# taz.de -- Der Hausbesuch: Von Schildkröten lernen | |
> Die Krankenschwester Jane Mey hadert mit der Ökonomisierung der | |
> Pflegeberufe. Unterkriegen lässt sie sich davon jedoch nicht. | |
Bild: Jane Meys Töchter sind allgegenwärtig, auch wenn nicht mehr alle im Hau… | |
Krankenhäuser sind profitorientierte Unternehmen. Dass das zu nichts Gutem | |
führt, weiß Jane Mey genau. | |
Draußen: Mit einer Rikscha wartet Meys Ehemann Peter vor dem Freiberger | |
Bahnhof. Während der Fahrt zum Haus der Familie zeigt er den | |
spätmittelalterlichen Kern der früheren Berg- und Silberstadt am Fuße des | |
Erzgebirges. Auf dem Marktplatz hält Mey am Denkmal des einstigen | |
Markgrafen von Meißen, heute salopp „Otto der Reiche“ genannt, und aus dem | |
Glockenturm des Rathauses gegenüber ertönt das Bergmannslied: „Glück auf! | |
Glück auf! Der Steiger kommt“. Weitere fünf Minuten Fahrt sind es bis zum | |
Haus, in dem Jane Mey mit Peter, den gemeinsamen Töchtern und einer Hündin | |
lebt. Davor ein Schild: „Hier war Goethe nie.“ | |
Drinnen: Schon das Schuhregal im Eingangsbereich zeigt, dass hier einige | |
Menschen wohnen. „Dabei sind wir nur noch zu viert“, sagt Jane Mey und | |
lacht. Die älteste Tochter der 51-Jährigen ist ausgezogen, die mittlere ist | |
kurz davor. Nur die Jüngste wird noch eine Weile bleiben. Sie ist 17 und | |
fängt gerade eine Ausbildung an. Über einen begrünten Innenhof geht es zu | |
einem weiteren Haus. Darin befindet sich ein Arbeitszimmer, von den Meys | |
„das Büro“ genannt. | |
Politik: Peter Mey bringt Kaffee in einer Kanne aus Meißner Porzellan und | |
Freiberger Eierschecke – „Im Gegensatz zur Dresdner ohne Quark“ – zum | |
Tisch. Jane Mey beginnt zu erzählen. Als die Mauer fiel, war sie 16 und | |
lebte noch in ihrer Heimatstadt Karl-Marx-Stadt – heute Chemnitz. Während | |
Peter mit 17 in Freiberg in der Hoffnung auf Reisefreiheit zu den | |
Montagsdemonstrationen ging, hat es Jane bis heute nicht so mit Politik. | |
Mit ihrer mittleren Tochter war sie bei einigen Wahlkampfveranstaltungen, | |
„aber ich verstehe Politik nicht. Sie sagen das eine und machen das | |
andere.“ Mey packt lieber im eigenen Umfeld an. Da, wo sie sieht, was sie | |
bewirkt. Unter anderem engagiert sie sich ehrenamtlich in einem Hospiz: | |
„Erst einmal nur in der Küche.“ | |
Unbehagen: Schon zu DDR-Zeiten schwamm Jane Mey gern gegen den Strom: „Mit | |
16 habe ich mich geweigert, zur 1. Mai-Demo zu gehen, weil ich nicht | |
eingesehen habe, wieso.“ Hinzugehen war Pflicht, fernbleiben gewagt. So wie | |
die seitlich rasierten Haare, die sie hatte, ohne sich als Punk zu | |
identifizieren. Bis heute behagt es ihr nicht, sich Gruppierungen | |
anzuschließen. | |
Argumente: Sie habe zwar einen eigenen Kopf, sagt Mey, feste Meinungen aber | |
kenne sie nicht. „Ich lasse mich mit guten Argumenten auch vom Gegenteil | |
überzeugen.“ Während des Kalten Krieges habe Meinungsbildung so | |
funktioniert, erklärt sie verschmitzt: „Man hat erst Ostfernsehen geguckt, | |
dann Westfernsehen.“ Den Informationen, die gleich waren, ließ sich trauen. | |
Pflegenotstand: Ein politisches Thema allerdings kennt Mey aus eigener | |
Erfahrung. In den letzten 30 Jahren hat sie erst als Krankenschwester, dann | |
als sogenannte Kodier-Assistentin und zuletzt als Pflegefachkraft | |
gearbeitet. Sie nippt an ihrem Kaffee. Und erzählt von immer größer | |
werdendem Druck durch privatwirtschaftliche Management-Maßnahmen und | |
Personalmangel: „Alle wollen gut versorgt werden. Die Arbeit aber will | |
niemand.“ Um der Jugend den Job schmackhaft zu machen, müssten nicht nur | |
die Löhne steigen: „Es bringt nichts, mehr zu haben, wenn man durch die | |
Arbeit im Sarg liegt.“ | |
Fallpauschalen: 2003 wurde in Deutschland nach australischem Vorbild ein | |
Abrechnungssystem eingeführt, bei dem stationäre Krankenhausbehandlungen | |
über Fallpauschalen abgerechnet werden. Anhand einer Blinddarm-OP erklärt | |
Jane Mey, was das bedeutet. Für die Behandlung werde dem Krankenhaus von | |
den Kassen eine feste Pauschale gezahlt: „Wird der Behandelte nach drei | |
Tagen entlassen, macht das Krankenhaus Gewinn. Ab drei Tagen wird es zum | |
Nullsummenspiel.“ Bei mehr Tagen mache das Krankenhaus minus. „Es sei denn, | |
es findet sich ein weiterer Behandlungsgrund, der eine neue Pauschale | |
einbringt.“ Als Kodier-Assistentin laufe man bei den Visiten mit. „Und | |
