| # taz.de -- Der Hausbesuch: 100 Prozent Kalkowski | |
| > Der Malermeister Kalle Kalkowski hat sein Leben dem Rock ’n’ Roll | |
| > gewidmet. Heute lebt der „Neuköllner Hendrix“ am Rand von Berlin. | |
| Bild: Sein Himmel hängt voller Gitarren: Rock-’n’-Roller Kalle Kalkowski | |
| Kalle Kalkowski steht auf zwei Beinen. Mit dem einen steckt er in der | |
| Dispersionsfarbe mit dem anderen in der Musik. | |
| Draußen: Am Rande von Berlin, wo die Seen Scharfe Lanke heißen und die | |
| Stadtviertel Pichelsdorf, da ist Kalle Kalkowskis Haus. Ein Hügel mit | |
| Lavendelbüschen, drei hohe Tannen und die fabelhaften Terrakottawesen eines | |
| verstorbenen Bildhauers stehen davor. | |
| Drinnen: Vor fünfzehn Jahren begann Kalkowski damit, seine Wohnung in | |
| Berlin-Neukölln leerzuräumen und das Haus am Stadtrand zu füllen – mit | |
| Bildern des Berliner Malers Kurt Mühlenhaupt, einem skandinavischen | |
| Straßenschild mit Elch, einer alten Reklame für Fender-Gitarren, und vielem | |
| mehr. Im Zimmer unterm Dach mit dem Sofa, dem Schreibtisch und den Regalen | |
| voller Akten, CDs und Schallplatten hängen persönliche Erinnerungen an den | |
| Wänden, Fotografien und ein Plakat vom Auftritt der Stones [1][1965 in der | |
| Waldbühne]. Kalkowski war damals dabei. „Es war geil!“ | |
| Vorbilder: Kalkowski steht da wie Elvis – in Blümchenhemd und Jeans und mit | |
| langen spitzen Schuhen. Neben ihm an einem Holzpfeiler hängen vier | |
| Elektrogitarren. Vier von „vielleicht achtzig.“ Eine hat er abgeben müssen. | |
| Der Freund, der das Geländer für die Treppe ins Dachgeschoss baute, wollte | |
| zum Dank seine Les Paul, eine Legende. Das Treppengeländer besteht aus fünf | |
| stählernen Notenlinien. Nur die Noten fehlen. Achtel würden passen, wie im | |
| alten Rock ’n’ Roll, den Kowalski so gerne spielt. | |
| Rock ’n’ Roll: Dieser Sound halte ihn jung und am Leben, sagt er. Auf der | |
| Bühne, im verrauchten Lokal, wenn sie „Hey Joe“ spielen, wenn die Gitarre | |
| das Klirren der Biergläser und das Klickern der Billardkugel übertönt und | |
| dieses ewige Gequatsche der Leute, dann spüre er die Knochen nicht mehr. | |
| Erst wenn der Wirt nach der vierten Zugabe wegen der Nachbarn den Stecker | |
| der Verstärker zieht und er sich nach dem Kabel bücken muss, sagt er: „Oh, | |
| jetzt spür ich aber doch, dass ich 74 geworden bin.“ | |
| Die Schulband: Angefangen hat das mit dem Rock ’n’ Roll mit Detlef, dem | |
| Kumpel im Haus. Der hatte eine Gitarre, während Kalkowski noch mit | |
| Kleiderbügeln auf die Pappe der Priltrommeln eindrosch. Irgendwann waren | |
| sie zu dritt, probten in der Schulaula, wo ein echtes Schlagzeug stand. Sie | |
| nannten sich die „Urchins“. „Keene Ahnung, was das heißen sollte“, sagt | |
| Kalkowski. In derselben Schule probten die stadtbekannten Screaming | |
| Butlers. Als deren Schlagzeuger genug hatte, bot er Kalkowski seinen Platz | |
| in ihrer Band an. Plus Schlagzeug. Für 1.000 Mark. „Das war ’ne Menge Geld | |
| für ’nen Malerlehrling.“ | |
| Lange Haare: „Mutti, bitte, bitte …“ – Doch dann fehlten immer noch 900 | |
| Mark. Also ging Malerlehrling Kalkowski zum Malermeister Lähkamp: „Herr | |
| Lähkamp, könnten Sie mir 900 Mark leihen?“ Lähkamp nickte und wollte | |
