# taz.de -- Kürzungen im Jugend- und Sozialbereich: Die Liste wehrt sich | |
> Ein breites Bündnis protestiert am Donnerstag gegen Sparpläne des Senats. | |
> Am Mittwoch hatten Träger in Neukölln ihre Angebote aus Protest | |
> geschlossen. | |
Bild: Rund 5.000 Menschen protestierten am Donnerstag vor dem Abgeordnetenhaus,… | |
Berlin taz | Der Plan, den Protesten gegen die Kürzungen den Wind aus den | |
Segeln zu nehmen, hat nicht funktioniert. Über 5.000 Leute versammeln sich | |
am Donnerstagmittag vor dem Abgeordnetenhaus (AGH). Mehr, als der Vorplatz | |
überhaupt fasst. „Ihr denkt, nur weil ihr doch unsere Tarife bezahlt, | |
bleiben wir zu Hause!“, ruft der Diakonie-Pressesprecher Sebastian Peters | |
in Richtung des Abgeordnetenhauses. Dort debattiert das Parlament heute | |
wieder über die anstehenden Kürzungen. Die Menge antwortet mit lauten | |
Buh-Rufen. | |
Am Abend zuvor hat der Senat überraschend verkündet, die 48 Millionen Euro, | |
die im Haushalt für die Tarifanpassungen eingeplant waren, doch nicht | |
kürzen zu wollen. [1][Ohne die lange zugesagte Refinanzierung des Senats] | |
wären die freien Träger auf die in den letzten Jahren abgeschlossenen | |
Tarifsteigerungen sitzen geblieben, Angebotskürzungen und Stellenabbau wäre | |
die Folge. Eine einmalige Maßnahme, ab 2026 soll die Tarifanpassung | |
endgültig entfallen. | |
Das Zugeständnis ist ein erster Erfolg [2][der zahlreichen Proteste, die | |
Beschäftigte im Sozial-, Bildungs- und Jugendhilfebereich seit dem | |
Bekanntwerden der Kürzungspläne vor zwei Wochen organisieren.] Doch Grund | |
zu Protest gibt es angesichts der Sparsumme von über 500 Millionen Euro in | |
dem Bereich weiterhin genug. | |
Aufgerufen zu der Demonstration hatte ein Bündnis der größten | |
Wohlfahrtsverbände: Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Caritas und der | |
Paritätische. Gekommen sind auch viele kleinere Träger. Noch ist ungewiss, | |
wen genau die Einsparungen treffen werden. [3][Die konkreten Kürzungen | |
sollen am 19. Dezember beschlossen und verkündet werden.] | |
## Dezentraler Protest in Neukölln | |
Bereits am Mittwoch hatten Schulstationen, Jugendclubs und Familienzentren | |
in Neukölln demonstrativ geschlossen. Vor die Eingänge oder Türen hatten | |
sie jeweils mit rot-weißem Flatterband ein großes Kreuz geklebt. | |
Besucher*innen konnten die Einrichtungen nicht nutzen. „Ja, klar, ich | |
verstehe das“, sagt etwa eine Frau, die mit ihrem Kleinkind zum FANN in der | |
Hobrechtstraße gekommen ist, ihre Stimme klingt etwas hilflos. Ein Vater | |
mit seinem Eineinhalbjährigen geht ebenfalls wieder nach Hause, nachdem er | |
mit der Mitarbeiterin vor der Tür ein bisschen gequatscht hat. Er komme | |
viermal die Woche ins FANN, es sei wie ihr zweites Wohnzimmer. „Es gibt | |
tolle Spielzeuge und wir können uns mit anderen Eltern austauschen“, sagt | |
er. „Es wäre extrem traurig, wenn das Zentrum schließen müsste.“ | |
Genau das blüht allerdings weiter südlich in Neukölln dem „Haus der | |
Familie“. Nach Informationen aus dem Bündnis „vallah unkürzbar“, das den | |
Protest am Mittwoch koordiniert hatte, hat das Familienzentrum am Mittwoch | |
die Nachricht bekommen, dass es zum 1. April 2025 schließen muss. „Gerade | |
dieser Kiez ist sehr belastet, einer der ärmsten Berlins. Das ist schlecht | |
für die Familien dort und schlecht für Neukölln“, sagt Simone Hermes vom | |
Bündnis. | |
Vor dem Jugendclub Corner an der High-Deck-Siedlung in Neukölln steht ein | |
Pavillon auf dem Bürgersteig. Die Mitarbeiter schenken Tee aus und | |
informieren über die Sparpläne. Der Jugendclub selbst bleibt zu. „Ich | |
feiere das, dass sie protestieren“, sagt ein 17-Jähriger. „Schön, dass sie | |
auf uns achten. Sie unterstützen uns bei Bewerbungen, Nachhilfe oder | |
einfach, wenn wir jemanden zum Reden brauchen – und machen Ausflüge“, sagt | |
er. | |
Der Kiez war noch vor knapp drei Jahren bundesweit in den Schlagzeilen, | |
