# taz.de -- Tiere im Ukrainekrieg: Die Katzen von Butscha | |
> In der Ukraine helfen Tierschützer:innen zurückgelassenen Katzen, | |
> Hunden, Bären. Ihre Arbeit hilft ihnen auch, mit der eigenen Ohnmacht | |
> klarzukommen. | |
Bild: Katzen aus den Kriegsgebieten werden in Lwiw umsorgt | |
Olha Horbatsch ist fast den ganzen Tag bei den Katzen. Die Wohnung im | |
Erdgeschoss in einem der vielen Plattenbauten von Sychiw, einem Viertel der | |
westukrainischen Stadt Lwiw, wurde eigens für die Tiere angemietet; durch | |
den Hausflur wabert der intensive Geruch von Katzenfutter. Hier leben 90 | |
Tiere, es miaut aus allen Ecken. Dauernd fällt irgendetwas um, man wird von | |
jeder Seite angeschmust. Auf dem Tisch, dem Sofa, sogar auf dem Fernseher: | |
überall Katzen, in allen Größen und Farben. | |
Die meisten kommen aus den Kriegsgebieten – Mykolajiw, Nikopol, | |
[1][Butscha] – und haben Schlimmes erlebt. Eine schwarze Katze kann nicht | |
gehen, sie wurde angeschossen. Viele laufen frei in der Wohnung herum und | |
vertragen sich meistens; andere sitzen in Käfigen, bis sie gegen Tollwut | |
oder andere Krankheiten geimpft sind. Wenn sie Glück haben, werden sie an | |
ein neues Zuhause vermittelt, nach Polen oder auch Deutschland. | |
„Das ist das oberste Ziel“, sagt Olha Horbatsch, die vor dem Krieg eine | |
Zoohandlung betrieb. Jetzt kann sie sich ihr ehrenamtliches | |
Tierschutz-Engagement nur leisten, weil ihr Mann ausreichend verdient. Sie | |
wirkt nachdenklich, aber auch sehr motiviert. Horbatsch würde auch der | |
Armee helfen, sagt sie – aber sie kenne sich eben mit Tieren besser aus. | |
Ihnen zu helfen, ist ihr Ding, das merkt man, wenn man sie mit den Katzen | |
sieht. Zusammen mit anderen Helfer:innen hat Horbatsch seit Kriegsbeginn | |
schon über tausend Katzen retten und vermitteln können. | |
Wenn Bomben einschlagen, leiden auch Tiere. Das betrifft sowohl wilde Tiere | |
als auch solche, die auch in Friedenszeiten stark vom Menschen abhängig | |
sind, nämlich Nutz- und Haustiere. Nachdem [2][Russland im Februar 2022 die | |
Ukraine angriff], gingen auch Bilder um die Welt, wie flüchtende | |
Ukrainer:innen an Bahnhöfen mit Katzenboxen oder kleinen Hunden im Arm | |
an der Grenze zu Polen standen. | |
## Schicksale nicht gegeneinander ausspielen | |
Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber sicher ist: Nicht alle konnten ihre | |
Tiere mitnehmen, zumal die Ausfuhrkontrollen inzwischen strikter sind. Zwar | |
werden Kühe, Schweine oder Hühner so gut es geht weiter versorgt – | |
schließlich ernähren sich viele Menschen von ihnen –, aber vor allem | |
Haustiere leben in der stark zerstörten Ostukraine jetzt auf der Straße | |
oder in Ruinen. Sie sind auf sich allein gestellt, hungern und sind auch | |
von Infektionen bedroht. | |
Tierschützer und Tierschützerinnen wie Olha Horbatsch – die meisten sind | |
Frauen und arbeiten unter äußerst prekären Bedingungen – kümmern sich um | |
Katzen, Hunde, Bären oder Vögel. Sie verteilen Futter, holen Tiere aus den | |
Kriegsgebieten oder versorgen sie in improvisierten Tierheimen. Und alle, | |
mit denen die wochentaz sprach, finden: Man soll menschliches Schicksal | |
