# taz.de -- Raubtiere im Ukrainekrieg: Die Frau, die über 1.000 Tiere rettete | |
> Nataliya Popova dressierte in der Ukraine Pferde. Jetzt rettet sie Löwen | |
> und Bären von der Kriegsfront. Warum Menschlichkeit beim Tierschutz | |
> beginnt. | |
Bild: Nataliya Popova mit ihrem Schäferhund Taras. Von Hunden, sagt sie, habe … | |
Immer, sagt Nataliya Popova, wenn sie den letzten Posten vor der Front | |
passiert, spiele sie laute Musik im Auto. Lächele so breit, dass die | |
Soldaten fragen, ob sie wisse, wo sie sich hier befinde. Nahe der Nulllinie | |
nämlich, im Krieg. Von der anderen Seite schießen die Russen. Ab hier | |
gälten keine Regeln mehr. Nataliya Popova, geboren 1972 in Lwiw, wollte | |
immer Biologin werden, studierte Wirtschaft in Kyjiw: Ihre Eltern hatten | |
sie gedrängt, das sei vernünftiger. Sie trägt Flecktarnhosen, Armeestiefel, | |
eine Art Anglerweste, lehnt sich zurück in ein weites Sofa. „Mein Geheimnis | |
ist, ich habe richtig Angst vor der Front“, sagt sie, „denn wer keine Angst | |
davor hat, ist naiv.“ | |
Nataliya Popova fährt häufig an die Front, immer mit einem Transporter, in | |
den sie Käfige stapelt, sie hat dann ein Gewehr und Betäubungsmittel dabei. | |
Popova evakuiert Tiere aus dem Kriegsgebiet, aus illegalen Privatzoos, | |
Ställen oder großen Häusern, deren wohlhabende Bewohner flohen. Nicht | |
alleine, sagt sie und will das unbedingt für diesen Artikel festhalten: Die | |
Armee hilft ihr, inzwischen wird sie auch von anderen Organisationen | |
unterstützt. Männer in Uniform laufen dann im Trupp durch das Gelände, | |
sichern Pfade, suchen nach Sprengfallen, entschärfen Minen. | |
Und die laute Musik, ihr strahlendes Lachen? Nun, sagt Nataliya Popova und | |
legt die Hände auf ihre Oberschenkel, wenn sie an die Front kommt, fröhlich | |
wirkt, lächeln auch die Soldaten bald. „Und vielleicht finden sie all das | |
hinter dem Grenzposten auch normal.“ | |
[1][Der Krieg, mit dem Russland seit 2014 die Ukraine] überzieht, [2][hat | |
auch für Tiere verheerende Konsequenzen]. Über eintausend hat Nataliya | |
Popova inzwischen geborgen, kurzfristig aufgenommen, versorgt, kuriert, | |
impfen lassen und weiter nach Europa oder sogar bis nach Südafrika | |
verfrachtet. Popova arbeitet inzwischen mit NGOs und Zoos zusammen. Denn | |
die Tiere, die sie betäubt, mit Soldaten durchs Gelände schleppt und in den | |
Transporter hievt, sind keine Eichhörnchen oder Kühe, sondern Bären, Affen, | |
Papageien, öfter auch afrikanische Löwen. | |
## Die Ukraine beherbergt viele exotische Tiere | |
Ein Gesetz von 2006, das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im | |
August 2021 noch einmal verschärfte, reguliert die artgerechte Haltung von | |
exotischen Tieren. Von denen gab es viele im Land: in Restaurants für die | |
Bespaßung der Gäste, in Privatzoos oder weitläufigen Parks wohlhabender | |
Besitzer. | |
Schon im Sommer vor der Ausweitung des russischen Angriffs fragten sich | |
Tierschützer, wie das Gesetz durchgesetzt, wie der gewaltige Schwarzmarkt | |
bekämpft werden sollte. Nataliya Popova zuckt mit den Schultern, ihre | |
Tonlage wird nie pathetisch, aber ja, der alles entbeinende Krieg habe ihr | |
eine Art Lebenssinn vermittelt. Oder vielmehr aufgezwungen. | |
Zu dieser erstaunlichen Geschichte führen zwei Erklärungen. Die kurze | |
besteht darin, dass Popova [3][ein Leben ohne Tiere sinnlos] findet. Eine | |
Art Zivilität entwickele sich doch nur, sagt sie, wenn man auf Tiere | |
