Geräte. Außerdem bilden wir die | |
| Studierenden an Einrichtungen aus, die ins Museum gehören und nicht in ein | |
| Lehrlabor. Diese Geräte haben nichts damit zu tun, was sie später im | |
| Berufsleben einmal antreffen werden“, fügt er hinzu. Es fehle an Geld für | |
| Forschungsexkursionen, an Material und an Personal, um die Studierenden bei | |
| ihren Praktika im Labor zu betreuen. Das habe zu mehr Unfällen als je zuvor | |
| geführt. | |
| Wegen solcher Zustände schlugen die Rektoren der sechs öffentlichen | |
| Universitäten in Spaniens Hauptstadtregion Madrid vor Kurzem Alarm: „Die | |
| augenblickliche Lage ist kritisch und sie kann schon in wenigen Jahren | |
| katastrophal sein“, heißt es in einem offenen Brief von Ende November an | |
| die Regionalregierung, die für Bildung zuständig ist. Die Rektoren werfen | |
| den Konservativen die systematische „Unterfinanzierung der öffentlichen | |
| Hochschulen“ seit nunmehr 15 Jahren vor. Madrid ist die reichste Region | |
| Spaniens und zugleich diejenige, die am wenigsten pro Studierenden ausgibt | |
| – nämlich 21 Prozent weniger als der spanische Durchschnitt. Diese | |
| Entwicklung wird sich im kommenden Haushalt, den Regionalpräsidentin Isabel | |
| Díaz Ayuso vorgestellt hat, noch verschärfen. Die Rektoren warnen vor einem | |
| drohenden „Kollaps“. | |
| Selbst nach einer leichten Aufstockung des Etats, als Reaktion auf den | |
| offenen Brief, sieht dieser nicht einmal einen Ausgleich für die Inflation | |
| von 2024 und 2025 vor. So kann unter anderem die von der spanischen | |
| Zentralregierung für Beamte beschlossene inflationsabhängige | |
| Gehaltserhöhung nicht umgesetzt werden. „Außerdem sind keine Ressourcen | |
| vorgesehen, um die grundlegende Instandhaltung der Gebäude zu | |
| gewährleisten, die für den Betrieb unter angemessenen Bedingungen | |
| unerlässlich sind“, heißt es in dem Brief. Für diesen Posten wird, so | |
| rechnen die Rektoren vor, derzeit nur ein Zwölftel dessen investiert, was | |
| 2007 – vor der Eurokrise – üblich war. Die Rektoren gehen davon aus, dass | |
| mindestens 200 Millionen Euro fehlen werden, und das „nur, um | |
| Besitzstandswahrung zu betreiben“. | |
| ## Sparen seit 2008 | |
| All das ist die Folge der Sparmaßnahmen im Rahmen der Eurokrise 2008. | |
| Gelder für den alltäglichen Betrieb wurden gekürzt, Abgänge bei Lehrkräften | |
| und Personal – etwa durch Rente – jahrelang nicht ersetzt. „Diese Maßnah… | |
| wurden nie zurückgenommen. Heute ist die Situation so absurd, dass die | |
| Universität Gelder der EU und der Zentralregierung bekommen könnte, um neue | |
| Gerätschaften zu kaufen, allerdings nur dann, wenn sie die Hälfte der | |
| Anschaffungskosten selbst aufbringt. Und das Geld hat die Autónoma einfach | |
| nicht“, sagt Chemielaborant Pastor. | |
| Eines der größten Probleme der Unterfinanzierung der Universitäten in | |
| Madrid sind die prekären Arbeitsbedingungen. Die Stellen sind teils so | |
| schlecht bezahlt, dass manche gleich zwei akademische Jobs haben. So wie | |
| der Politikwissenschaftler Guillermo Fernández. Zum einen unterrichtet er | |
| mit einem Sechs-Stunden-Vertrag für 738 Euro brutto im Monat als | |
| „beigeordneter Professor“ an der Politikfakultät der Universität Carlos | |
| III, einer der neuesten in Madrid. Und er ist Teil eines europäischen | |
| Forschungsprojekts über den Feminismus als gesellschaftliche Kraft. | |
| Fernández forscht zu Antifeminismus der extremen Rechten. Mit beiden Jobs | |
| kommt er gerade so über die Runden. | |
| „Beigeordneter Professor“ sei eigentlich ein Konstrukt, um Menschen mit | |
| besonderen Kenntnissen eine Möglichkeit zu geben, diese an die Universität | |
| zu vermitteln, sagt Fernández. „Aber in den letzten Jahrzehnten wurden | |
| immer mehr junge Akademiker mit diesen schlecht bezahlten Teilzeitverträgen | |
| eingestellt, um so Personalkosten zu sparen“, weiß er. Selbst wer eine | |
| feste Anstellung hat, verdient weitaus weniger als in anderen Regionen. Wer | |
| kann, wandert ab. Das hat Mangel an qualifiziertem Personal zur Folge. | |
| „Die Regionalregierung kommt nicht einmal mehr für die grundlegendsten | |