nicht gegen das der Tiere ausspielen. | |
Horbatsch zum Beispiel hat auch Geflüchtete bei sich zuhause aufgenommen, | |
sieht aber ihre Kompetenzen vor allem im Bereich Katzen. Für viele Menschen | |
sei es eine große Entlastung, dass sich jemand um ihre geliebten Haustiere | |
kümmert, wenn sie an die Front müssten oder das Land verließen. | |
Das kann sich Claus-Christian Carbon, Professor für Allgemeine Psychologie | |
an der Universität Bamberg, sehr gut vorstellen. Die Bindung von Menschen | |
zu ihren Haustieren sei nicht zu unterschätzen. Allerdings glaubt er, dass | |
die Pflege der Tiere für jene, die sie unter Obhut nehmen, mindestens | |
genauso wichtig ist. Auch wenn die Ressourcen im Krieg begrenzt seien und | |
eine Wohnung voller Tiere einerseits Ballast sein mag, überwiege etwas | |
anderes: „Wer eine Aufgabe hat, hat ein Ziel; wer ein Ziel hat, hält besser | |
durch.“ | |
Schließlich seien die Menschen in einer wirklich bedrohlichen Lage: „Es ist | |
gefährlich, und sie wissen nicht, wie es weitergeht.“ Ihnen sei bewusst, | |
wie viele Menschen die Ukraine verlassen haben, und sie fragten sich | |
wahrscheinlich auch, ob sie fliehen sollten. Sich ein solches Ziel zu | |
suchen, sei dann eine sehr erfolgversprechende Strategie des Umgangs, die | |
psychisch stabilisiert, sagt Carbon. „Wenn man eine gute Begründung hat zu | |
bleiben, dann muss man nicht mehr zaudern.“ | |
Ukrainer:innen, die sich jetzt um Tiere kümmern, kämen besser mit ihrer | |
Ohnmacht klar, glaubt Carbon. „Krieg bedeutet Autonomieverlust, man wird | |
zum Spielball“, sagt er. „Indem man ein Tier versorgt, überwindet man das | |
zumindest kurzzeitig und wird wieder zum Akteur.“ Das habe gerade bei | |
Geflüchteten, die fast alles verloren haben, eine wichtige | |
psychohygienische Funktion. Daher solle man ihnen nicht etwa einreden, dass | |
sie ihr Tier zurücklassen sollen. Manchmal sei es im Gegenteil wesentlich | |
rationaler und nachhaltiger, Menschen ihre Tiere mitnehmen zu lassen. | |
Manchmal aber, wenn die Katze, der Hund oder ein anderes Haustier zu groß | |
ist oder die Mittel zu begrenzt, muss es zurückbleiben. „Eine gruselige | |
Vorstellung“, findet Carbon. Man denke vermutlich die ganze Zeit daran, wie | |
es ihm gehe, was sehr belastend sein kann. | |
Olha Horbatsch jedenfalls gibt ihr Bestes für die Tiere, die ihre | |
Landsleute bei ihr gelassen haben. Doch manche Tiere können wegen ihrer | |
Größe oder Lebensweise nicht in einer Wohnung leben. Sie müssen in ein | |
Tierheim. Zum Beispiel in jenes, in dem Natalia Kuznjezowa arbeitet, etwas | |
außerhalb von Lwiw. Auf dem Gelände am Waldrand leben rund 400 Hunde. | |
Vor der russischen Invasion waren es 280, und schon da war es überfüllt. | |
Die Finanzierung durch die Stadt reiche nur für sieben Monate im Jahr, | |
erzählt Kuznjezowa. Der Fehlbetrag werde mehr schlecht als recht über | |
Spenden abgedeckt. Eigentlich sei sie Unternehmerin und handele mit | |
Auto-Ersatzteilen, am liebsten aber würde sie ausschließlich hier arbeiten. | |
Die meisten der hier untergebrachten Hunde sind mittelgroß bis groß – | |
vielleicht, weil sich die kleinen bei einer Flucht besser mitnehmen lassen. | |
