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# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie macht immer ihr eigenes Ding
> In einer eigenen Wohnung zu leben, nach der Förderschule zu studieren,
> eine Festanstellung zu finden – um all das musste Viktoria Eckert
> kämpfen.
Bild: Viktoria Eckert in ihrer Wohnung
Anders als bei ihrer Zwillingsschwester ging bei ihrer Geburt einiges
schief: Wegen des Sauerstoffmangels wird sie später auf den Rollstuhl
angewiesen sein.
Draußen: Die Straße [1][im Berliner Wedding] wird von Gründerzeithäusern
gesäumt. Viktoria Eckerts Wohnung liegt hinter einer Durchfahrt in einer
kreisförmigen Anlage. Sie zu finden ist nicht leicht. Zwei Jungs, die auf
einer kleinen Rasenfläche Fußball spielen, geben bereitwillig Auskunft. Sie
kennen die Siedlung wie ihre Westentasche.
Drinnen: Eine Assistentin öffnet die Tür von Viktoria Eckerts
Erdgeschosswohnung und lotst von einer lichtdurchfluteten Diele ins
minimalistisch eingerichtete Wohnzimmer. Neben dem Tisch gibt es ein
Bücherregal [2][mit Werken von J. K. Rowling] bis zu der Reihe „Unlearn
Patriarchy“. Vor einer taubenblau gestrichenen Wand steht ein Sofa,
gegenüber ein Plasmafernseher, drum herum hängen Landschaftsaufnahmen von
einer Reise in die Niederlande. Daneben Porträts berühmter Frauen wie Toni
Morrison und Vivienne Westwood. Eckerts Assistentin zieht sich aufs Sofa
zurück und daddelt auf ihrem Handy, jederzeit abrufbereit.
Hundeliebe: Viktoria Eckert beginnt ohne Umschweife, aus ihrem Leben zu
erzählen. Vom Alltag im Studentenwohnheim, ihrer schulischen Laufbahn. Die
30-Jährige ist es gewohnt, immer jemanden um sich zu haben und dennoch ihr
eigenes Ding zu machen. Am liebsten hätte sie einen Hund: „Aber das geht
mit so viel Verantwortung einher.“ Deswegen, erzählt sie, schreibe sie bei
der Suche nach Assistent*innen in die Anzeigen: „Hunde gemocht.“ An der
Wand hängt ein Kalender mit Hundefotos. Darauf abgebildet: jetzige oder
ehemalige Hunde ihrer Assistent*innen. „Ein Geschenk“, sagt sie.
Arbeitgeberin: Viktoria Eckert hat nicht nur eine, sondern gleich sieben
persönliche Assistentinnen. Alle sind bei ihr angestellt. „Das heißt, ich
zahle ihre Sozialabgaben und mache Stundenpläne nach ihrer Verfügbarkeit.“
Die Planung erfordert Geschick. „Fällt jemand aus oder passt es mit
jemandem nicht, muss sofort Ersatz her.“ Ohne geht es nicht. Eckert selbst
ist auch festangestellt. Seit einem Jahr arbeitet die Kommunikations- und
Politikwissenschaftlerin in Vollzeit als Community-Managerin bei der
[3][Super Coop], einem genossenschaftlichen Supermarkt bei ihr um die Ecke.
Sie ist eine von fünf Festangestellten und kann sich spürbar mit dem
Konzept identifizieren.
Super Coop: 75 Prozent der Arbeit, schwärmt Eckert, werde durch Genossinnen
und Genossen abgedeckt – dadurch ließen sich die Preise 20 Prozent
günstiger halten als die herkömmlicher Biosupermärkte: Wer neben dem
jährlichen Beitrag drei Stunden pro Monat in der Coop arbeitet, kann
einkaufen und über das Sortiment mitbestimmen. „Für Menschen, die ihre
Jahresgebühr nicht zahlen können, gibt es Ratenzahlungen oder Soli-Anteile,
für Menschen, die nicht so viele Schichten machen können, Ausnahmen.“ Das
Credo von Super Coop: Faire Produktions- und Handelsbedingungen. Alles sei
transparent, „bis hin zu den Aufschlägen auf den Einkaufspreis“. Für
Viktoria Eckert steht das Gemeinschaftliche im Vordergrund. „Alle
Miteigentümer*innen sind zugleich Mitarbeiter*innen und
Kund*innen.“ Wenn sie ausnahmsweise woanders einkaufe, falle ihr der
Unterschied auf: „In der Super Coop ist es freundlicher. Da unterhält man
sich. Man hilft sich gegenseitig, wenn jemand nicht weiterweiß.“
Die Bewegung: Urmutter aller kooperativen Supermärkte ist die seit 50
Jahren bestehende Food Coop in New York. In Deutschland gibt es unter
anderem noch in München und Köln ähnliche Initiativen. „Gemeinsames Ziel
ist, die Supermarktwelt zu revolutionieren.“ Dabei gehe es nicht dogmatisch
zu. „Klar ist ein erhöhter Fleischkonsum aus Klimagründen nicht gut – in
der Super Coop haben wir trotzdem Fleisch aus der Region“, sagt Eckert.
