# taz.de -- Chilly Gonzales: „Mein Dasein als Superschurke Gonzo ist sehr ver… | |
> Chilly Gonzales spricht über seine Psychoanalyse, Gemeinsamkeiten von | |
> Rapperinnen und Comic-Helden und einen Beef mit Richard Wagner in Köln. | |
Bild: Zeit für eine Straßenumbenennung: Chilly Gonzales | |
taz: Chilly Gonzales, Ihr aktuelles Album heißt „Gonzo“. Es trägt also | |
Ihren etablierten Künstlernamen. Die ganze Welt kennt Sie als Chilly | |
Gonzales. Wie viel Jason Beck steckt denn noch in Chilly Gonzales? | |
Chilly Gonzales: Tatsächlich ist das eine Frage, die mich schon länger | |
beschäftigt. Seit dem Jahr 2000, als ich den Künstlernamen Chilly Gonzales | |
angenommen habe, wurde dieser immer präsenter in meinem Alltagsleben. Erst | |
nannten mich meine Kolleg:Innen so, dann weitere Menschen, die ich über | |
meine Musikkarriere kennen gelernt habe. Es gibt nur noch fünf Leute, die | |
mich Jason nennen. | |
taz: Und wie finden Sie das? | |
Chilly Gonzales: [1][Mir gefiel das von Anfang an, weil es mir bedeutete, | |
dass mein Leben über meine künstlerische Seite geordnet und bestimmt wird]. | |
taz: Warum ist das so? | |
Chilly Gonzales: Ich mochte einfach, dass Gonzo jemand Besonderes ist. Und | |
nicht der Normalo Jason Beck, sondern eine Art Superheld meiner eigenen | |
Geschichte – oder vielleicht sogar ein Superschurke, je nachdem. Jedenfalls | |
ist es sehr verführerisch, so zu leben. Was mich dann nach einigen Krisen | |
auf die Couch einer Psychoanalyse brachte. | |
taz: Der Waschzettel zum Album spricht ebenfalls von Ihrer Psychoanalyse. | |
Warum ist diese so relevant für Sie und das neue Album? | |
Chilly Gonzales: [2][Ich musste relativ schnell feststellen, dass mir das | |
Leben als Gonzo viele Vorteile gebracht hat, aber eben keine Dauerlösung | |
für Probleme in meinem Leben darstellte.] Etwa 2014, nach ein paar Jahren | |
in der Therapie, habe ich eine persönliche E-Mail-Adresse mit meinem | |
bürgerlichen Namen eingerichtet. | |
taz: Und doch heißt Ihr neues Werk „Gonzo“, wie kam es dann dazu? | |
Chilly Gonzales: Ich habe mich mit meiner Gonzo-Seite versöhnt. Während der | |
Therapie habe ich verstanden, dass es nicht darum geht mich zu heilen, | |
sondern ein gutes Leben zu führen. Dazu gehört auch, Gonzo seinen Platz | |
einzuräumen, ohne dass dieses alternative Leben, diese Superheldenfantasie | |
Überhand gewinnt. | |
taz: Diese Wandlung spiegelt sich auch in der Musik wider. Die neuen | |
Songtexte kommen, anders als bei Vorgängern aus den Nullerjahren, deutlich | |
von einem glaubwürdigen Platz. Was hat sich genau gewandelt beim | |
Komponieren der Songs? | |
Chilly Gonzales: Wenn ich die neuen Texte mit den alten vergleiche, dann | |
tut mir das Individuum von damals meistens leid. Die Lyrics sind geprägt | |
von einer Mischung aus Selbstverachtung und Größenwahn. Mein damaliger | |
Schreibprozess lässt sich auf diesen einen Gedanken runterbrechen: Welcher | |
Satz, welcher Reim wäre jetzt cool? Das hat sich gewandelt. Beim neuen | |
Album ging es darum, zu sagen, was ich wirklich denke und fühle. | |
taz: Sie haben mal gesagt, dass Ihre Playlist zu 70 Prozent aus Rap und zu | |
30 Prozent aus Klassik besteht. Außerdem sind Sie bekennender Comic-Fan. | |
Gehören diese beiden Faszinationen zusammen? | |
Chilly Gonzales: Ja, natürlich. MF Doom, Busta Rhymes, Biggie Smalls – das | |
sind ja alles Comicnamen. [3][Es gibt eine tiefe Verbundenheit zwischen den | |
beiden Kunstformen Rap und Comic], in der ich mich immer angesiedelt habe. | |
Mein Leben, mein Denken und meine Wahrnehmung sind von Rap beeinflusst. Ich | |
glaube auch nicht, dass es nur 70 Prozent Rap-Musik sind – im Moment sind | |
es wahrscheinlich 95 Prozent Rap-Musik, die ich im Alltag höre. | |
taz: Dennoch hat es bis „Gonzo“ gedauert, dass Sie wieder auf einem Album | |
gerappt haben. Darauf mussten die Fans über zehn Jahre warten – wenn man | |
von Ihrem Abstecher „French Kiss“ absieht, bei dem Sie französisch gerappt | |
haben. | |
Chilly Gonzales: Ich konnte einfach keine Texte mehr schreiben: Wissen | |