Bringen die jungen freiwilligen Helfer:innen neue Hunde ins Gehege, | |
drehen deren Artgenossen durch: Noch bevor sich das Tor öffnet, bellen | |
Dutzende Hunde. Als eine Frau mit einem Tier im Arm eintritt, steigert sich | |
das Gebell zu großem Getöse. Die Tiere rotten sich zusammen, knurren, | |
fletschen die Zähne und kommen immer näher. | |
Damit sich die Hunde untereinander nicht gefährlich werden, dürfen sie nur | |
abwechselnd in größeren Gruppen frei herumlaufen und im Dreck scharren. Aus | |
vielen der Verschläge dringt Jaulen. Hund Michail – sein Besitzer ist an | |
der Front – sieht aus wie eine Mischung aus Hyäne und Wolf. In seinem Käfig | |
läuft er stets unruhig im Kreis, springt am Zaun hoch, wedelt aber noch mit | |
dem Schwanz. Ein stolzer Schäferhund aus Nikopol, der von seinen | |
Besitzer:innen zurückgelassen werden musste, ist krank. Er hat | |
Verdauungsprobleme, kratzt am Gitter und verschmiert einen riesigen Haufen | |
seines eigenen Kots. Es stinkt erbärmlich. Aber gäbe es solche | |
Hilfsprojekte nicht, wären die Tiere noch schlechter dran. | |
Tiere können auf ganz verschiedene Weise von Krieg betroffen sein. Wilde | |
Tiere sind oft in der Lage, aus den umkämpften Gebieten zu fliehen; in | |
manchen Gegenden werden sie sogar weniger gestört als sonst. Wenn etwa | |
keine Landwirtschaft mehr betrieben wird, können Insekten wegen der | |
fehlenden Pestizide profitieren. Vor allem größere Tiere können aber auch | |
verstärkt gejagt werden, etwa weil die Versorgungslage schlecht ist und das | |
Essen knapp wird; außerdem lassen sich Naturschutzmaßnahmen meist | |
schlechter durchsetzen. | |
„Alle möglichen Tiere sind stille Opfer des Krieges in der Ukraine“, sagt | |
Natalia Gozak, die von Kyjiw aus als Wildtierretterin für den | |
Internationalen Tierschutzfonds (IFAW) arbeitet. Die aktuellen Verluste | |
seien jedoch schwer zu beziffern, weil Wissenschaftler:innen nicht in | |
der Lage seien, die entsprechenden Gebiete zu untersuchen – vor allem, wenn | |
sie umkämpft oder vermint sind. Exakte Daten gebe es daher wohl erst zu | |
einem späteren Zeitpunkt. „Aber wir wissen, dass 20 Prozent der | |
Schutzgebiete von kriegsbedingter Zerstörung betroffen sind“, sagt Gozak. | |
„Auch die Habitate seltener endemischer Arten, etwa im Bereich des | |
zerstörten [3][Kachowkaer Stausees].“ | |
Auch einige der rund 30 Braunbären der Rettungsstation Domazhyr sind Opfer | |
des Kriegs und, wie die meisten Hunde und Katzen, vollkommen vom Menschen | |
abhängig. Die Station befindet sich etwa 30 Kilometer westlich von Lwiw und | |
wird von der österreichischen NGO „Four Paws“ betrieben. Das 20 Hektar | |
große Gelände im Wald, umgeben und durchzogen von großen Metallzäunen, gab | |
es schon vor dem Krieg. Aber auch hier kamen zuletzt neue Bewohner hinzu. | |
Die meisten Bären sind in Käfigen aufgewachsen, bevor sie hier einzogen, | |
als Attraktion von Hotelrestaurants zum Beispiel. Was übrig bleibt, sind | |
traumatisierte und verstörte Tiere. Besonders traurig ist der Anblick | |
ehemaliger Tanzbären, die jetzt einsam und verloren – ohne Publikum – die | |
sinnlosen Bewegungen wiederholen, die ihnen andressiert wurden. Die Tiere – | |