Durchboxen: Dass sie eine Festanstellung auf dem sogenannten ersten
Arbeitsmarkt bekommen hat, ist für sie, wie so vieles, nicht
selbstverständlich. Als ihre Eltern sie und ihre Zwillingsschwester in
ihrem Heimatort, einer 7.000-Einwohner-Stadt dreißig Kilometer südlich von
Leipzig, in der Grundschule anmelden wollten, hieß es: „Das schaffen wir
nicht.“ Dabei, erklärt Viktoria Eckert, hätte sie keine Unterstützung beim
Lernen benötigt. „Nur jemanden, der mich auf die Toilette begleitet.“ Das
war 2001. „Da war Inklusion noch nicht so verbreitet.“
Ausbruch: Eckert musste in ein sogenanntes Förderzentrum in Leipzig. „Da
gab es einen Zweig für körperbehinderte Kinder und einen für Kinder mit
Lernschwächen.“ 2012 machte sie einen Realschulabschluss, „der höchste
Abschluss an Förderschulen. In der Regel geht es danach in eine Werkstatt.“
Sie aber wollte Abitur machen. Für eine gymnasiale Oberstufe fehlte ihr
eine zweite Fremdsprache, „an der Förderschule gibt es nur eine“. Ein
Wechsel sei nicht vorgesehen. „Niemand hatte Erfahrung damit.“ Sie fand
dann eine Schule in Brandenburg. Die habe wie ein Internat funktioniert.
Unter der Woche lebte Viktoria Eckert dort bis zu ihrem Abitur.
Selbstbestimmung: Seit dem Abitur ermöglicht ihr ein persönliches Budget,
selbstbestimmt zu leben. Den Antrag dafür durchzubekommen, dauerte ein
Jahr. Und es wurde ihr nicht leicht gemacht: „Sie haben Dinge gefragt wie:
‚Und brauchen Sie denn auch nachts Hilfe?‘“ Ihr Vater habe nur den Kopf
geschüttelt. Auch Viktoria Eckert kann nur den Kopf schütteln bei der
Erinnerung daran: „Ich hatte das Gefühl, sie hätten am liebsten, dass ich
nachts einfach eine Windel trage.“ Jedes Jahr muss sie das persönliche
Budget neu beantragen, „dabei wird sich an meinem Bedarf nichts ändern“.
Eine reine Farce, wie sie meint.
Behindert werden: Auch sonst erlebt sie ihre Behinderung als ein
Behindertwerden, „als strukturelles, gesellschaftliches Problem“. Sie
erzählt von den vielen Bewerbungen, die sie geschrieben hat, als sie einen
Job suchte: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Unternehmen eher die
Strafgebühr zahlen wegen Verletzung der Auflage, soundso viele
Schwerbehinderte einzustellen, als tatsächlich Schwerbehinderte
einzustellen.“ Dazu kämen Alltagshürden wie in Berlin etwa fehlende oder
defekte Aufzüge an den U-Bahnhöfen. „Ich muss ständig umplanen, weil an
U-Bahnhöfen der Aufzug defekt ist oder gar keiner existiert.“
Spontaneität: Schon als Kind musste sie erleben, dass ihr Radius
eingeschränkter ist als der anderer: Während ihre Zwillingsschwester zu Fuß
zur Schule und zurück kam und spontan Freunde besuchen konnte, war der Tag
von Viktoria Eckert durch die Zeiten eines Fahrdienstes getaktet. Sie
musste um 6 Uhr aufstehen und kam oft nicht vor 16 Uhr zurück: „Sie sammeln
immer ganz viele auf ihren Fahrten ein.“ Spontaneität ist für sie bis heute
nicht drin. „Ich kann nie spontan an die Ostsee – dafür müsste ich Tage
vorher einen Hublift beantragen, der den Rollstuhl von der Bahnsteighöhe
auf die Zughöhe anhebt.“ Sie sei eh kein spontaner Typ, sagt sie, „aber
vielleicht ist das auch der Situation geschuldet“.
Vergleiche: Eckert meint, durch ihre Zwillingsschwester und ihre jüngere
Schwester sehe sie, wie ihr Leben hätte sein können: „Aber ich kenne es ja
nicht anders.“ Sie vergleicht sich nicht mit ihnen. Wohl aber die deutschen
Standards von Inklusion mit denen, die sie bei Reisen in den Niederlande
erlebt hat: „Dort sind sie viel weiter.“ Die Bordsteinkanten seien überall
abgesenkt. Und auch Bahnfahren sei einfacher. Als sie einen Zug verpasste,
sei für den nächsten schnell ein ausklappbares, manuelles Rampensystem
gebracht worden.
Loving Vincent: An der Wand hängt ein Druck von Vincent van Gogh. Zu ihm,
erklärt sie, habe sie eine besondere Verbindung: „Ich mag seine Bilder
sehr, aber auch seine tragische Lebensgeschichte.“ Sie schwärmt von dem
Film „Loving Vincent“, den sie im Kino gesehen hat. Das Kino ist eine
Leidenschaft von ihr.
Traum: Am liebsten würde sie journalistisch arbeiten. Ein Praktikum bei der
„Abendschau“ des Regionalsenders rbb hat sie in dem Wunsch bestärkt:
„Obwohl ich da oft eher Behindertenthemen bekommen habe.“ Mittlerweile
schreibt sie für den Ortsteilblog Weddingweiser.
Anerkennung: Sie möchte nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden wie
andere. Als Kind habe sie öfter zu hören bekommen, dass die Bewertungen
ihrer Leistungen nur dank Nachteilsausgleich zustande gekommen seien. Als
im Praktikum beim Rundfunk nach ihrer Sendungskritik geklatscht wurde, war
ihr unwohl: „Ich war nicht sicher, ob ich bejubelt werde, weil ich
überhaupt spreche.“ In einem anschließenden Gespräch habe die Redakteurin
gesagt, es sei eine brillante Kritik gewesen. Sie zuckt mit den Achseln.
„Einen Job haben sie mir trotzdem nicht angeboten.“
13 Oct 2024
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## AUTOREN
Eva-Lena Lörzer
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