| # taz.de -- Der Hausbesuch: Bloß nicht den Kopf in den Sand stecken | |
| > Als Politikerin der Linken erlebte Cornelia Ernst im EU-Parlament ihre | |
| > größte Niederlage – und ihren größten Erfolg. | |
| Bild: „Ich glaube, dass man immer etwas ändern kann, man muss es nur tun“,… | |
| Vom Lokalen zum Internationalen und nun wieder zurück. So in etwa sieht die | |
| politische Karriere von Cornelia Ernst aus. | |
| Draußen: Möbelläden, Autoteile- und Tierfuttergeschäfte finden sich rund um | |
| die Bushaltestelle in Dresden-Gompitz. Der schnellste Weg von dort zu | |
| Cornelia Ernsts Haus ist durch eine Baustelle versperrt. Der Umweg dauert. | |
| Endlich angekommen, zeigt Ernst zuerst den Garten mit Rosen, mit Sonnenhut. | |
| Auf dem Rasen zu ihrem Ärgernis ein Maulwurfshügel. | |
| Drinnen: Im Wohnzimmer spielt ein altes Radio, darauf stehen zwei | |
| Katzenfiguren unter einem bunten Regenschirm, ein Mitbringsel aus Dänemark. | |
| Gegenüber eine Dresdner Vitrine mit Glaskaraffen. Kater Paul streunt durchs | |
| Zimmer; Cornelia Ernst trägt ihn hinaus. Auf dem Esstisch liegt ein weißer | |
| Spitzenläufer, Ernst serviert Kaffee und Plätzchen. | |
| Dresden: Das Treffen mit Ernst findet noch vor den Landtagswahlen in | |
| Sachsen statt. Tags zuvor ist sie aus Brüssel zurückgekommen, sie musste | |
| dort noch letzte Dinge erledigen. 15 Jahre lang war Ernst für die Linke | |
| Abgeordnete im EU-Parlament, pendelte zwischen Brüssel, Straßburg und | |
| Dresden. In diesem Jahr kandidierte sie nicht wieder. „Hier ist mein | |
| Zentrum“, sagt sie über Dresden. In ihrem Haus wohnt sie mit ihrer Ehefrau | |
| Silvana seit zwölf Jahren. Die beiden kennen sich ein Vierteljahrhundert, | |
| damals war Ernst sächsische Landtagsabgeordnete und Silvana, wie heute, | |
| beim DGB. Diskriminierung wegen ihres Lesbischseins habe sie hier nicht | |
| erlebt. „Als wir zusammengezogen sind, haben wir unser halbes politisches | |
| Umfeld eingeladen. Damit war das Thema vom Tisch“, sagt sie. | |
| Globus: „Als Kind stand ich mit meinem Vater vor dem Globus. Er hat mit dem | |
| Finger auf London gezeigt. Und ich überallhin.“ Sie ist in Bad Saarow | |
| geboren. Weil ihr Vater beim Militär war, sind sie schon damals viel | |
| gereist. Nach der Wende hat sie ihm eine Busreise nach London geschenkt. | |
| Und sie? Auch Ernst war viel unterwegs. Auch beruflich. „Wenn du | |
| Asylpolitik machst, musst du reisen“, sagt Ernst. 45 Länder hat sie | |
| besucht, einige mehrmals. | |
| Streik: Als Dreijährige wollte sie Lehrerin werden, erzählt Ernst. Sie | |
| studierte in Leipzig Geschichte und Deutsch und promovierte mit 25 Jahren, | |
| anschließend unterrichtete sie am Institut für Lehrerbildung. Seit 1976 war | |
| Ernst in der SED. „Ich gehörte nicht zu den 99 Prozent, die im Widerstand | |
| waren.“ Nach der Wende sollte ihr Institut abgewickelt werden. Eine | |
| Studentin kam zu ihr und sagte: „Conny, wir müssen streiken.“ Im Trabi | |
| fuhren sie vor das Bildungsministerium und die Staatskanzlei, am Ende | |
| wurde das Institut erhalten. „Das war eine gute Erfahrung für mich: Du | |
| kannst etwas erreichen.“ Als einige Lehrende wegen Systemnähe | |
| rausgeschmissen wurden, konnten sie sich zurückklagen. „Diese | |
| Rechtsstaatlichkeit hat mich beeindruckt, das ist mein Zugang zum Westen | |
| gewesen.“ | |