sagt: ‚Da gibt es noch was zur Abrechnung.‘ Oder: ‚Wir müssen eigentlich | |
entlassen, die Zeit ist um.‘“ | |
Reform: Als hätte man sie erhört, wurde im Oktober vom Bundestag eine | |
[1][Krankenhausreform] verabschiedet, die, vereinfacht gesagt, die | |
Bedeutung der Fallpauschalen deutlich abschwächt. Der Bundesrat muss noch | |
zustimmen. Und Jane Mey? „Ich finde es toll, dass endlich etwas passiert“, | |
sagt sie. Wie sinnvoll die geplanten Maßnahmen sind, wagt sie aber nicht zu | |
beurteilen. | |
Überstunden: Ihre Ausbildung als Krankenschwester machte sie in einem | |
Krankenhaus. „Dort habe ich Ärger bekommen, dass ich Überstunden mache.“ | |
Dabei seien die nicht vermeidbar gewesen: „Wenn ich im Spätdienst bin und | |
zum Schichtwechsel ein Notfall passiert, lasse ich die Kollegen doch nicht | |
im Stich, sondern versorge den Patienten.“ Jane Mey schüttelt den Kopf. | |
„Die fanden, Schichtende ist Schichtende. Ab da muss die Nachtschicht | |
übernehmen. Alles, um Kosten zu vermeiden.“ | |
Menschlichkeit: Als sie 1996 als Krankenschwester anfing, habe es noch mehr | |
Personal gegeben: „Da waren wir nachts zu zweit.“ Heute fehle die Zeit für | |
Zwischenmenschliches, „auch mal ein offenes Ohr haben zu können für die | |
Leute“. Dabei helfe die beste Medizin nicht, wenn die Seele nicht | |
mitgesunde. Zeit für ein kurzes Gespräch, meint sie, könne auch präventiv | |
und somit kostensparend wirken. „Oft erfährt man weitere Beschwerden, denen | |
nicht nachgegangen wurde.“ | |
Hintergrund: Schon Meys Mutter war Krankenschwester. Und in der | |
Mitarbeitervertretung. „Dabei wollte ich eigentlich nie in ihre Fußstapfen | |
treten.“ Als sie nach einer Ausbildung zur Weberin nach der Wende noch eine | |
zur Krankenschwester begann, weil sie als Weberin keine Stelle fand, habe | |
sie sich auch eher vorgestellt, in die Entwicklungshilfe zu gehen. | |
Stattdessen landete sie in Freiberg. Und ist dort mittlerweile verwurzelt. | |
„Ich würde aber nicht ausschließen, nochmal mit einem Caravan um die Welt | |
zu reisen.“ | |
Kraftfrage: Zuletzt war sie Pflegefachkraft für einen ambulanten | |
Pflegedienst. „Ich ziehe den Hut vor allen, die den Job lange machen“, sagt | |
Mey. Sie selbst hat gekündigt. „Weil mein Körper einfach signalisiert hat, | |
dass es nicht mehr geht. Mein Blutdruck wurde immer höher.“ Nach einer | |
längeren Auszeit hat sie gerade eine neue Stelle als Pflegedienstleitung in | |
einer Tagespflege angenommen. Von der neuen Stelle erhofft sie sich mehr | |
Zeit für das, worum es ihr eigentlich geht: „Den Menschen zu helfen.“ | |
Künstliche Intelligenz: Von Entlastung durch KI wie Robotern, die beim | |
Anreichen der Medikamente unterstützen, hält sie wenig. „Also, ich lasse | |
mich später nicht von Robotern füttern!“ Auch als Unterstützung in der | |
Verwaltung sieht sie KI kritisch: „Mit jedem neuen Programm entstehen | |
Probleme, die von Menschen behoben werden müssen.“ | |
Schildkröten: In einem Abstellraum im Erdgeschoss steht eine Vitrine. | |
Darin: eine Sammlung von Schildkröten, Geschenke von Familie und Freunden. | |
Schildkröten sind Jane Meys Lieblingstiere. „Die sind zwar oft langsam, | |
aber auch sehr ausdauernd. Und können sich in ihren Panzer zurückziehen.“ | |
Auch eine silberne Schildkröte findet sich in der Sammlung, deren Panzer | |
sich öffnen lässt. Es ist eine Pillenschatulle. Jane Mey öffnet sie und | |
zeigt ein Paar Ringe aus Holz: „Die hat mir Peter zu unserer hölzernen | |
Hochzeit geschenkt.“ Kennengelernt haben sich die beiden auf der | |
Abendschule. Nächstes Jahr feiern sie ihre silberne. | |
Zukunft: Seit ein paar Jahren bauen die Meys ein neues Haus, „weil unseres | |
nicht altersgerecht ist“. Sie zeigen die Baustelle, nicht weit von ihrem | |
jetzigen Grundstück entfernt. Eigentlich sind es zwei Häuser. Die Wände des | |
als Wohnhaus geplanten Gebäudes sind aus Lehm. Eines der beiden oberen | |
Zimmer haben sie in den letzten Wochen fast fertigbekommen, der Plan sei, | |
zu Weihnachten ins neue Haus zu ziehen: „Welches Weihnachten, ist offen.“ | |
Ebenso, was sie mit dem zweiten Haus machen. „Eine WG mit betreutem | |
Wohnen“, meint Jane Mey. „Oder eine Demenz-WG.“ Denkbar sei vieles: | |
„Hauptsache, ein Ort der Gemeinschaft und des Zusammenkommens.“ | |
3 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Eva-Lena Lörzer | |
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