| # taz.de -- Wie Gesten verbinden können: Öffnet Eure Fenster | |
| > Die Männer von der Stadtreinigung trugen Weihnachtsmützen und ich hatte | |
| > zu Hause auch eine liegen. Da kam mir eine Idee. | |
| Bild: Als würde sie auf etwas warten: die Weihnachtsmütze | |
| Da liegt sie, die Mütze. Wie ein Ausrufezeichen. Rot, wie ein Trichter | |
| geformt, mit einem weißen Bommel an der Spitze. Eine Weihnachtsmütze. Ein | |
| Freund hat sie mir nach einer Adventsfeier mitgegeben: „Sie steht Dir“, | |
| meinte er. „Trag’ sie doch morgen mal aus Spaß bei der Arbeit.“ Doch ich | |
| traf da einen Menschen, der Ernstes erzählte. Und es passte nicht, ich | |
| setzte sie nicht auf. Seitdem liegt die Mütze zuhause auf der Fensterbank. | |
| Es ist einer der letzten Tage vor Weihnachten. Ein Morgen ohne Sonne, der | |
| Himmel ist grau. Ich weiß noch nicht, in welcher Stimmung ich diesem Tag | |
| begegne. Ich blicke hinunter in den Innenhof meines Hauses. An den | |
| Hausfassaden haben die meisten Menschen etwas Weihnachtliches dekoriert und | |
| offenbaren damit etwas von sich, den Wunsch, es sich gemütlich, festlich zu | |
| machen. | |
| Da bemerke ich an den Mülltonnen zwei Mitarbeiter der Hamburger | |
| Stadtreinigung. Sie haben orangefarbene Arbeitskleidung an. Auf den Köpfen | |
| tragen sie beide eine rote Weihnachtsmütze. Sie scheinen sie aus Spaß | |
| aufgesetzt zu haben. Es sieht nett aus, wie ihre Mützen wippen. Zusammen | |
| schieben die Arbeiter einen vollen Müllcontainer hinaus aus der Einfahrt | |
| zum Müllwagen. | |
| Auf einmal habe ich eine Idee: Wenn sie den vollen Container | |
| hinausschieben, werden sie den leeren auch wieder hineinbringen. | |
| ## Die Mütze liegt dort, als würde sie auf etwas warten | |
| Ich blicke zu der Mütze, die schon die ganze Zeit dort liegt, als würde sie | |
| auf etwas warten. Soll ich? Dann ziehe ich sie auf. Ich spüre Aufregung, | |
| dieses Prickeln, bevor eine Überraschung eintritt. Auf einem anderen Balkon | |
| sehe ich eine fremde Person sitzen. Was wird sie denken? Egal. Ich öffne | |
| das Fenster. | |
| Den leeren, leichter gewordenen Container schiebt nun nur noch einer der | |
| Mitarbeiter hinein. Er ist mittleren Alters, schlank, aus der Ferne sieht | |
| er so aus, hätte er schon etwas Leben hinter sich. Als er den Müllcontainer | |
| verstaut hat, öffne ich das Fenster und rufe laut hinaus über den Hof: | |
| „Daaanke!“ | |
| Der Mitarbeiter stutzt, er schaut hinauf, seine Augen suchen die Fenster | |
| ab. Dann erblickt er mich. Ich zeige auf meine Weihnachtsmütze und hebe den | |
| Zipfel hoch. Er lacht, hält inne. Dann drückt er einen Knopf an seiner | |
| Mütze und die Spitze bewegt sich auf einmal mechanisch hin und her. Ich | |
| hebe meinen Daumen nach oben. Und er breitet die Arme aus. | |
| Er reißt die Arme auseinander, wie ein Fußballer, der gerade ein Tor | |
| geschossen hat, wie ein Pastor im Altarraum. Und in dieser Geste liegt | |
| alles. Als würde er das ganze Leben umarmen. Den grauen Himmel auffangen. | |
| Als würde er sagen, siehst Du, es ist alles gut. Ist das nicht fantastisch! | |
| Ich lache. Da steht dieser orange Mensch im Hof, der für mich seine Mütze | |
| tanzen lässt. Dann wirft er mit einer Handbewegung eine Kusshand zu mir | |
| hinauf. Und ohne nachzudenken werfe ich ihm eine hinunter. Wir schauen uns | |
| an. Diese unbekannte Person und ich, mehrere Meter Luftlinie hinauf | |
| voneinander entfernt. Wir wissen nichts voneinander. Wahrscheinlich werden | |
| wir uns nicht wiedersehen. Doch in diesem Moment gibt es eine Verbindung. | |
| Auf einmal ist eine Linie zwischen uns gespannt, wie mit dem Lineal. Von | |
| Zipfelmütze zu Zipfelmütze. | |
| Der Mitarbeiter geht schließlich vom Hof. Ich schließe das Fenster. Die | |
| Mütze lasse ich noch etwas auf. Ach, dafür war sie da, denke ich. Wie sich | |
| alles ändert, wenn ich mitspiele, das Fenster öffne. Wie jede Geste zählt. | |
| Liebe Leser:innen. Das ist mein letzter Text dieser Kolumne für die taz | |
| nord. Ich danke Ihnen und Euch für das Lesen, das immer eine Verbindung | |
| zwischen Lesenden und Schreibenden spannt. Wie eine unsichtbare Linie. | |
| Manchmal wurden diese Linien sogar sichtbar. Mit Briefen, Zeichnungen und | |
| Kommentaren, die mich über die Jahre zu dieser Kolumne erreichten. Sie | |
| haben mein Herz erfreut und unsere unsichtbare Verbindung spürbar gemacht. | |
| Wenn mir eines bleibt zu schreiben, vor dem Ende dieses Jahres, dann dies: | |
| Öffnet Eure Fenster! | |
| 28 Dec 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Christa Pfafferott | |
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