Rücksicht nehme, vielleicht gerade im Krieg. Deshalb könne sie nicht Nein | |
sagen, wenn zum Beispiel jemand anruft, der von einem Affen weiß, der | |
zurückgelassen wurde. Es gibt noch eine längere Antwort, die hat mit einem | |
Bruch in den 2000er Jahren zu tun. | |
Ein brennend heißer Sommertag in Tschubynske, gerade außerhalb von | |
[4][Kyjiw] – in das weite Gebäude, einen mehrstöckigen, reich | |
ornamentierten Ring um eine große Pferdemanege, fällt Sonne in Streifen | |
durch hohe Fenster. All das hier hat Popova selbst geplant, nach und nach | |
bauen lassen, langgestreckte Ställe, inzwischen mit engmaschigem Gitter | |
versehene Boxen, Lager, Koppeln, Werkstätten, Garagen, und diese | |
hochgezogene Trutzburg in Cremeweiß, der Kynny-Sportyvnyy-Klub, der | |
Pferdesportverein Magnat, mit Hotel und Restaurant auf elf Hektar Land. | |
Begonnen hat sie 1996, also inmitten der ukrainischen Wirtschaftskrise, | |
Magnat ist der erste Pferdesportverein des Landes. Vorher, sagt sie mit | |
einer Handbewegung zu den Koppeln, lag hier ein Haufen Müll. | |
Keine zehn Minuten sind es allerdings bis zum größten Flughafen der | |
Ukraine, Kyjiw-Boryspil. Den beschoss die russische Armee am 24. Februar | |
2022 mit Artillerie, Nataliya Popova wischt mit dem Finger über das | |
Telefon, sie hat Videos von Raketen, die weiße Streifen in einen tiefblauen | |
Winterhimmel ziehen, der Anfang von [5][Putins Plan,] Kyjiw in drei Tagen | |
einzunehmen. | |
Dann eines vom 26. Februar, ein metallicfarbener Pferdetransporter fährt | |
zwischen den Koppeln an, „Slava Ukraini“, ruft der Fahrer, reckt die Faust | |
aus dem Fenster. Da hatte der Bürgermeister von Boryspil die Bevölkerung | |
schon aufgefordert, die Region zu verlassen. Popova rutscht auf dem Sofa, | |
auf ihrem Gesicht breitet sich ganz langsam ein Grinsen aus: „Der Fahrer | |
hatte keine Ahnung von Tieren und noch nie welche transportiert.“ | |
Drei Tage würde er unterwegs sein, eine Fahrt durch ein Chaos aus | |
Straßensperren und Flüchtenden, mit Hubschraubern rückten russische | |
Spezialtruppen vor. Im Lastwagen stapelten sich betäubte Tiger, Löwen, | |
Affen. „Wie Brennholz“, sagt Nataliya Popova, was sollte sie machen, zuckt | |
mit den Schultern. | |
In der Eile hatten sie drei Holzkisten zusammengezimmert. Die Direktorin | |
des Zoos im polnischen Poznań hatte ihr einen Bohraufsatz geschickt, damit | |
sie weitere Löcher ins Holz bekamen, für Luft und Wasser. Als der Fahrer | |
zur polnischen Grenze kam, durfte er umladen, auf der anderen Seite | |
warteten drei Lastwagen. Einen vierten mussten sie herbeitelefonieren, so | |
viele Tiere kamen aus Tschubynske. | |
Nataliya Popova hatte bereits vor der Invasion 2022 damit begonnen, | |
zurückgelassene verletzte Tiere an der Front aufzulesen. Aber als die | |
Raketen über den Himmel zogen, wusste sie, dass sie sich beeilen musste, | |
vor allem, weil die russische Armee zwischen zivilen und militärischen | |
Zielen nicht unterschied. | |
Und damit sind wir bei der längeren Vorgeschichte zu dem, was sich heute in | |
Tschubynske unter einem tiefblauen Himmel über das weite Gelände erstreckt: | |
Popova sagt, dass sie Pferde und Katzen verstünde. Dann schaut sie auf | |
Taras, ihren Schäferhund, der gelegentlich aufsteht, jemanden anbellt, der | |
im Restaurant vorbeischaut, oder den er sich einbildet. „Von Hunden habe | |
ich keine Ahnung.“ | |
Das mit den Pferden klingt ein wenig schräg, und weil Nataliya Popova das | |