nachdem an Silvester dort ein Bus ausgebrannt war. Bei mehreren Gipfeln | |
gegen Jugendgewalt hatte der Senat insgesamt 70 Millionen Euro für drei | |
Jahre bewilligt, die Berlinweit in der Gewaltprävention verwendet werden | |
sollten. Auch der Jugendclub hier sieht seine Arbeit nun bedroht. | |
## Angriff auf die Substanz | |
„Ich finde es falsch, dass der Staat das macht. Wir wollen mit der Corner | |
etwas erleben, etwas über die Welt kennenlernen. Donnerstags kochen wir und | |
essen immer zusammen. Das macht viel Spaß“, sagt ein Zwölfjähriger. „Mein | |
Vater war mit seinen Freunden auch schon hier“, erzählt er. „Es wäre | |
schlimm, wenn es schließen müsste.“ In Neukölln blieben am Mittwoch nicht | |
nur die Zentren in freier Trägerschaft geschlossen, auch die kommunalen | |
Jugendzentren hatten zu – um ihre Solidarität zu zeigen. | |
Schon am Vormittag hatten die Mitarbeiter*innen der Schulsozialarbeit | |
Schüler*innen über die Sparpläne informiert und ihnen erklärt, dass sie | |
ihre Arbeit wohl nicht wie bisher weiterführen könnten. „Die Kinder hatten | |
viele Fragen: Warum machen die Politiker das, wer hat das bestimmt? Sie | |
sind richtig betroffen, sie wollen protestieren“, sagt eine | |
Sozialarbeiterin. | |
Sie befürchtet, dass sie ihre präventive Arbeit gegen Gewalt, Mobbing und | |
Schuldistanz einstellen werden müssen und dass auch Partizipation unter den | |
Tisch fällt. „Wir werden nur noch feuerlöschermäßig reagieren können“, | |
befürchtet sie. Es sei „unfassbar“. „Wir haben jetzt schon Schließtage … | |
Jungendclubs“, sagt Bündnis-Sprecherin Hermes. „Die Kürzungen sind ein | |
Angriff auf die Substanz.“ | |
Bei „vallah unkürzbar“ fordern sie daher: Die Zuwendungen in der | |
Sozialarbeit, Bildung und Jugendhilfe müssten ab 2025 erhöht werden, weil | |
gleichbleibende Budgets reale Kürzungen bedeuteten. Sie fordern, dass die | |
Vorgaben aus dem Kinder- und Jugendfördergesetz und dem | |
Familienfördergesetz nicht nur formal, sondern auch finanziell und | |
praktisch umgesetzt werden – mit bedarfsgerechter Finanzierung und der | |
Garantie, dass Maßnahmen und Projekte den Standards dieser Gesetze | |
entsprechen. Bezirke und Senat sollten Angebote daher regelhaft finanzieren | |
und nicht wie bisher zum großen Teil über Projekte. | |
## Auch GEW streikt | |
Widerstand gegen die Kürzungen formiert sich nicht nur bei den | |
Beschäftigten der freien Träger, sondern auch bei der Bildungsgewerkschaft | |
GEW. Rund 2.000 Teilnehmer:innen ziehen am Mittag vom Potsdamer Platz | |
zum AGH. | |
Offiziell ist der Ausstand die Fortsetzung des seit 2021 andauernden | |
Kampfes für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz. Mit deutlich kleineren | |
Klassengrößen will die GEW Arbeitsbedingungen der Lehrer:innen | |
verbessern. Doch auch hier sind die Sparpläne das bestimmende Thema. | |
„Der Gesundheitsschutz ist egal, und jetzt legt der Senat auch noch die Axt | |
an!“, kritisiert eine Gewerkschaftssekretärin. Die Kürzungen treffen auch | |
den Bildungsbereich: Die Brennpunktzulage fällt weg, Jugendsozialarbeit | |
wird eingestaucht und Klassenfahrten werden nicht mehr bezuschusst. Die | |
Folgen sind weniger Geld und mehr Belastung, fürchten die Lehrer:innen. | |
„Die Kürzungen betreffen die Arbeitsbedingungen indirekt“, erklärt Oliver | |
Heinbockel von der GEW Bezirksleitung Treptow-Köpenick. Insofern sei es ein | |
Anlass, den seit Mai ruhenden Arbeitskampf wieder aufzunehmen. | |
Vor dem AGH angelangt, löst sich das rote Fahnenmeer der GEW-Flaggen in der | |
Großkundgebung der Wohlfahrtsverbände auf. Auch in den kommenden Wochen | |
wird es noch genug zu protestieren geben. | |
5 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Sparpolitik-in-Berlin/!6050709 | |
[2] /Kuerzungen-bei-Kinder--und-Jugendarbeit/!6053545 | |
[3] /Debatte-im-Abgeordnetenhaus/!6050130 | |
## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
Uta Schleiermacher | |
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