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# taz.de -- Debütalbum von Saul: Wenn Mama dich hält
> Der Flaneur hat’s schwer: „Homecoming“, der Berliner Autor Fabian Saul,
> debütiert als elektronischer Chansonnier mit einem Soloalbum.
Bild: Opium des Volkes: Saul
Was ist Heimat? In Deutschland eine komplizierte Frage. Für die Mehrheit
fällt eine Antwort vermutlich trotzdem leicht: Es ist der Ort, an dem ihre
Liebsten sind. Das sieht der Berliner Schriftsteller Fabian Saul ganz
sicher auch so. Mit „Homecoming“ hat er nun sein Debütsoloalbum
veröffentlicht. Und was für eins.
Langsam schieben sich Bässe nach vorn, auf eigentlich jedem Song. Dazu eine
simple, meist einsam bleibende Melodie auf dem E-Piano, so wirkt Sauls
minimalistischer Sound bisweilen melancholisch. Dazu eine ruhige,
bedächtige Stimme, so schwerfällig, als ob sie etwas aufschieben möchte; ab
und an ist Sauls Gesang von Autotune verfremdet, im Hintergrund wirkt ein
Chor.
Eigentlich kippt die Musik immer ins Hymnische. Ins himmlisch Hymnische:
„In God I know / I thought I knew / In God I know“, spärlich begleitet von
Pianoakkorden. „Dadam dada dada dadada“.
Das Religiöse und die Trennung von den Liebsten scheinen Grundmotive in der
Musik von Fabian Saul, der sich als Musiker karg Saul nennt. Seit 2013 ist
der bald 40-Jährige und in Berlin Lebende als Chefredakteur des schrillen
Kunstmagazins Flaneur tätig.
Jede seiner jährlich erscheinenden Ausgaben widmet sich jeweils einer
einzigen Straße in einer Weltmetropole. Jüngst war es die Ringstraße
Boulevard périphérique in Paris. Das Magazin kommt optisch in Form eines
Coffeetable-Bildbands daher, der im LoFi-Stil mit Texten und Bildstrecken
die jeweilige Straße zu poetischer Rätselhaftigkeit entrückt.
## Der Sommer, der nie endete
Bereits 2018 erschien Sauls Debütroman „Boulevard Ring“, auch hier ging es
um eine Straße, diesmal in Moskau, über die es bereits eine Flaneur-Ausgabe
gibt. Vor Kurzem kam sein zweiter Roman heraus, „Die Trauer der Tangente“,
eine fragmentarische Collage von Exkursen, Zitaten und Szenen über Verlust,
Tod und einen „Sommer, der nie endete“. Jeder Satz sehnt sich, birgt etwas
Unerfülltes. Auch hier sind Orte wichtig, der Inhalt ist fast ein wenig
egal, eher geht es um die Form, um den Ausdruck.
Das Wiederwollen von etwas unwiederbringlich Verlorenem und scheinbar
unendliches Begehren bestimmen auch die elektronisch grundierte Musik auf
„Homecoming“. Nicht trotz, sondern weil der Titel etwas gänzlich anderes
suggeriert.
„I am on my way / I am coming home / Mother stood in the doorway alone /
Are you ready?“, singt Saul in metallenem Autotune auf dem titelgebenden,
dramatisch-ruhigen Song „Homecoming“. Die Snaredrum drückt den langsamen,
gebrochenen Dreivierteltakt vorwärts, im Hintergrund ein Synthie-Arpeggio
und ein jazziges Saxofon, das im Nichts verhallt.
Aber wohin geht der Vortragende denn dann? Und kommt er nicht von
irgendwoher? „Feels like coming home / Softly touch the ground / Feels like
coming down / Feels right this time“, singt Saul auf dem hymnischen
„Kensington Gardens“, flankiert von Orgelsounds. Wie ein Runterkommen.
## Heilige Prozession
Auch dieser Song schreitet heilig-sanft voran, bedächtig sein
Pianoanschlag, im Hintergrund zittern Synthiesounds: die Feier eines
Einzugs, eine Prozession. Aber wohin? In den gleichnamigen noblen
königlichen Garten in London? Er birgt eine goldene Statue Prinz Alberts,
eine silberne Peter-Pan-Figur, dazu verströmen Palmen
kolonial-aristokratisches Flair. Als zögen Kinder unter Engelschören
allein ins Paradies.
Am schönsten ist das baladeske, melancholische Pianostück „Seagull“: „A…
the things you cook now / Are the things you bought / And the room you live
in / Is the one you rent.“ Wie banal. Aber zugleich auch richtig schön.
Weil von der Spoken-Word-Künstlerin Tanasgol Sabbagh im Duett mit Saul in
[1][Nick-Cave-artigem heiligem Ernst] vorgetragen.
Die Musik auf „Homecoming“ wirkt manchmal fast als Apotheose des
Einfachen. Wer Referenzen sucht, findet sie vielleicht bei James Blake, von
der Stimme her [2][ruft Saul auch mal den sonoren Leonard Cohen] in
Erinnerung.
Ein Hochglanzfoto auf Sauls Instagram-Account zeigt ihn zusammen mit
Tanasgol Sabbagh in einem Altbau. Beide sitzen auf einem Bett, komplett
weiße Bettwäsche. Tanasgol ist barfuß. Weiße Wand, Parkettfußboden, dazu
ein Stapel Magazine. Ihre Blicke: kindlich ernst. Ernst Bloch nannte
Ontologie einst die Philosophie „sinkender Schichten“, die, bevor die
Geschichte sie einhole, sich selbst noch einmal von innen ausleuchten.
## Zurück in die kindliche Geborgenheit
Stehen Sauls großbürgerliche Influencer-Wohnungs-Inszenierung und die von
„Homecoming“ hierfür? Vermutlich ja. Ist das schlimm für die Musik? Eher
nein. Auf „Homecoming“ geht sie wie unter Glockengeläut nach vorn, zurück
in die kindliche Geborgenheit, den Schoß des Liebenden, auch wenn alles
etwas abstrakt, metaphysisch bleibt. Denn was gibt es Schöneres, als
anzukommen, als wenn Schönheit, wenn Mama dich hält?
„Dadam dada dada dadada“, zwitschert es in „Seagull“, wie in einem
Wiegenlied. „All is forgiven“, heißt es auf „Forgiven“. Dann setzt der…
ein. Darin wird feierlich und sanft zugleich das ewig aufgeschobene
Ankommen besungen.
26 Nov 2024
## LINKS
[1] /Album-Wild-God-von-Nick-Cave/!6034765
[2] /Lyrikband-von-Leonard-Cohen/!5538418
## AUTOREN
Jens Winter
## TAGS
Elektronik
elektronische Musik
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Musik
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Jazz
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