viele von ihnen haben wegen früherer Fehlernährung Diabetes – könnten in | |
freier Wildbahn nicht überleben. | |
Teilweise kennen sie nicht einmal den Geruch von Erde oder das Gefühl von | |
frischem Wind im Fell, wenn sie hier ankommen. Bei manchen dauert es ein | |
Jahr, bis sie sich trauen, mal ein bisschen in den Bäumen zu klettern, | |
erzählt Olha Fedoriv, Mitarbeiterin der Einrichtung. Mit einem der Bären | |
spricht sie regelmäßig, vertraut ihm ihre Sorgen und Geheimnisse an. „Er | |
heißt Potap, ist ein sehr geduldiger Zuhörer und weiß alles über mich“, | |
sagt sie scherzhaft. | |
Ein anderer Bär trägt den Namen Bachmut, er ist nach der gleichnamigen | |
Stadt im Donezk-Gebiet benannt. Mit ihm kann Fedoriv nicht sprechen, er | |
kommt noch nicht einmal aus seiner Hütte heraus. Sie kann nur ahnen, was | |
ihm widerfahren ist: Man fand ihn an ein Haus gekettet, dessen Dach | |
weggebombt worden war. | |
Das Tier war vollkommen verängstigt und ausgehungert; jetzt vertraut es nur | |
ganz wenigen Pflegern. Mit zunächst kleinen Portionen gekochten Futters | |
päppelten sie den Bären auf, um seinen Magen nicht zu überfordern. Langsam | |
werden die Portionen größer, aber es wird noch lange dauern, bis Bachmut | |
sich einigermaßen erholt hat. | |
Zu Beginn des Krieges lebten noch sieben andere Bären hier, sie waren unter | |
Beschuss aus der Region Kyjiw hertransportiert worden, als auch viele | |
Menschen aus der Hauptstadt fliehen mussten. Drei davon wohnen jetzt in | |
Deutschland, beispielsweise im Bärenpark Worbis, die anderen konnten wieder | |
zurück. Die Menschen in der Ukraine hoffen, dass solche | |
Evakuierungsaktionen nicht mehr nötig sein werden. | |
Noch aber ist der Krieg nicht vorbei, und Wildtierretterin Natalia Gozak | |
hat für die Evakuierungen aus den umkämpften Gebieten eine wichtige | |
Beobachtung gemacht: „Haustiere spielen eine maßgebliche Rolle bei | |
Entscheidungen der Zivilbevölkerung, ob sie gehen oder bleiben“. Je mehr | |
Tiere die Leute besäßen und je weniger Einkommen sie hätten, desto weniger | |
wahrscheinlich sei es, dass sie die gefährlichen Gebiete verlassen. | |
„Deswegen sind Evakuierungspläne, denen die Komponente der Tierrettung | |
fehlt, weniger effektiv“, sagt Gozak. | |
In einer akuten Notsituation gehe zwar immer das Menschenleben vor, sagt | |
Psychologieprofessor Claus-Christian Carbon. Aber die Entscheidung, ob sie | |
ein Tier mitnehmen oder nicht, träfen Menschen selbst in schwierigsten | |
Situationen nicht nach Kriterien der rationalen Nutzenmaximierung, die | |
ohnehin eine psychologisch naive Illusion sei. Stattdessen zeige sich das | |
Bedürfnis, Tiere nicht zurückzulassen, oder sogar zusätzlich welche zu | |
retten. | |
Manche Haustiere haben kein Fell, sondern Federn. Sie sind ein Fall für den | |
Ornithologen Viktor Shelvinskyi von der Nationalen Akademie der | |
Wissenschaften mit Sitz in Kyiw. Dass er auch für die Gestaltung des | |
Naturkundemuseums von Lwiw zuständig ist, sieht man seinem Garten an. | |
In Kozhychi am Rande Lwiws gelegen, erinnert er an das verwunschene Gelände | |
eines Avantgarde-Festivals: hier eine Hängematte mit einem Mobilé aus | |