weiß, sagt sie noch bevor der Reporter nachfragen kann, dass es sich nicht | |
um Hokuspokus handele. Schon gar nicht um Schamanismus. Popova lacht. Über | |
Jahrzehnte habe sie [6][Pferde beobachtet], ihre Körpersprache, ihre | |
Reaktion, etwas daraus destilliert, das sie aus Mangel an einer besseren | |
Beschreibung „eine Sprache“ nennt. Pferdedressur hatte sie schon als Kind | |
fasziniert, die Bewegungen, die Eleganz, mit der Pferde aus einer Gangart | |
in die nächste wechseln. | |
Vor allem aber wollte sie mit den brutalen Methoden der Disziplinierung | |
brechen, damit, was sie den [7][„traditionellen Pferdesport“] nennt: | |
Schläge, scharf nach unten gebogene Pferdehälse, Unterwerfung, gezielter | |
Stress. Pferde seien intelligent, sagt Popova, „man kann mit ihnen | |
kommunizieren“. | |
## Gegen die Traditionalisten | |
Nächstes Video auf ihrem Telefon, ein etwas zappeliger Hengst in der | |
Manege, Nataliya Popova macht langsame Bewegungen mit den Armen. Der Hengst | |
sei so ein Fall gewesen, nervös, die Besitzer erschöpft, sie fragten sich, | |
ob wirklich ein Dressurpferd in ihm stecke. Popova klatscht in die Hände, | |
der Hengst beruhigt sich, beginnt im Kreis zu laufen. Sie geht ein paar | |
Schritte, hebt die Arme. Ringsum stehen Zuschauer, die ihr zurufen, wie der | |
Hengst laufen möge. „Trab“, Popova ändert ihre Körperhaltung, senkt die | |
Arme, der Hengst trabt. Schritt, Galopp, der Hengst macht mit. „Das war | |
unser erstes Treffen. Ich hatte eine halbe Stunde, um ihn kennenzulernen.“ | |
Meistens, wenn Popova davon erzählte, dass sie eine Form der Kommunikation | |
entwickelt habe und die unterrichten wollte, lachten die, die | |
Dressurpferden das Kinn auf die Brust zwangen. Ihr Vater, Physiker, fragte | |
sie, was sie mit all dem eigentlich wolle. Popova fühlte sich wie das | |
schwarze Schaf der Familie, nach ihrem Wirtschaftsstudium war sie fertig | |
damit, es allen recht machen zu wollen. | |
Sie begann ein Pferd zu trainieren und meldete es bei Turnieren an – und | |
gewann elf von zwölf. Sie war immer häufiger als Trainerin unterwegs, bald | |
weltweit, allein in Nordrhein-Westfalen betreute sie fünfzehn Pferde. Vor | |
allem aber wollte sie Menschen ausbilden, die Dressur ohne Gewalt | |
vermitteln sollten. Nataliya Popova steht auf, will das Gelände zeigen, | |
Taras weicht ihr nicht von der Seite. | |
Sie macht schnelle Schritte, erzählt, dass ihr Vater Berater des | |
Präsidenten Leonid Kutschma wurde und bei offiziellen Anlässen von seiner | |
Familie erzählen sollte. Er erwähnte gerne Nataliyas kleine Schwester, wie | |
gut sie sich machte. Bei einem Staatsbesuch in den USA fragte jemand, was | |
denn die Ältere so treibe. Offensichtlich hörte ihr Vater, was für ein | |
respektabler Beruf Pferdetrainerin sei. Als er zurückkam, musste Nataliya | |
ihm erklären, womit sie sich da seit Jahren beschäftigte. Sie hält auf dem | |
weiten Parkplatz kurz inne, macht weite Gesten zum Gebäude mit der Manege | |
in der Mitte: Als ihr Vater in Rente ging, habe er ihr dann sogar bei | |
Planung und Bau geholfen. | |
Das mit den Pferden funktionierte, die Ausbildung von Menschen eher nicht. | |
Nataliya Popova hatte besonders zwei Schülerinnen ins Herz geschlossen: | |
beide noch Teenager, lernbegierig, diszipliniert, verständig. Sie hätten | |
rasch Fortschritte gemacht. Die eine beschloss aufzuhören. Die andere | |
wandte sich ab, wollte mit dem, was sie gelernt hatte, den klassischen | |
