| # taz.de -- Tiere im Ukrainekrieg: Die Katzen von Butscha | |
| > In der Ukraine helfen Tierschützer:innen zurückgelassenen Katzen, | |
| > Hunden, Bären. Ihre Arbeit hilft ihnen auch, mit der eigenen Ohnmacht | |
| > klarzukommen. | |
| Bild: Katzen aus den Kriegsgebieten werden in Lwiw umsorgt | |
| Olha Horbatsch ist fast den ganzen Tag bei den Katzen. Die Wohnung im | |
| Erdgeschoss in einem der vielen Plattenbauten von Sychiw, einem Viertel der | |
| westukrainischen Stadt Lwiw, wurde eigens für die Tiere angemietet; durch | |
| den Hausflur wabert der intensive Geruch von Katzenfutter. Hier leben 90 | |
| Tiere, es miaut aus allen Ecken. Dauernd fällt irgendetwas um, man wird von | |
| jeder Seite angeschmust. Auf dem Tisch, dem Sofa, sogar auf dem Fernseher: | |
| überall Katzen, in allen Größen und Farben. | |
| Die meisten kommen aus den Kriegsgebieten – Mykolajiw, Nikopol, | |
| [1][Butscha] – und haben Schlimmes erlebt. Eine schwarze Katze kann nicht | |
| gehen, sie wurde angeschossen. Viele laufen frei in der Wohnung herum und | |
| vertragen sich meistens; andere sitzen in Käfigen, bis sie gegen Tollwut | |
| oder andere Krankheiten geimpft sind. Wenn sie Glück haben, werden sie an | |
| ein neues Zuhause vermittelt, nach Polen oder auch Deutschland. | |
| „Das ist das oberste Ziel“, sagt Olha Horbatsch, die vor dem Krieg eine | |
| Zoohandlung betrieb. Jetzt kann sie sich ihr ehrenamtliches | |
| Tierschutz-Engagement nur leisten, weil ihr Mann ausreichend verdient. Sie | |
| wirkt nachdenklich, aber auch sehr motiviert. Horbatsch würde auch der | |
| Armee helfen, sagt sie – aber sie kenne sich eben mit Tieren besser aus. | |
| Ihnen zu helfen, ist ihr Ding, das merkt man, wenn man sie mit den Katzen | |
| sieht. Zusammen mit anderen Helfer:innen hat Horbatsch seit Kriegsbeginn | |
| schon über tausend Katzen retten und vermitteln können. | |
| Wenn Bomben einschlagen, leiden auch Tiere. Das betrifft sowohl wilde Tiere | |
| als auch solche, die auch in Friedenszeiten stark vom Menschen abhängig | |
| sind, nämlich Nutz- und Haustiere. Nachdem [2][Russland im Februar 2022 die | |
| Ukraine angriff], gingen auch Bilder um die Welt, wie flüchtende | |
| Ukrainer:innen an Bahnhöfen mit Katzenboxen oder kleinen Hunden im Arm | |
| an der Grenze zu Polen standen. | |
| ## Schicksale nicht gegeneinander ausspielen | |
| Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber sicher ist: Nicht alle konnten ihre | |
| Tiere mitnehmen, zumal die Ausfuhrkontrollen inzwischen strikter sind. Zwar | |
| werden Kühe, Schweine oder Hühner so gut es geht weiter versorgt – | |
| schließlich ernähren sich viele Menschen von ihnen –, aber vor allem | |
| Haustiere leben in der stark zerstörten Ostukraine jetzt auf der Straße | |
| oder in Ruinen. Sie sind auf sich allein gestellt, hungern und sind auch | |
| von Infektionen bedroht. | |
| Tierschützer und Tierschützerinnen wie Olha Horbatsch – die meisten sind | |
| Frauen und arbeiten unter äußerst prekären Bedingungen – kümmern sich um | |
| Katzen, Hunde, Bären oder Vögel. Sie verteilen Futter, holen Tiere aus den | |
| Kriegsgebieten oder versorgen sie in improvisierten Tierheimen. Und alle, | |
| mit denen die wochentaz sprach, finden: Man soll menschliches Schicksal | |
| nicht gegen das der Tiere ausspielen. | |
| Horbatsch zum Beispiel hat auch Geflüchtete bei sich zuhause aufgenommen, | |
| sieht aber ihre Kompetenzen vor allem im Bereich Katzen. Für viele Menschen | |
| sei es eine große Entlastung, dass sich jemand um ihre geliebten Haustiere | |
| kümmert, wenn sie an die Front müssten oder das Land verließen. | |
| Das kann sich Claus-Christian Carbon, Professor für Allgemeine Psychologie | |
| an der Universität Bamberg, sehr gut vorstellen. Die Bindung von Menschen | |