Austernschalen darüber, dort ein Schaukasten mit Vogelfedern, und da drüben | |
eine selbst gebaute Hütte mit einem großen, in den Fußboden eingelassenen | |
Aquarium. Das Areal ist nicht groß, doch einmal betreten, wirkt es endlos. | |
In jeder freien Ecke befinden sich kleine oder größere Volieren, dazwischen | |
stolzieren weiße und grün schillernde Pfauen. | |
Seit vergangenem Jahr leben hier nicht mehr nur einheimische Vögel, sondern | |
auch bunte Papageien. Geflüchtete aus dem Osten des Landes hatten von | |
Shelvinskyis Arbeit gehört und brachten sie her: Halsbandsittiche, einen | |
Graupapagei, Salomon-Kakadus. Im Krieg, sagt der studierte Ornithologe, | |
hätten sie im Grunde die gleichen Probleme wie Menschen: Unsicherheit, | |
Hunger, Angst. | |
Bei ihm jedenfalls sind alle willkommen: In den ersten Kriegsmonaten nahm | |
auch Shelvinskyi geflüchtete Menschen auf sowie deren Hunde und Katzen. | |
Diese seien inzwischen weitergezogen nach Westeuropa oder in andere | |
halbwegs sichere Regionen der Ukraine. Geblieben aber sind ihm die Vögel. | |
Shelvinskyi liebt Vögel, seit seiner Kindheit. Wenn er über die Bewohner | |
der Volieren in seinem Garten redet, spürt man seine Begeisterung. Er kann | |
sogar pfeifen wie ein Vogel. Schon seit Jahren kümmert er sich neben seiner | |
eigentlichen Arbeit um verletzte Tiere, die er findet oder die Leute ihm | |
bringen: Elstern, Mäusebussarde, Störche. Oft haben sie gebrochene Beine | |
oder Flügel, können aber nach einer Weile in Shelvinskyis Obhut wieder | |
fliegen. Er lässt sie dann frei und genießt diesen Moment. Manche Vögel | |
kommen weiterhin ab und zu vorbei – um sich füttern zu lassen oder einfach | |
auf einen Besuch. | |
Schon seit vielen Jahren kursiert Shelvinskyis Nummer in den sozialen | |
Medien. Besorgte Menschen rufen ihn an, wenn sie zum Beispiel in ihrem | |
Schuppen eine verschreckte Eule finden. Er stellt dann fachkundige Fragen, | |
etwa: ‚Wie verhält sich das Tier, wie sehen seine Pupillen aus?‘ – „In… | |
Prozent solcher Fälle muss man gar nichts tun“, sagt er, „ich erkläre dan… | |
dass sich die Eule nur vor Regen versteckt hat und alleine klarkommt.“ | |
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs aber wird Shelvinskyi deutlich | |
häufiger kontaktiert, im März vergangenen Jahres waren es oft 15 Anrufe am | |
Tag. So viele Vögel wie jetzt musste er noch nie versorgen: 286 Individuen | |
aus 53 verschiedenen Arten. Darunter ist eine Rohrweihe aus Saporischschja; | |
sie hat sich den linken Flügel gebrochen. Die drei Steinkäuze aus Mariupol | |
sind schon wieder gesund, müssen aber noch beringt werden, bevor sie | |
losfliegen dürfen. | |
Shelvinskyi berät sogar Ukrainer, die aktiv im Krieg kämpfen: Immer wieder | |
melden sich Menschen aus den umkämpften Gebieten, wenn sie verwundete Vögel | |
finden. Mit einem Soldaten, der an der Front nebenbei einen verwundeten | |
Kaiseradler versorgt, telefoniert er regelmäßig und gibt ihm Tipps: wie man | |
den Bruch verbindet oder dass man dem Adler notfalls statt Fleisch rohes | |
Hühnerei oder Insekten zu fressen geben kann. Auch Wildtierretterin Natalia | |
Gozak kennt viele Fälle, in denen Soldaten an der Front sich um Katzen, | |