Pferdesport weiterentwickeln. Verrat also: Sie würde mit Popovas Werkzeug, | |
der Idee, sich in Pferde hineinzufühlen, die brutalen Methoden verfeinern. | |
Nataliya Popova bleibt stehen, kurze Sätze, sachlicher Ton: „Ich bekam | |
Depressionen.“ | |
In der Ukraine gibt es inzwischen eine Handvoll Organisationen, die Tiere | |
von der Front evakuieren. Sie zählen Hunderte gerettete Lebewesen, von | |
Igeln über Fledermäuse, Hamster, Hunde, Katzen, sie bauen Futterstationen | |
auf. Wenn man nachfragt, erzählen freiwillige Mitarbeiter von einer | |
Verantwortung, die sie empfinden. Und dass sie sich an exotische Tiere | |
nicht heranwagen. Das sei etwas für Nataliya Popova, vor allem, weil sie | |
furchtlos sei und ein System aufgebaut habe, Informationen bekäme, sich mit | |
Betäubung auskenne, Transportmöglichkeiten habe. Sogar Großkatzen | |
beherbergen und medizinisch versorgen könne sie. | |
So etwas kostet viel Geld, und, sagt ein Mitarbeiter: „So etwas muss man | |
können.“ Nataliya Popova bleibt bei knappen Sätzen, eine Bekannte hatte ihr | |
von Zootieren erzählt, die dringend aus dem Kriegsgebiet evakuiert werden | |
müssten. Depression hin oder her, bevor sie es sich eigentlich erklären | |
konnte, saß Popova in einem geliehenen Transporter, neben sich ein | |
Betäubungsgewehr. | |
„Hier musst du in der Mitte bleiben“, Popova schließt ein Tor im | |
Maschendrahtzaun auf, zeigt auf einen Weg. Rechts ein langgestreckter | |
Käfig. Ein Wolf liegt darin, ein kräftiges Tier, er ist seit fünf Tagen da. | |
Als er Popova sieht, wirft er sich gegen stabile Metallstäbe, will spielen, | |
gekrault werden. Dann, nächster Käfig, eine Löwin, misstrauisch, der | |
Reporter macht sie nervös, vor einer Woche holte Popova sie ab, knapp | |
eintausend Kilometer mit dem Transporter. Nach einer Weile scheinen sie | |
Popovas Worte zu beruhigen, sie legt sich vor Popova, streckt die Pfoten | |
zum Gitter. | |
So geht das weiter, Hirsche laufen in einem Gehege auf sie zu, ein Dachs | |
schläft, ein Fuchs wacht auf. Beide will Popova nächstens wieder | |
auswildern, für die braucht sie keinen Platz in Europa. Der Fuchs wurde | |
mehrfach operiert. Sie lässt gebrochene Flügel richten, auch mal | |
Wildkatzenbeine amputieren – immer kommt jemand, hat von ihr gehört, und | |
von diesem Tier, oder jenem. Sie lacht, Hände in den Hüften, „was soll ich | |
tun, ich kann doch nicht ablehnen“. | |
Nataliya Popova hat drei große Freilaufgehege, weitere will sie bauen, nur | |
fehlt ihr gerade das Geld. Wenn sie darüber spricht, wird sie leiser, es | |
scheint ihr unangenehm zu sein. Schwierig sei das alles, die Kosten | |
steigen, Strom, Wasser, Mitarbeiter. Hinüber zu den Stallungen, in einer | |
alten Pferdebox lässt ein Luchs ihren Arm gar nicht mehr los, will spielen, | |
gestreichelt werden: Popova organisierte Operationen, brachte ihn eine | |
Weile bei sich zu Hause unter. | |
Dann weist sie den Reporter noch einmal an, Abstand zu halten, würziger | |
Geruch kündigt einen ausgewachsenen Löwen an: Der hebt seinen Kopf, brüllt | |
kurz, als er den Reporter sieht. Nach einem Artillerieangriff sei er so | |
durcheinander gewesen, dass er für den Transport nicht einmal betäubt | |
werden musste. | |
Vor dem Löwenkäfig sagt Nataliya Popova einen Satz, über den sie selbst | |
stolpert. „Das einzig Gute an diesem Krieg ist, dass diese Tiere befreit | |
werden.“ Sie rollt mit den Augen. Nachdem das Gesetz in Kraft trat, das | |