| zu ihren Haustieren sei nicht zu unterschätzen. Allerdings glaubt er, dass | |
| die Pflege der Tiere für jene, die sie unter Obhut nehmen, mindestens | |
| genauso wichtig ist. Auch wenn die Ressourcen im Krieg begrenzt seien und | |
| eine Wohnung voller Tiere einerseits Ballast sein mag, überwiege etwas | |
| anderes: „Wer eine Aufgabe hat, hat ein Ziel; wer ein Ziel hat, hält besser | |
| durch.“ | |
| Schließlich seien die Menschen in einer wirklich bedrohlichen Lage: „Es ist | |
| gefährlich, und sie wissen nicht, wie es weitergeht.“ Ihnen sei bewusst, | |
| wie viele Menschen die Ukraine verlassen haben, und sie fragten sich | |
| wahrscheinlich auch, ob sie fliehen sollten. Sich ein solches Ziel zu | |
| suchen, sei dann eine sehr erfolgversprechende Strategie des Umgangs, die | |
| psychisch stabilisiert, sagt Carbon. „Wenn man eine gute Begründung hat zu | |
| bleiben, dann muss man nicht mehr zaudern.“ | |
| Ukrainer:innen, die sich jetzt um Tiere kümmern, kämen besser mit ihrer | |
| Ohnmacht klar, glaubt Carbon. „Krieg bedeutet Autonomieverlust, man wird | |
| zum Spielball“, sagt er. „Indem man ein Tier versorgt, überwindet man das | |
| zumindest kurzzeitig und wird wieder zum Akteur.“ Das habe gerade bei | |
| Geflüchteten, die fast alles verloren haben, eine wichtige | |
| psychohygienische Funktion. Daher solle man ihnen nicht etwa einreden, dass | |
| sie ihr Tier zurücklassen sollen. Manchmal sei es im Gegenteil wesentlich | |
| rationaler und nachhaltiger, Menschen ihre Tiere mitnehmen zu lassen. | |
| Manchmal aber, wenn die Katze, der Hund oder ein anderes Haustier zu groß | |
| ist oder die Mittel zu begrenzt, muss es zurückbleiben. „Eine gruselige | |
| Vorstellung“, findet Carbon. Man denke vermutlich die ganze Zeit daran, wie | |
| es ihm gehe, was sehr belastend sein kann. | |
| Olha Horbatsch jedenfalls gibt ihr Bestes für die Tiere, die ihre | |
| Landsleute bei ihr gelassen haben. Doch manche Tiere können wegen ihrer | |
| Größe oder Lebensweise nicht in einer Wohnung leben. Sie müssen in ein | |
| Tierheim. Zum Beispiel in jenes, in dem Natalia Kuznjezowa arbeitet, etwas | |
| außerhalb von Lwiw. Auf dem Gelände am Waldrand leben rund 400 Hunde. | |
| Vor der russischen Invasion waren es 280, und schon da war es überfüllt. | |
| Die Finanzierung durch die Stadt reiche nur für sieben Monate im Jahr, | |
| erzählt Kuznjezowa. Der Fehlbetrag werde mehr schlecht als recht über | |
| Spenden abgedeckt. Eigentlich sei sie Unternehmerin und handele mit | |
| Auto-Ersatzteilen, am liebsten aber würde sie ausschließlich hier arbeiten. | |
| Die meisten der hier untergebrachten Hunde sind mittelgroß bis groß – | |
| vielleicht, weil sich die kleinen bei einer Flucht besser mitnehmen lassen. | |
| Bringen die jungen freiwilligen Helfer:innen neue Hunde ins Gehege, | |
| drehen deren Artgenossen durch: Noch bevor sich das Tor öffnet, bellen | |
| Dutzende Hunde. Als eine Frau mit einem Tier im Arm eintritt, steigert sich | |
| das Gebell zu großem Getöse. Die Tiere rotten sich zusammen, knurren, | |
| fletschen die Zähne und kommen immer näher. | |
| Damit sich die Hunde untereinander nicht gefährlich werden, dürfen sie nur | |
| abwechselnd in größeren Gruppen frei herumlaufen und im Dreck scharren. Aus | |
| vielen der Verschläge dringt Jaulen. Hund Michail – sein Besitzer ist an | |
| der Front – sieht aus wie eine Mischung aus Hyäne und Wolf. In seinem Käfig | |
| läuft er stets unruhig im Kreis, springt am Zaun hoch, wedelt aber noch mit | |
| dem Schwanz. Ein stolzer Schäferhund aus Nikopol, der von seinen | |
| Besitzer:innen zurückgelassen werden musste, ist krank. Er hat | |
| Verdauungsprobleme, kratzt am Gitter und verschmiert einen riesigen Haufen | |
| seines eigenen Kots. Es stinkt erbärmlich. Aber gäbe es solche | |