| Bedürfnisse der Universitäten auf. Die Gebäude verfallen, die Parkanlagen | |
| werden nicht mehr gepflegt, in vielen Fakultäten ist die Cafeteria | |
| geschlossen“, beschwert sich auch Ariel Jerez. Für den Politikprofessor an | |
| der größten Universität Madrids, der Complutense, hat das System. „Die | |
| Sparpolitik ist ein Angriff auf den letzten kritischen Freiraum für freies, | |
| kreatives Denken der modernen Gesellschaft, die öffentlichen | |
| Universitäten“, meint er. Das Ziel der Konservativen sei „eine Gesellschaft | |
| ohne Kapazitäten für Kritik“. | |
| Statt ein Raum für Lehre und Forschung, sollen die Universitäten zu | |
| „Fabriken für die Ausstellung von Titeln“ werden. Forschung sei nur | |
| insoweit gefragt, als sie zu „einer möglichst großen Zahl von | |
| Veröffentlichungen“ führe – aber nicht als kritische Interaktion, sondern | |
| als reines Marketing. „Die Aufgabe, darüber nachzudenken, wohin die | |
| Gesellschaft sich entwickelt, wie sich Wissenschaft, Kommunikation, Bildung | |
| und soziale Reproduktion zueinander in Beziehung setzen, soll anderen | |
| Akteuren überlassen werden“, sagt Jerez und meint damit private | |
| Einrichtungen wie Privatunis und vor allem die sogenannten Thinktanks. | |
| ## 13 plus 4 | |
| Madrid hat 13 Privatuniversitäten, vier weitere sind in Planung. Bereits | |
| jetzt besuchen in Madrid rund ein Drittel der Studierenden eine private | |
| Hochschule. In Masterstudiengängen sind es mehr als die Hälfte. „Nur wenn | |
| es um die Doktorarbeit geht, kommen die meisten zurück an die öffentlichen | |
| Universitäten“, sagt Jerez. Für ihn ein Beweis für die Qualität und Zeich… | |
| dafür, dass noch nicht alles verloren ist. | |
| Studieren in Madrid ist teuer. An den öffentlichen Unis in Madrid beläuft | |
| sich das Studiengeld auf 1.800 bis 3.000 Euro im Jahr, während das Geld für | |
| Stipendien rar ist. Die Privatunis sind bis zu viermal so teuer. | |
| „Öffentliche Universitäten haben eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung | |
| moderner Demokratien gespielt, sowohl durch den Zugang zu Hochschulbildung | |
| für Menschen aus der Arbeiterklasse als auch als Motor für die Schaffung | |
| von Wissen und die soziale und wirtschaftliche Entwicklung. In Madrid | |
| können nur noch diejenigen an die Uni, deren Eltern das Geld für diese | |
| hohen Gebühren haben“, sagt [2][Isabel Galvín, Dozentin für Didaktik] an | |
| der Fakultät für Lehramt der Universität Complutense und gleichzeitig | |
| Vorsitzende der größten Madrider [3][Lehrergewerkschaft des Dachverbandes | |
| CCOO]. | |
| Die Entwicklung an den Unis entspricht dem, was die Konservativen an | |
| Mittel- und Oberschulen sowie in der Berufsbildung gemacht haben. Auch dort | |
| wurde das öffentliche System gezielt kaputtgespart, um so zu erreichen, | |
| dass die Familien ihren Nachwuchs auf private Schulen schicken. „Bildung | |
| als Geschäft“, beschwert sich Galvín, bevor sie die gesellschaftlichen | |
| Auswirkungen dieser Politik analysiert. | |
| Das Ende der öffentlichen Universität sei „ein endgültiger Schlag für die | |
| Bildung als Grundlage für den gesellschaftlichen Aufstieg und ein direkter | |
| Angriff auf das Wissen, das auf Forschung beruht und damit auf die | |
| Wissenschaft als solche“. Die Entstehung und Verbreitung vermeintlichen | |
| Wissens solle dem Markt überlassen werden. Das sei ein direkter Angriff auf | |
| eine der Säulen der Moderne und der Demokratie, wie wir sie kennen. | |
| Viele der in den letzten Jahren zugelassenen privaten Universitäten bieten | |
| nicht alle Studiengänge an, sondern nur die, die besonders gefragt sind und | |
| wenig technischen Aufwand erfordern. Forschung wird an ihnen so gut wie | |
| keine betrieben. | |
| „Auch in wirtschaftlicher Hinsicht stellt diese Politik einen Rückschlag | |
| dar“, sagt Galvín. „Denn die Madrider Wirtschaft gehört nicht mehr zur | |
| Spitze der OECD-Regionen, in denen Wirtschaftszweige gefördert werden, die | |
| ein hohes wissenschaftliches Niveau erfordern.“ | |
| 7 Jan 2025 | |
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| Reiner Wandler | |
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