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# taz.de -- Album „Wild God“ von Nick Cave: Selbst Gott leidet an Burn-out
> Über glückliche Frösche und andere Grillen denkt der australische
> Finsterfürst Nick Cave auf dem neuen Album „Wild God“ durchaus
> unterhaltsam nach.
Bild: Nick, der Erlöser
Der Frosch als vergnügtestes Wesen? Wer anthropomorph in die Fauna blickt,
würde doch eher Otter oder Delphine in die Top 10 wählen als eine
Amphibienart, der der Mensch wenig Positives abgewinnt. Lieber dichten wir
Fröschen Schauermärchen an, etwa, dass sie bis zum bitteren Ende im
kochenden Wassertopf bleiben – statt einen Ausweg zu suchen. Dabei sind
doch nur wir Menschen so doof.
Nick Cave jedenfalls hält Frösche für die glücklichste Tierart überhaupt.
Als „Symbols of Joy“ bezeichnet sie der vom Bluespunk zum gospelaffinen
Transzendentalisten gewandelte australische Popstar in einem Interview,
denn „sie springen in ihren kurzen Zuckungen der Liebe aus der Gosse hoch,
und fallen dann wieder dorthin zurück“.
Im schwelgerischen Song „Frogs“, zu finden auf Caves neuem Album „Wild
Gold“ wird das von Chören getragen: „The frogs are jumping in the gutters /
Leaping to God, amazed of love / And amazed of pain / Amazed to be back in
the water again.“
## Zum Weiterlaufen zwingen
Das Doppelbödige schwingt, wie so oft bei Cave, stets mit. Plötzlich taucht
in dem Song der Begriff „frogmarching“ auf – was bedeutet, jemanden zum
Weiterlaufen zu zwingen, indem man dessen Arme von hinten in den Rücken
drückt. Was zu Fragen führt, bei denen Nick Cave immer wieder landet.
Und die vielleicht am ehesten um das kreisen, [1][was der Philosoph Martin
Heidegger einst als „Geworfen sein“ bezeichnet hat:] den Umstand, dass ein
Mensch ungefragt Teil der Welt wird und mit dem klarkommen muss, was eine
willkürliche, undurchsichtige Natur bereit hält. Irgendwie weitermachen
musste der heute 66-jährige Künstler, selbst, nachdem ihn 2015 ein
Schicksalsschlag getroffen hat: Sein 15-jähriger Sohn starb bei einem
tragischen Unfall.
In den folgenden Jahren gab der im englischen Brighton lebende Australier
keine Interviews, fand jedoch Wege, seine Trauer mit der Öffentlichkeit zu
teilen. Etwa durch den Dokumentarfilm „One More Time with Feeling“ (2016)
und dem dazugehörigen Album „Skeleton Tree“; durch das ambienthafte, karge
„Ghosteen“ (2019), bei dem seine Band The Bad Seeds eine zurückgenommene
Rolle spielte.
## Interview als Therapie
Und mit „Carnage“ (2021), [2][aufgenommen mit seinem Intimus Warren Ellis.]
Zudem veröffentlicht er mit „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ (2022) Memoiren
in Form eines langen Gesprächs mit dem Autor Sean O’Hagan. Von einer neuen
Nähe zum Publikum zeugten intensive Liveperfomances. 2022 starb dann ein
weiterer, bereits erwachsener Sohn von Cave. Und nun gibt der
Schicksalsgebeutelte anlässlich des neuen Albums wieder Interviews: über
Trauer, Liebe, Gott – und Frösche.
Thematisch muten die neuen Songs wie klassischer Cave an – zumindest auf
den ersten Blick. Da schaut ein alter Mann einer Frau zu, die zu goldenem
Licht im See badet. „The moment was worth saving“, stellt er fest und ist
sich seiner Endlichkeit durchaus bewusst. Um dann doch wieder bei einem
lakonischen „never mind“ zu landen.
Auch wenn das aus Caves Mund wie „Amen“ klingt. Der Auftakt „Song of the
Lake“ markiert mit prominentem Bass und schepperndem Schlagzeug auch
klanglich, dass sich die Band dem Leben zuwendet. Überhaupt spielen die Bad
Seeds muskulöser auf – eine Rückkehr zu klassischen Songstrukturen geht
damit jedoch nicht einher. Gelegentlich bleibt der Eindruck, beim
Komponieren seien die Konzertarenen bereits mitgedacht, in denen Nick Cave
dieser Tage Auftritte zelebriert, als handele es sich um Messen.
## Dem Tod naher Weltenlenker
Der titelgebende „Wild God“ erweist sich eher als kränklich: ein dem Tode
naher Weltenlenker, der wie ein „prähistorischer Vogel“ durch die Luft
segelt – rastlos, aber müde: „So he flew to the top of the world and looked
around / And said where are my people to bring your spirit down?“ Auch wenn
die darauffolgenden, crescendoartigen Klänge den Himmel aufreißen – Caves
Gott leidet an Burn-out. Und auch Cave bleibt ein Zweifelnder, der öfter
mal eine neue Erzählperspektive einnimmt.
Bei allem Zweifel: Agnostiker ist er nicht. Und dennoch bieten seine
spirituell durchdrungenen Songs Anknüpfungs- und Reibungspunkte, selbst für
religionsferne Zauderinnen wie mich. Denn Cave scheint es weniger um
Glaubensfragen zu gehen als darum, was an Göttlichem oder zumindest Schönem
in uns steckt.
Und warum wir so anfällig fürs Hässliche sind: „And all across the world /
They shout bad words, they shout angry words“ heißt es im vergleichsweise
reduzierten Stück „Joy“. Cave als Songwriter erzählt dieser Tage keine
alttestamental inspirierten Schauermärchen, sondern gibt den empathischen
Tröster, als der er auch bei seinem Blog „The Red Files“ auftritt – dort
ist er für Fragen und Nöte seiner Leser der unterhaltsame, reflektierte
Briefkastenonkel.
Dementsprechend ist das Stück „O Wow O Wow (How Wonderful She Is)“ –
[3][gewidmet seiner 2021 verstorbenen Ex-Freundin und kreativen
Mitstreiterin Anita Lane] – weniger Elegie als Tagtraum. Eingebettet in
einen fast schunkeligen Groove lässt er Lane in einer Voicemail
auferstehen: Ein amüsiertes Reminiszieren darüber, wie die beiden im London
der 1980er Jahre ihre Jugend verschwendeten.
Auch wenn schwelgerische, ja kitschige Momente beim ersten Hören von „Wild
God“ etwas over the top wirken – die Stücke fangen bald an zu schweben. Man
muss sich einfach darauf einlassen. So ähnlich geht es wohl auch jenen, die
glauben wollen.
5 Sep 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Stephanie Grimm
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