| Politkarriere: In die PDS, die Vorläuferpartei der Linken, kam Ernst als | |
| Mitarbeiterin der sächsischen Landtagsabgeordneten Brigitte Zschoche, ihrer | |
| früheren Direktorin am Institut für Lehrerbildung. 1995 wurde Ernst | |
| stellvertretende Landesvorsitzende, 2001 Landesvorsitzende der PDS und | |
| später der Linken. Ab 1998 saß sie auch selbst im Landtag. Schon damals | |
| wurde darüber gestritten, wie die Partei ausgerichtet sein soll. | |
| Stasiaufarbeitung: Die Jahre nach der Wiedervereinigung waren geprägt von | |
| der Aufarbeitung der SED-Vergangenheit. Ernst erzählt von Gesprächen mit | |
| Opfern, die sie sehr berührt hätten. Im sächsischen Landtag wurde ein | |
| Bewertungsausschuss eingerichtet, der Stasibelastungen der Abgeordneten | |
| prüfte. Als Vorbild bezeichnet sie den Juristen Klaus Bartl. An ihm lässt | |
| sich viel ablesen über den Umgang mit der Partei. Er war als Jugendlicher | |
| für einige Jahre Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi, später war er in der | |
| SED-Bezirksleitung von Karl-Marx-Stadt tätig, dem heutigen Chemnitz. Im | |
| ersten Landtag von den anderen Abgeordneten geächtet. Eine Klage gegen ihn | |
| scheiterte, er blieb bis 2019 Abgeordneter, wurde schließlich Vorsitzender | |
| des Verfassungs- und Rechtsausschusses. Von Bartl habe Ernst gelernt, sich | |
| als Linke vehement für Freiheitsrechte und gegen Überwachung zu stellen. | |
| „Massenüberwachung ist immer falsch. Das ist unsere große Lehre bis heute�… | |
| sagt sie. | |
| Hypokrisie: Man merkt Ernst den Ärger darüber an, dass sich die anderen | |
| Blockparteien der DDR, die dann in der CDU oder FDP aufgingen, so | |
| verhielten, als hätten sie mit der SED nichts zu tun gehabt. Eine pauschale | |
| Gleichsetzung der DDR mit der Stasi lehnt sie ab. Die „Siegerarroganz“ des | |
| Westens habe viel kaputt gemacht und ein Zusammenwachsen zwischen Ost und | |
| West verhindert. | |
| Jugoslawienkriege: In den 90er Jahren begann Ernst, sich mit Asylpolitik zu | |
| beschäftigen. Sie war dabei, als Flüchtlinge aus Jugoslawien in Dresden auf | |
| Krankenbahren aus dem Zug getragen wurden. „Ich war total entsetzt. Der | |
| damalige Ausländerbeauftragte von Sachsen sagte zu mir: Frau Ernst, das da | |
| ist Krieg.“ Sie fuhr durch Sachsen, besuchte Flüchtlinge in abseits | |
| gelegenen Unterkünften. „Ich habe damals gelernt, dass man in so eine | |
| Unterkunft nicht einfach reinplatzen kann. Du musst die Leute akzeptieren, | |
| wie sie sind, sie haben viel hinter sich“, sagt sie. | |
| Kompromisse: Ernst ist froh, dass sie Abgeordnete im EU-Parlament war. „Im | |
| Europaparlament musst du am Thema arbeiten und bist viel stärker in die | |
| Gesetzgebung integriert, das ist eine andere Funktion als in der Opposition | |
| im Bundestag.“ Die Verschärfung des gemeinsamen europäischen Asylsystems, | |
| die [1][im April dieses Jahres vom EU-Parlament beschlossen wurde], | |
| empfindet sie als ihre größte Niederlage. „Wir haben bis zur letzten Minute | |
| verhandelt und wirklich versucht, Verbesserungen herauszuholen. Und dann | |
| haben wir das Gesetz abgelehnt, weil wir falsch finden, was dort | |
| beschlossen wurde“, sagt sie. | |
| Menschenfeind: Als Abgeordnete arbeitete sie eng mit NGOs zusammen, | |
| besuchte immer wieder Flüchtlingslager und sprach mit Anwält*innen. Das | |
