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# taz.de -- Sozialpolitik in Argentinien: Auf dem Rücken der Bedürftigen
> Der libertäre Präsident Argentiniens organisiert das System der
> Armenhilfe neu und setzt auf umstrittene Partner. Darunter leiden die
> Bedürftigen.
Bild: Wer kann sich das noch leisten? Bei einem Fleischer in Buenos Aires im Ap…
Buenos Aires taz | Werden sich Argentiniens Präsident [1][Javier Milei und
Bundeskanzler Olaf Scholz] am Sonntag in Berlin tatsächlich die Hand geben?
Der Empfang mit militärischen Ehren und die gemeinsame Pressekonferenz sind
bereits abgesagt worden, „ausdrücklich auf Wunsch des argentinischen
Präsidenten“, so der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit.
Dabei könnte sich der [2][libertäre Ökonom Milei] mit dem ehemaligen
sozialdemokratischen Finanzminister Scholz intensiv darüber austauschen,
wie man die schwarze Null im Haushalt am besten erreicht. Mileis brutale
Sparpolitik liefert einen aktuellen Anlass. Dazu gehört die Revision der
Sozialausgaben – und das in einem Land, in dem bald 60 Prozent der
Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben.
„Das Brot gehört uns“, sagte der Vorsitzende der argentinischen
Bischofskonferenz, Bischof Oscar Ojea, am vergangenen Mittwoch bei einem
Gottesdienst in Ciudad Evita, einem Armenviertel am Rande der Hauptstadt
Buenos Aires. Der Bischof kritisierte, dass die Regierung die
Lebensmittelverteilung eingestellt hatte und forderte einen „nationalen
Ernährungsplan“.
Der Gottesdienst war auch eine Hommage an diejenigen Frauen, die während
der Coronavirus-Pandemie mit ihren meist kleinen Gemeinschaftsküchen
Hunderttausende von Menschen versorgt haben. Wer eine solche Küche gründen
und von der Regierung Unterstützung erhalten wollte, konnte sich online im
Registro Nacional de Comedores y Merenderos (ReNaCom) registrieren lassen.
## Armut rasant angestiegen
In diesem Register sind heute bis zu 44.000 Volksküchen eingetragen, von
denen allerdings ein Großteil nicht mehr existiert. Die Regierung nutzte
dies medienwirksam: Tagelang beherrschten registrierte, aber nicht mehr
existierende Armenküchen, die angeblich weiterhin mit Lebensmitteln
versorgt wurden, die Schlagzeilen.
Als der [3][libertäre Präsident Javier Milei] im Dezember 2023 sein Amt
antrat, lebten 42 Prozent in Armut, 12 Prozent davon in extremer Armut. Das
geht aus Daten der nationalen Statistikbehörde Indec hervor. Nach
Schätzungen der Katholischen Universität von Buenos Aires ist die
Prozentzahl der Menschen, die in Armut leben, inzwischen auf 58 Prozent
angestiegen, davon 17,5 Prozent in extremer Armut. In absoluten Zahlen
leben damit 24,9 Millionen Menschen in Armut, 7,8 Millionen in extremer.
Niemand bestreitet die prekäre Lage, auch nicht Präsident Milei. Dessen
erklärtes Ziel ist es, das System der Armenhilfe neu zu organisieren.
Sozial- und Nahrungsmittel sollen direkt an die Bedürftigen gehen – und
nicht mehr über die sozialen Basisorganisationen und kirchlichen
Einrichtungen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten für die Weitergabe
der staatlichen Unterstützung zuständig waren. Seine Begründung: Es sei
nötig, den bisherigen Verteilungsprozess zu evaluieren und angebliche
Korruption einzudämmen.
Die Verteilung von Nudeln, Reis, Speiseöl und anderen nicht verderblichen
Lebensmitteln an die Suppenküchen setzte er aus. Stattdessen hat die
Regierung nun die finanzielle Unterstützung für Kinder (AUH) und
Lebensmittel (Tarjeta Alimentar), die über personalisierte Debitkarten
vergeben werden, deutlich erhöht. Wer eine dieser Debitkarten besitzt,
bekommt die Unterstützungssumme monatlich überwiesen und kann damit
einkaufen.
## Strafanzeige gegen Ministerin
Doch die Versorgungslücke, die durch die Einstellung der
Lebensmittellieferungen entstanden ist, hat die Regierung schlicht
unterschätzt, auch weil längst nicht alle der darauf angewiesenen Menschen
eine solche Debitkarte besitzen, vor allem nicht die Älteren unter ihnen.
Bereits am 5. Februar erstattete Juan Grabois von der Unión de los
Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular, einem Zusammenschluss
informeller Arbeiter*innen, Strafanzeige gegen die für Sozialpolitik
zuständige Ministerin Sandra Pettovello. Der Vorwurf lautete „Verletzung
der Amtspflicht“ angesichts der Nichtauslieferung von Grundnahrungsmitteln.
Richtig Fahrt nahm der Fall Ende Mai auf: Demonstrant*innen zogen vor
ein staatliches Lagerhaus in Buenos Aires und beschuldigten die Regierung,
dort 6.000 Tonnen Lebensmittel zu horten.
Während die Regierung sich damit rechtfertigte, dass es sich um Vorräte für
den Katastrophenfall handele und nur ein sehr geringer Teil das
Haltbarkeitsdatum erreicht habe, kamen immer mehr Details ans Licht. Zum
Beispiel, dass bei 300 Tonnen Milchpulver das Haltbarkeitsdatum in wenigen
Wochen ablaufen würde. Schließlich lenkte die Ministerin Pettovello ein und
beauftragte die Armee, das Milchpulver sofort abzutransportieren und der
Stiftung für Kinderernährung CONIN zu übergeben.
Allerdings: CONIN ist eine Stiftung für Kinderernährung, deren
ultrakonservativer Vorsitzender Abel Albino Mitglied in der
erzkonservativen, geheimbündlerischen Organisation Opus Dei ist. Mit CONIN
unterzeichnete die Ministerin im Februar ein Abkommen über den Kauf von
Lebensmitteln für ihre Suppenküchen.
## Regierung setzt auf fundamentalistische Bewegungen
Kurz zuvor hatte sie sich außerdem mit der Christlichen Allianz der
Evangelischen Kirchen der Argentinischen Republik (ACIERA) geeinigt, einem
Zusammenschluss von evangelikalen Fundamentalisten: Die Ministerin sagte
ihnen eine erste Zahlung von umgerechnet rund 190.000 Euro für den Kauf von
Lebensmitteln für ihre über 700 Volksküchen zu.
Ob die Ministerin ihre Zusagen eingehalten hat, ist nicht klar. Fest steht
jedoch, dass sich die Regierung auf zwei fundamentalistische religiöse
Bewegungen stützt, die in Argentinien bei der Versorgung der Armen mit dem
Vatikan konkurrieren.
21 Jun 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Jürgen Vogt
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