| Hilfsprojekte nicht, wären die Tiere noch schlechter dran. | |
| Tiere können auf ganz verschiedene Weise von Krieg betroffen sein. Wilde | |
| Tiere sind oft in der Lage, aus den umkämpften Gebieten zu fliehen; in | |
| manchen Gegenden werden sie sogar weniger gestört als sonst. Wenn etwa | |
| keine Landwirtschaft mehr betrieben wird, können Insekten wegen der | |
| fehlenden Pestizide profitieren. Vor allem größere Tiere können aber auch | |
| verstärkt gejagt werden, etwa weil die Versorgungslage schlecht ist und das | |
| Essen knapp wird; außerdem lassen sich Naturschutzmaßnahmen meist | |
| schlechter durchsetzen. | |
| „Alle möglichen Tiere sind stille Opfer des Krieges in der Ukraine“, sagt | |
| Natalia Gozak, die von Kyjiw aus als Wildtierretterin für den | |
| Internationalen Tierschutzfonds (IFAW) arbeitet. Die aktuellen Verluste | |
| seien jedoch schwer zu beziffern, weil Wissenschaftler:innen nicht in | |
| der Lage seien, die entsprechenden Gebiete zu untersuchen – vor allem, wenn | |
| sie umkämpft oder vermint sind. Exakte Daten gebe es daher wohl erst zu | |
| einem späteren Zeitpunkt. „Aber wir wissen, dass 20 Prozent der | |
| Schutzgebiete von kriegsbedingter Zerstörung betroffen sind“, sagt Gozak. | |
| „Auch die Habitate seltener endemischer Arten, etwa im Bereich des | |
| zerstörten [3][Kachowkaer Stausees].“ | |
| Auch einige der rund 30 Braunbären der Rettungsstation Domazhyr sind Opfer | |
| des Kriegs und, wie die meisten Hunde und Katzen, vollkommen vom Menschen | |
| abhängig. Die Station befindet sich etwa 30 Kilometer westlich von Lwiw und | |
| wird von der österreichischen NGO „Four Paws“ betrieben. Das 20 Hektar | |
| große Gelände im Wald, umgeben und durchzogen von großen Metallzäunen, gab | |
| es schon vor dem Krieg. Aber auch hier kamen zuletzt neue Bewohner hinzu. | |
| Die meisten Bären sind in Käfigen aufgewachsen, bevor sie hier einzogen, | |
| als Attraktion von Hotelrestaurants zum Beispiel. Was übrig bleibt, sind | |
| traumatisierte und verstörte Tiere. Besonders traurig ist der Anblick | |
| ehemaliger Tanzbären, die jetzt einsam und verloren – ohne Publikum – die | |
| sinnlosen Bewegungen wiederholen, die ihnen andressiert wurden. Die Tiere – | |
| viele von ihnen haben wegen früherer Fehlernährung Diabetes – könnten in | |
| freier Wildbahn nicht überleben. | |
| Teilweise kennen sie nicht einmal den Geruch von Erde oder das Gefühl von | |
| frischem Wind im Fell, wenn sie hier ankommen. Bei manchen dauert es ein | |
| Jahr, bis sie sich trauen, mal ein bisschen in den Bäumen zu klettern, | |
| erzählt Olha Fedoriv, Mitarbeiterin der Einrichtung. Mit einem der Bären | |
| spricht sie regelmäßig, vertraut ihm ihre Sorgen und Geheimnisse an. „Er | |
| heißt Potap, ist ein sehr geduldiger Zuhörer und weiß alles über mich“, | |
| sagt sie scherzhaft. | |
| Ein anderer Bär trägt den Namen Bachmut, er ist nach der gleichnamigen | |
| Stadt im Donezk-Gebiet benannt. Mit ihm kann Fedoriv nicht sprechen, er | |
| kommt noch nicht einmal aus seiner Hütte heraus. Sie kann nur ahnen, was | |
| ihm widerfahren ist: Man fand ihn an ein Haus gekettet, dessen Dach | |
| weggebombt worden war. | |
| Das Tier war vollkommen verängstigt und ausgehungert; jetzt vertraut es nur | |
| ganz wenigen Pflegern. Mit zunächst kleinen Portionen gekochten Futters | |
| päppelten sie den Bären auf, um seinen Magen nicht zu überfordern. Langsam | |
| werden die Portionen größer, aber es wird noch lange dauern, bis Bachmut | |
| sich einigermaßen erholt hat. | |
| Zu Beginn des Krieges lebten noch sieben andere Bären hier, sie waren unter | |
| Beschuss aus der Region Kyjiw hertransportiert worden, als auch viele | |
| Menschen aus der Hauptstadt fliehen mussten. Drei davon wohnen jetzt in | |