| Wissen, das sie sich in Flüchtlingsthemen angeeignet hat, nutzte sie „als | |
| Waffe“ gegen die Kommission und Co, sagt sie. Den größten Erfolg ihrer | |
| Fraktion sieht sie darin, dass der Rechte [2][Fabrice Leggeri als Direktor | |
| der europäischen Grentschutzagentur Frontex gehen musste]. Seit der letzten | |
| Wahl sitzt er als Abgeordneter für das rechtsextreme französische | |
| Rassemblement National im EU-Parlament. „Als Frontex-Direktor war er | |
| wirklich ein Menschenfeind“, sagt Ernst. Zusammen mit NGOs hatte sie über | |
| Jahre hinweg die illegalen Pushbacks an den Grenzen dokumentiert und im | |
| Ausschuss Erklärungen zu Menschenrechtsverletzungen gefordert. Als ein | |
| Bericht des [3][Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung] belegte, dass | |
| Frontex diese Menschenrechtsverletzungen vertuscht hatte, kämpfte sie | |
| dafür, dass er öffentlich wird. | |
| BSW: Wenn das Gespräch auf Sahra Wagenknecht und ihre Partei kommt, wird | |
| Ernst unwirsch: „Sie haben schamlos die Mittel und Ressourcen der Linken im | |
| Bundestag benutzt“, sagt sie. Für sie ist die BSW keine Option, sie nennt | |
| sie „unoriginell“. Die Partei wolle das Verbrenner-Aus zurücknehmen und | |
| hetze gegen Geflüchtete. „Dieser nationalistische Kick ist für mich ein | |
| No-go.“ Der Schnitt der Linken mit den ehemaligen Parteikolleg*innen | |
| kommt aus ihrer Sicht zu spät. „Es war ein Fehler, so lange abzuwarten, bis | |
| die Politik der Linken völlig unklar wurde.“ | |
| Etwas zurückgeben: Warum sie sich trotz allem weiter für die Linke | |
| engagiert? „Weil die Partei so aussieht, wie sie aussieht. Das kann einem | |
| doch nicht egal sein.“ Sie wolle ihrer Partei etwas zurückgeben. Bei einem | |
| Anruf nach den Landtagswahlen zeigt sie sich von den Ergebnissen | |
| merklich mitgenommen. „Eine Katastrophe“, ruft sie ins Telefon. „Dass wir | |
| überhaupt noch in den Landtag gekommen sind, ist ein kleines Wunder.“ Das | |
| Gute sei, dass der Landesverband gefasst damit umgehe und sich daranmache, | |
| die Partei neu aufzubauen. Dazu möchte sie beitragen. | |
| Kommunalpolitik: Im Juni wurde Ernst für die Linke in den Ortschaftsrat | |
| ihres Dresdner Stadtbezirks gewählt. Beim ersten Treffen ging es um die | |
| Straßenlage in der Gegend, um Buspläne, um Hundekacke auf dem | |
| Kinderspielplatz. „Das ist das normale Leben“, sagt sie. | |
| Sprachrohr: Gerade jetzt, wo die AfD so stark geworden ist, sei die Zeit | |
| des Widerstands, sagt Ernst. Die Linke müsse mutig sein, sich zusammentun, | |
| auch international. „Ich nehme meine Kraft aus anderen Ländern, wo linke | |
| Parteien schon länger mit rechten Regierungen konfrontiert sind.“ Ernst ist | |
| überzeugt: „Das Parlament muss zum Sprachrohr der Leute werden.“ Es brauche | |
| Kampagnen mit Vereinen, Verbänden, Initiativen zur Bildung, zum | |
| Verkehrswesen, zur Pflege, weil das die Menschen bewegt. „Ich glaube, dass | |
| man immer etwas ändern kann, man muss es nur tun.“ | |
| Anm. d. Red.: In einer vorherigen Version des Textes hieß es, Klaus Bartl | |
| sei „Stasifunktionär“ gewesen. Das ist nicht richtig. Bartels war zwar | |
| Inoffizieller Mitarbeiter (IM) beim Ministerium für Staatssicherheit der | |
| DDR (Stasi), aber kein Funktionär. | |
| 19 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrike Wagener | |
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