Hunde, Mäuse, Wildschweine, Tigeriltisse oder andere Tiere kümmern. „Sie | |
tun das mit größter Empathie; es baut Stress ab und gibt ihnen ein Stück | |
Normalität zurück“, sagt sie. | |
Genau deswegen sei es in Kriegs- und Krisengebieten auch so wichtig, | |
Theater oder Cafés so früh wie möglich wieder zu öffnen, sagt der | |
Psychologe Claus-Christian Carbon. Man brauche eine gewisse Normalität, | |
etwas, woran man sich festhalten kann. In ähnlicher Weise erinnerten Tiere | |
immer wieder an eine positive, zivile Welt, die gerade verloren scheint. | |
„Tiere lösen Freude aus, und daran mangelt es im Krieg“, sagt er. | |
Schließlich seien sie keine Gegenstände, sondern unersetzliche Lebewesen, | |
die auch resonieren. Man bekomme also gewissermaßen etwas von ihnen zurück: | |
„Tiere, die man versorgt, senden permanent Signale, dass es ihnen gefällt, | |
zum Beispiel in Form von Schnurren“, sagt Carbon. | |
Auch die körperliche Nähe sei nicht zu unterschätzen. An der Front habe man | |
normalerweise nur Nähe zu Kameraden. Jene zu einem Tier sei frei gewählt | |
und öffne somit einen privaten emotionalen Raum. Gerade auch bei | |
Geflüchteten, die oft auch zu wenig Privatsphäre haben, sei das wichtig. | |
„Können sie ihre Tiere nicht mitnehmen, ist es aber natürlich immer noch | |
besser, wenn sich jemand anderes kümmern kann“, sagt Carbon. Dann fehle | |
zwar unter anderem die körperliche Komponente, trotzdem werde gewissermaßen | |
ein Stück verlorene Heimat bewahrt, und es bleibe die Hoffnung auf ein | |
Wiedersehen. | |
Eigentlich wollte Vogelflüsterer Viktor Shelvinskyi nie exotische Tiere | |
halten, doch jetzt ist er froh, dass er mit seiner besonderen Expertise | |
nützlich sein kann – nicht zuletzt Geflüchteten. Im Frühjahr 2022 brachten | |
ihm viele Menschen auf der Flucht ihre Papageien; auch der [4][Kyjiwer Zoo] | |
schickte Dutzende tropische Tauben und Papageien, die dort nicht mehr | |
sicher waren. Die großen roten Aras leben inzwischen wieder in Kyjiw, | |
manche Vögel sind weiter nach Polen gereist. Aber die anderen Papageien | |
bleiben bei Shelvinskyi. | |
Für die bunten Vögel hat er extra ein beheizbares Winterquartier gebaut, | |
aus alten Fenstern und mit einer Dämmung aus Mineralwolle, die er in | |
Bauabfällen fand. Das mag improvisiert sein, erfüllt aber seinen Zweck und | |
fügt sich auch optisch gut in seinen ausgefallenen Garten ein. Das | |
Polycarbonat, ein durchsichtiger Kunststoff fürs Dach, wurde durch Spenden | |
finanziert, die die ukrainische Tierschutz-NGO UAnimals ihm zu sammeln | |
half. | |
Eine der neuen Bewohnerinnen des Papageien-Hauses ist Jagoda, ein blaurotes | |
Salomon-Edelpapageien-Weibchen. Seine Besitzerin Anna, eine Übersetzerin | |
aus Lwiw, zog mit ihren Kindern wegen der russischen Invasion nach Brüssel. | |
Sie weinte, als sie Jagoda zurückließen. Aber sie konnten das Tier nicht | |
mitnehmen – zu aufwändig ist die Pflege großer sensibler Papageien, zu | |
kompliziert der Transport. | |
Sie brachten Jagoda zu Shelvinskyi, den sie über Freunde kannten – und | |
baten ihn, in Kontakt zu bleiben, bis sie eines Tages zurückkehren und | |