Sie, ich bin als Künstler schon immer passiv, lasse die Sachen eher | |
geschehen und forciere sie nicht. Es gab einfach nichts, was ich sagen | |
wollte. Ein Zusammenhang zu meiner Therapie ist da ganz gewiss gegeben, | |
denn sobald diese 2022 endete, brauchte es gerade mal zwei Monate, bis der | |
Drang zum Texten wieder zurückkam. | |
taz: Rap als Kunstform endet bei Ihnen nicht beim Sprechgesang als Technik, | |
Sie übernehmen auch andere Facetten. Zum Beispiel zetteln Sie auf dem neuen | |
Werk einen Beef an – Sie dissen Richard Wagner. | |
Chilly Gonzales: So kann man das sehen. (lacht) Die Geschichte zum Stück | |
„F*** Wagner“ reicht lange zurück. Mein Vater, der als Jude aus Ungarn nach | |
Kanada flüchtete, war ein Wagnerianer. Er hat mich und meine Geschwister in | |
der Jugend sogar mit nach Bayreuth zu den Festspielen geschleift. Er hat | |
nichts auf seinen Wagner kommen lassen. Und so bin ich mit Wagner, diesem | |
Überkomponisten, groß geworden. Später las ich dann Bücher über ihn und | |
allmählich dämmerte mir, dass Wagner Antisemit war. Und damit meine ich | |
nicht mal die Verbindungen, die die Familie Wagner in der NS-Zeit zu Adolf | |
Hitler hatte, sondern bereits Richard Wagners Pamphlet „Das Judenthum in | |
der Musik“ von 1850. Deswegen ist mein Verhältnis zu Richard Wagner seit | |
Jahren schwierig. | |
taz: Wie äußert sich das? | |
Chilly Gonzales: Seit ich 2012 nach Köln gezogen bin, wohne ich in | |
unmittelbarer Nähe zur Richard-Wagner-Straße. Und an diesem Straßennamen | |
finde ich einfach nicht richtig, dass man dadurch auch einen Antisemiten | |
würdigt. | |
taz: Spielen wir des Teufels Advokat und behaupten, in diesem Fall müsse | |
man die Trennung zwischen Künstler und Person ins Feld führen. | |
Chilly Gonzales: In anderen Fällen würde ich das gelten lassen, doch bei | |
Wagner fallen der Komponist und der Antisemit zusammen – Antisemitismus ist | |
Teil des Werks. Einige Zeit dachte ich, ob man die Straße besser nach | |
seiner Oper „Parsifal“ nennen sollte, aber dann ergab sich ein anderer | |
Gedanke: Warum würdigt man nicht eine ganz große Künstlerin, die Köln – | |
eben die Stadt, in der ich lebe – für sich entdeckt hat, hier gelebt hat | |
und ohnehin eine Ikone ist. So entstand die Idee zur Umbenennung in | |
„Tina-Turner-Straße“ – und gleich danach auch die Change.org-Kampagne. | |
taz: Wie ist da der Stand? | |
Chilly Gonzales: Ein pfiffiger Bürger hat vor einiger Zeit bereits ein | |
Tina-Turner-Straßenschild installiert. An diesem bin ich oft mit Freude und | |
Stolz vorbeigegangen. Doch vor ein paar Wochen hat das Ordnungsamt das | |
Schild wieder entfernt. Der nachvollziehbare Grund: Im Falle eines | |
Notfalleinsatzes könnte es Ortsunkundige und Rettungskräfte verwirren. | |
Ich werde mich aber weiter für eine Straßenumbenennung einsetzen. | |
taz: Neben Wagner kriegt auch die Neoromantik in Ihren Reimen ihr Fett weg. | |
Ausgerechnet! Sie selbst gehören doch zu einer ihrer prägenden Figuren: | |
Ihre beiden „Solo Piano“-Alben haben maßgeblich zur Popularisierung | |
beigetragen. | |
Chilly Gonzales: Wenn ich das mal gewusst hätte, welche Folgen mein Tun | |
hat! Aber Spaß beiseite: Man muss wirklich unterscheiden. Es gibt | |
Künstler:innen wie Niels Frahm, Frahm macht durchaus innovative Musik. | |
Und dann gibt es die, die – so nenne ich das auch im Song „Neoclassical | |
Massacre“ – sich mit einem Piano in den Wald setzen, um Foto- und | |
Videoaufnahmen zu machen. Warum ich dieses Selfie vom Klavier im Wald so | |
hasse? Es wird genutzt als Zeichen für angebliche Reinheit – von Musik und | |
ihren Gedanken. Das ist Virtue Signalling der übelsten Sorte. Damit will | |
jemand Werte verkaufen: Die Musik ist echt! Das zugehörige Album ist | |
handgemacht und kommt nicht aus einem Studio! So soll auch der Anschein | |
erweckt werden, niemand möchte Geld mit der Musik verdienen! Das finde ich | |
total verlogen. | |
14 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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