| monatlich 95 Mark vom Lohn abziehen. „Aber er hat mir das meiste erlassen. | |
| Der mochte mich.“ Wenn die Maurer auf dem Bau wegen Kalkowskis langer Haare | |
| meckerten, sagte er: „Der macht Musik! Der braucht det! Der muss so | |
| aussehen!“ So wurde Kalle Kalkowski zum trommelnden Malermeister. | |
| Die Liebe: Dann kam die erste Frau. „Die sagte: ‚Entweder icke oder die | |
| Musik.‘ Also sag ick: ‚Na, dann du!‘“ Fünf Jahre, bis 1973, hielt Kalk… | |
| keine Sticks, sondern nur noch Malerpinsel in der Hand. „Ich hab die halbe | |
| Flughafenstraße bemalt. Für so’n Farbenladen da in der Nähe. Damals hatte | |
| jeder Farbenladen noch seinen Maler. Der Chef sagte immer: ‚Der sieht zwar | |
| vergammelt aus, aber der arbeitet janz ordentlich.‘“ Und dann, 1973, stand | |
| da im Sound, einer Diskothek in Kreuzberg, die Rita. „Wahnsinn!“ Er bot ihr | |
| Schokolade an. Sie lehnte ab: „Nö.“ Er blieb trotzdem. Seitdem sind sie ein | |
| Paar, „51 Jahr!“. | |
| Comeback: Wenige Tage nachdem es zwischen ihm und Rita gefunkt hatte, | |
| fragte ein Bekannter: „Sag mal, hast du nicht mal bei den Oaks getrommelt? | |
| Die Bleibtreurevue sucht gerade ’nen Schlagzeuger …“ Zufall oder Schicksal | |
| wollten es, dass beim Trödler um die Ecke gerade ein Schlagzeug im | |
| Schaufenster stand. Kalkowski tauschte gegen eine alte Jugendstillampe. Und | |
| dann ging es wieder los mit dem Schlagzeug, den Gitarren, der Musik, dem | |
| Gesang. Und Rita stand im Publikum. | |
| Nebenjob: Den Bass der Band spielte Micky Westphal, mit dem Kalkowski immer | |
| Plakate kleben ging, für 60 Pfennig das Stück. „Wir klebten ganze Bauzäune | |
| voll, dafür bekamen die Poliere dort dann Freikarten. Wenn wir zwei Stunden | |
| später noch mal vorbeikamen, war alles schon wieder überklebt. Da waren | |
| schöne Plakate dabei, Michael Jackson zum Beispiel, hab ich noch ’nen | |
| ganzen Packen von.“ Kalkowski hat Tausende Plakate. Einmal kam ein Sammler | |
| extra aus Hamburg und blätterte durch. „Wie viel willsten?“ fragte er und | |
| deutete auf einen kleinen Stapel. Kalkowski maß die Höhe mit dem Zollstock. | |
| Heute hat der Hamburger eine Posterfirma. Nur Rock ’n’ Roll. | |
| Stilecht: Rock ’n’ Roll gehört dazu zu Kalle Kalkowski. Mit allem drum und | |
| dran, mit Cowboystiefeln und Hawaiihemden und Straßenschildern der Route | |
| 66. Und einem Plattencover von Kalkowski. Da sieht er aus wie ein ganz | |
| Großer. Im weißen Ripphemd mit Malermuskeln. „Sturm“ hieß die Scheibe, | |
| gepresst 1990, fotografiert [2][vom Rock-’n’-Roll-Fotografen Jim Rakete]. | |
| Kalkowski erklärte ihm, wie er sich das Cover vorstellte: Die halbnackte | |
| Frau auf dem Bett, dahinter, am Fenster, Kalkowski, der zu einem Motel auf | |
| der gegenüberliegenden Straßenseite blickt. Jim Rakete sagte: „Miami!“ – | |
| „Was?“ – „So was geht nur in Miami. Ruf doch mal bei Ariola an!“ Kalk… | |
| rief an, und Ariola sagte: „Ihr habt ’nen Vogel!“ – Eine halbe Stunde | |
| später klingelte das Telefon: „Kalle, du fliegst nächste Woche mit Jim nach | |
| Miami.“ | |
| Unter Vertrag: Micky Westphal hatte eines der Demobänder von Kalkowski | |
| weitergereicht. „Eines Morgens rief Ariola an und sagte, wir würden gerne | |
