| # taz.de -- Kein Zweifel am Menschsein: In einer Zwischenzeit | |
| > Wenn ich Menschen am frühen Morgen treffe, erfasst mich ein Gefühl der | |
| > Zärtlichkeit. Ich denke dann, dass alle Menschen etwas Gutes in sich | |
| > haben. | |
| Bild: Alle geben auf ihre Weise ihr Bestes: Männer frühmorgens in Arbeitsklei… | |
| Wer am Menschsein zweifelt, muss morgens unter Menschen. Zwischen 4 und 5, | |
| wenn es fast noch Nacht ist und dunkel. Um diese Zeit sind in Hamburg schon | |
| erstaunlich viele Menschen auf den Beinen. | |
| Sie haben sich aufgerafft, angezogen, vielleicht Brotdosen für ihre Kinder | |
| gefüllt oder ein Schälchen für die Katze hingestellt. Sie waren schon kurz | |
| mit dem Hund draußen oder haben sich auch einfach nur selbst versorgt, | |
| frische Socken angezogen, Wasser ins Gesicht geschlagen. Und dann müssen | |
| sie los, gehen ihrer Pflicht nach. Sie treten aus dem Haus, dick | |
| eingepackt, zünden sich manchmal draußen eine Zigarette an, als würden sie | |
| mit dem Ritual den Tag anknipsen. Sitzen dann in der U-Bahn, die Stirn am | |
| Fenster, die Augen geschlossen, wachen wie automatisch auf und rappeln sich | |
| hoch, wenn die Bahn ihre Station erreicht. | |
| Die Menschen um diese Zeit haben etwas Friedliches. Sie sind still, müde, | |
| in einer Zwischenzeit: zwischen Nacht und Tag. In ihren Gesichtern ist | |
| etwas Dünnhäutiges, Sensibles. Sie erinnern an die Kinder, die sie einmal | |
| waren. Nur dass sie jetzt keine Kinder mehr sind und meist niemand mehr ihr | |
| Aufstehen und Leben für sie regelt. Dass sie es jetzt selbst tun müssen und | |
| oft erstaunlich gut hinbekommen. | |
| Wenn ich am Morgen diese Menschen sehe, erfasst mich ein Gefühl von | |
| Zärtlichkeit, das ich nur schwer erklären kann. Manche dieser Gesichter | |
| sehen verhärmt aus und von etwas Längerem müde als nur von diesem Morgen. | |
| Vielleicht rührt es mich, dass diese Menschen alle irgendwie auf ihre Weise | |
| versuchen, ihr Bestes zu geben oder überhaupt einfach nur erfüllen, was an | |
| diesem Tag als Aufgabe an sie gestellt wird. Dass sie das Leben antreten | |
| und sich tapfer einreihen in die Anforderungen an sich. Ich denke dann, | |
| dass irgendwie alle Menschen etwas Gutes in sich haben. Wirklich alle. Im | |
| Grunde fällt alles zurück auf einen Kern, in dem jeder Mensch schon | |
| irgendwie okay ist. Und das vielleicht mehr, als sie selbst von sich | |
| glauben. | |
| ## Ein großes gesellschaftliches Mosaik | |
| Und ich denke an das, was mich schon als Kind beschäftigt hat: Wie es | |
| eigentlich funktioniert in einer Gesellschaft, dass genug Menschen da sind | |
| für all die verschiedenen Berufe und Aufgaben, die es gibt. Wie es sich | |
| aufteilt, dass die eine Person im Krankenhaus arbeitet und die andere im | |
| Supermarkt oder die andere Lehrer oder Polizistin ist und das Zusammenleben | |
| irgendwie funktioniert, auch ohne dass diese Aufgaben erzwungen zugeteilt | |
| werden wie in einer Diktatur. | |
| Auch wenn es sich abzeichnet, dass sich dies vielleicht bald nicht mehr so | |
| organisch fügt, weil es [1][überall Notstand] zu geben scheint: einen | |
| Notstand auf den Baustellen, in den Schulen, in Pflegeheimen, in | |
| Restaurants, Bussen und Zügen. Überall fehlen Menschen, die frühmorgens | |
| aufstehen für diese Aufgaben. Und zudem gibt es auch Berufe, die eben nicht | |
| ganz freiwillig aufgeteilt sind, weil nicht alle gleichsam Zugang dazu | |
| haben und dort sind, wo sie gerne wären. Auch weil sie vielleicht nicht | |
| genug Träume dafür haben oder Kraft oder Geld oder Menschen, die sie | |
| geweckt und motiviert haben morgens, als sie noch klein waren und dies | |
| allein nicht konnten. | |
| Und trotz alledem ist es so, dass erstaunlich viele Menschen frühmorgens | |
| unterwegs sind. Still und müde. So dass sich ihr Bemühen zu einem großen | |
| gesellschaftlichen Mosaik zusammenfügt. Und das zu sehen, früh im Dunkeln, | |
| berührt mich. Ja. Wer am Menschsein zweifelt, muss morgens unter Menschen. | |
| 2 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christa Pfafferott | |
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