Wildtiere als Touristenattraktionen verbieten sollte, war der Schwarzmarkt | |
gewachsen, viele Tiere wurden unter der Hand in Privatbesitz verschoben. Da | |
vegetierten sie oft unter elenden Umständen vor sich hin. Popova zuckt | |
wieder mit den Schultern, jetzt lässt sie die letzten Pferdeboxen umbauen, | |
damit noch mehr Tiere zu ihr kommen können. | |
Um Pferde kümmert sie sich nicht mehr, seit ihre Schülerinnen sie | |
verließen, die Manege hat sie verpachtet, das Hotel geschlossen. Hier leben | |
jetzt Geflüchtete aus dem Osten des Landes, fassen mit an oder kommen zu | |
Kräften. So etwas erzählt sie nebenbei. Im vergangenen Dezember erklärten | |
63 Prozent der Ukrainer bei einer Umfrage, dass sie im Jahr zuvor | |
Hilfsorganisationen oder der Armee Geld gespendet hatten. Über die Hälfte | |
der Befragten versorgte Geflüchtete mit Geld, Essen oder Kleidung. Dabei | |
hat über ein Drittel der Ukrainer gerade kaum genug Geld, um sich selbst zu | |
ernähren. Popovas Raubkatzen fressen etwa 240 Kilogramm Fleisch. Am Tag. | |
Das werden sie wohl noch eine Weile tun: In ihren Käfigen und | |
Auslaufbereichen warten gerade ein Dutzend Raubkatzen. Etwas wie | |
Verzweiflung mischt sich in Popovas Tonlage, ihre Anlage sei wirklich nur | |
dafür ausgelegt, Tiere zu kurieren, länger unterbringen kann sie sie nicht. | |
Allerdings schließt Polen die Grenze für Lastwagen immer wieder, die EU | |
will seit dem Winter Papiere für Tiere haben. „Papiere, weißt du?“ Wir si… | |
an einem Freilaufgehege angekommen, Popova wedelt mit der Hand gegen den | |
Maschendrahtzaun. Weit hinten sitzen Braunbären. Seit letztem Jahr muss sie | |
auflisten, wie alt das Tier ist, das sie über die Grenze schaffen will, | |
wogegen es geimpft sei, wer der Vorbesitzer war. Sie dreht sich um, | |
Impfpässe, Alter, Besitzer, sie atmet scharf aus. „Papiere, mitten im | |
Krieg.“ | |
## Problem-Tiger und Prestige-Tiger | |
Bei den Bären lebt ein tragischer Fall: ein bengalischer Tiger in einem | |
länglichen Gehege, der sich freut wie eine [8][Hauskatze,] als Popova zu | |
ihm herantritt. Seine Geschichte zeigt die Wirren, die sich ergeben, wenn | |
die gute Tat auch auf das Konto mit den sichtbaren Prestigepunkten | |
einzahlen und marktfähig sein soll. Wenn es um Spender und Storytelling | |
geht. Der Tiger war nur ein paar Monate alt, als er Schlagzeilen machte. | |
Jemand hatte ihn ganz im Südwesten der Ukraine gefunden, in den Karpaten. | |
Dem Besitzer war wohl aufgefallen, dass ein Tiger doch kein Spielzeug ist, | |
er setzte ihn im Winterwald aus. Großes Medienecho. Auf Umwegen kam er zu | |
Nataliya Popova. | |
Jetzt ist er ein Jahr älter, stellt sich im Käfig auf, fasst über zwei | |
Meter hoch ins Gestänge, als wolle er Popova umarmen. Auch hier: Sie muss | |
kräftig kraulen, der Tiger wirft sich auf den Boden. „Ein perfektes Tier“, | |
sagt sie, kein Trauma, keine Gebrechen. „Aber niemand will ihn, er bekommt | |
keinen Platz in einem Zoo.“ Sie bemühe sich, sagt, sie bettele auf Knien. | |
Aber die Organisationen, die mit ihr arbeiten, haben keinen Platz, Zoos | |
lehnen ab. Etwas fehle dem Tiger, der sich auf den Rücken gelegt hat – | |
Prestige. Er kommt nicht aus dem Kriegsgebiet. | |
Nataliya Popova zuckt mit den Schultern, schaut noch einmal hinüber zu den | |
Bären, vielleicht einfach zum Horizont. Dann greift sie dem Tiger mit | |
beiden Händen ins Fell. Mehr kann sie nicht tun. | |
12 Nov 2024 | |
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