Jagoda wieder selbst versorgen können. Jetzt schickt er ihnen per | |
Viber-Messenger regelmäßig Videos, Fotos oder Tonaufnahmen, auf denen ihr | |
Haustier „Hallo, Jagoda“ plappert. „Das ist ein bisschen wie Telefonsex�… | |
scherzt Shelvinskyi. Für die Familie sei das aber ganz wichtig und helfe | |
ihr, mit der schlimmen Situation klarzukommen. | |
Geld möchte Shelvinskyi für solche Dienste nicht, zumal viele sich das gar | |
nicht leisten könnten. Auch die Führungen, die er für Schulgruppen | |
geflüchteter Kinder aus der Ostukraine anbietet, sind kostenlos. Sie finden | |
in seinem Garten statt; er zeigt dann echte Vogelnester, unterschiedliche | |
Tierschädel aus seiner Sammlung und erzählt, wie man einheimische Tierarten | |
unterscheiden kann. | |
Das Grün seines Gartens, die Einblicke ins Leben der Tiere und überhaupt | |
die Nähe zur Natur tue seinen jungen Besuchern und Besucherinnen gut, sagt | |
Shelvinskyi. Er sieht den teils durch den Krieg traumatisierten Kindern an, | |
wie sie sich hier zwischen den Vögeln plötzlich entspannen. Das bestätigt | |
den Vogelexperten in seiner Arbeit und dem Satz, der für ihn die Grundlage | |
davon ist: Indem du Tieren hilfst, hilfst du auch Menschen. | |
30 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Wiederaufbau-in-Butscha/!5921387 | |
[2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
[3] /Tiere-nach-Staudammbruch-in-Ukraine/!5937129 | |
[4] /Tiere-in-der-Ukraine/!5939458 | |
## AUTOREN | |
Andrew Müller | |
## TAGS | |
IG | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Tiere | |
wochentaz | |
wochentaz | |
Wildtiere | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Artenvielfalt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Krieg in der Ukraine: Wiederaufbau Ost | |
Zerstörte Dörfer und Städte in den befreiten Gebieten möchte die Ukraine | |
möglichst schnell wieder aufbauen. Doch manche werden dabei vergessen. | |
Evolution bei Giraffen: Flott und Fleckenlos | |
Der Mensch liebt alles, was anders ist – solange es nicht seine eigene | |
Normalität stört. In Namibia wurde eine fleckenlose Giraffe gesichtet. | |
Tierquälerei in der Ukraine: Blutende Schwäne in Odessa | |
Tierrechte werden in der Ukraine oft mit Füßen getreten, sagt Aktivist | |
Alexander Titartschuk. Grund sei auch schlechte Ermittlungsarbeit der | |
Polizei. | |
Offensive gegen Russland Besatzung: Ukraine wittert größere Gewinne | |
Nach acht Wochen Offensive gegen die russischen Besatzer sehen sich die | |
ukrainischen Truppen im Aufwind. Stehen stärkere Frontdurchbrüche bevor? | |
Tiere nach Staudammbruch in Ukraine: Katzen aus den Bäumen geholt | |
Nach dem Bruch des Staudamms bei Cherson werden Tausende nach Odessa | |
evakuiert. Auch Tiere und Umwelt leiden unter der Überschwemmung. | |
Tiere in der Ukraine: Tiger unter Beschuss | |
Ob der gesprengte Damm oder tägliche Raketenangriffe: Der Krieg macht | |
Tieren in der Ukraine zu schaffen. Das zeigt auch ein Besuch in Kyjiws Zoo. | |
Zoologe über Tiere im Krieg: „An das Geballer gewöhnen sie sich“ | |
Gerhard Haszprunar ist Professor für Systematische Zoologie. Ihn | |
beschäftigt unter anderem, wie sich Krieg auf die Artenvielfalt auswirkt. |