| ’nen Vertrag mit Ihnen machen. Da hab ich mal ’nen Luftsprung gemacht.“ A… | |
| er im Studio stand, kam ein bekannter Kollege und staunte: „Kalle? Was | |
| machsten du hier?“ – „Ick nehm ’ne Platte uff!“ – Der wollte es gar… | |
| glauben. „Für die Profis war ich doch immer nur der doofe Maler gewesen!“ | |
| Der rockende Malermeister. | |
| Neuköllner Hendrix: „Hau ab!“ hieß die erste Scheibe. Und Kalkowski war | |
| gut. Er war echt. Eine rauchige Stimme, klare Worte, die sich schnörkellos | |
| den kürzesten Weg von der Sängerseele zum Publikum bahnten. „Wenn ich auf | |
| der Bühne stehe und singe, kann ich über alles reden. Wenn ich vor einem | |
| Psychiater sitzen müsste, wüsste ich nicht, was ich sagen sollte.“ Zehn | |
| Singles hat er gemacht und drei LPs, der „Neuköllner Hendrix“, wie der | |
| Komiker Kurt Krömer mal sagte. Doch der große Erfolg blieb aus. Inzwischen | |
| ist ihm das egal. Und Geld spielt keine Rolle. „Ick mach dit nich wegen der | |
| Kohle. Ick mach dit, weil ick et will.“ Dann fügt er hinzu: „Ick kenn | |
| Leute, die haben 20 Gigs im Monat und verdienen 2.000 Euro. Da mach ick | |
| doch lieber zwei Zimmer für 2.000 Euro.“ | |
| Original: Trotzdem ist er noch immer begeistert von jedem neuen Lied, das | |
| er aufnimmt. Noch genauso wie 2004, als er mit Michael Schirmer, diesem | |
| „wahnsinnigen Gitarristen“, die Elektrische Männerwelt gründete, um Hendr… | |
| zu spielen. Es gebe niemanden, der Hendrix so unmerklich ins Deutsche | |
| übersetzt, sagen seine Fans. Er klinge wie ein Original. Weil Kalkowski | |
| nicht nachspielt. Er ist immer echt, immer Kalle Kalkowski. Immer original. | |
| Egal, ob er Stones oder Hendrix oder Kalkowski spielt. 100 Prozent | |
| Kalkowski. | |
| The Show Must Go On: Kalkowski steht im Dachzimmer seiner Erinnerungen. | |
| Keine Ahnung, wie oft er auf der Bühne war. „Aber ich freue mich auf jeden | |
| Gig, als wär’s der erste!“ Er freut sich auch auf Rita oder den Garten. | |
| Oder Boris, den Sohn, der hinter ihm am Schlagzeug sitzt, wenn der Vater | |
| auf der Bühne ganz vorne am Mikro steht. Tagsüber gehen sie Wände malen, | |
| abends stehen sie auf der Bühne. Oder fahren im Sommer nach Memphis, um in | |
| Elvis’ altem Plattenstudio drei Songs aufzunehmen. Vater und Sohn. The show | |
| must go on. „Diese alten Leute, die mit einem Bein im Grab stehen, die | |
| nerven mich. Ständig kommen sie an und fragen: ‚Mensch Kalle, wat du allet | |
| noch machst! Lohnt sich das denn noch? Macht das Spaß?‘“ | |
| Freude: Und wie das Spaß macht. Nicht nur der Rock ’n’ Roll. Das ganze | |
| Leben. „Manchmal steh ick morgens uff und freu mir. Und weeßte, woruff? Uff | |
| die nächste Hauswand! Da freu ick mir druff. Echt jetzt!“ Dann muss er über | |
| sich selbst lachen. | |
| Das Konzert: Mit „Elektrische Männerwelt“ tritt Kalkowski am Samstag, den | |
| 28. September 2024 im [3][Anno 64] in Kreuzberg auf. | |
| 27 Sep 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Stones-Konzert-1965-in-der-Waldbuehne/!5040445 | |
| [2] /Jim-Rakete-ueber-Klimaschutz-und-Aesthetik/!5807791 | |
| [3] https://anno64.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Hans Korfmann | |
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