| Deutschland, beispielsweise im Bärenpark Worbis, die anderen konnten wieder | |
| zurück. Die Menschen in der Ukraine hoffen, dass solche | |
| Evakuierungsaktionen nicht mehr nötig sein werden. | |
| Noch aber ist der Krieg nicht vorbei, und Wildtierretterin Natalia Gozak | |
| hat für die Evakuierungen aus den umkämpften Gebieten eine wichtige | |
| Beobachtung gemacht: „Haustiere spielen eine maßgebliche Rolle bei | |
| Entscheidungen der Zivilbevölkerung, ob sie gehen oder bleiben“. Je mehr | |
| Tiere die Leute besäßen und je weniger Einkommen sie hätten, desto weniger | |
| wahrscheinlich sei es, dass sie die gefährlichen Gebiete verlassen. | |
| „Deswegen sind Evakuierungspläne, denen die Komponente der Tierrettung | |
| fehlt, weniger effektiv“, sagt Gozak. | |
| In einer akuten Notsituation gehe zwar immer das Menschenleben vor, sagt | |
| Psychologieprofessor Claus-Christian Carbon. Aber die Entscheidung, ob sie | |
| ein Tier mitnehmen oder nicht, träfen Menschen selbst in schwierigsten | |
| Situationen nicht nach Kriterien der rationalen Nutzenmaximierung, die | |
| ohnehin eine psychologisch naive Illusion sei. Stattdessen zeige sich das | |
| Bedürfnis, Tiere nicht zurückzulassen, oder sogar zusätzlich welche zu | |
| retten. | |
| Manche Haustiere haben kein Fell, sondern Federn. Sie sind ein Fall für den | |
| Ornithologen Viktor Shelvinskyi von der Nationalen Akademie der | |
| Wissenschaften mit Sitz in Kyiw. Dass er auch für die Gestaltung des | |
| Naturkundemuseums von Lwiw zuständig ist, sieht man seinem Garten an. | |
| In Kozhychi am Rande Lwiws gelegen, erinnert er an das verwunschene Gelände | |
| eines Avantgarde-Festivals: hier eine Hängematte mit einem Mobilé aus | |
| Austernschalen darüber, dort ein Schaukasten mit Vogelfedern, und da drüben | |
| eine selbst gebaute Hütte mit einem großen, in den Fußboden eingelassenen | |
| Aquarium. Das Areal ist nicht groß, doch einmal betreten, wirkt es endlos. | |
| In jeder freien Ecke befinden sich kleine oder größere Volieren, dazwischen | |
| stolzieren weiße und grün schillernde Pfauen. | |
| Seit vergangenem Jahr leben hier nicht mehr nur einheimische Vögel, sondern | |
| auch bunte Papageien. Geflüchtete aus dem Osten des Landes hatten von | |
| Shelvinskyis Arbeit gehört und brachten sie her: Halsbandsittiche, einen | |
| Graupapagei, Salomon-Kakadus. Im Krieg, sagt der studierte Ornithologe, | |
| hätten sie im Grunde die gleichen Probleme wie Menschen: Unsicherheit, | |
| Hunger, Angst. | |
| Bei ihm jedenfalls sind alle willkommen: In den ersten Kriegsmonaten nahm | |
| auch Shelvinskyi geflüchtete Menschen auf sowie deren Hunde und Katzen. | |
| Diese seien inzwischen weitergezogen nach Westeuropa oder in andere | |
| halbwegs sichere Regionen der Ukraine. Geblieben aber sind ihm die Vögel. | |
| Shelvinskyi liebt Vögel, seit seiner Kindheit. Wenn er über die Bewohner | |
| der Volieren in seinem Garten redet, spürt man seine Begeisterung. Er kann | |
| sogar pfeifen wie ein Vogel. Schon seit Jahren kümmert er sich neben seiner | |
| eigentlichen Arbeit um verletzte Tiere, die er findet oder die Leute ihm | |
| bringen: Elstern, Mäusebussarde, Störche. Oft haben sie gebrochene Beine | |
| oder Flügel, können aber nach einer Weile in Shelvinskyis Obhut wieder | |
| fliegen. Er lässt sie dann frei und genießt diesen Moment. Manche Vögel | |
| kommen weiterhin ab und zu vorbei – um sich füttern zu lassen oder einfach | |
| auf einen Besuch. | |
| Schon seit vielen Jahren kursiert Shelvinskyis Nummer in den sozialen | |
| Medien. Besorgte Menschen rufen ihn an, wenn sie zum Beispiel in ihrem | |
| Schuppen eine verschreckte Eule finden. Er stellt dann fachkundige Fragen, | |
| etwa: ‚Wie verhält sich das Tier, wie sehen seine Pupillen aus?‘ – „In… | |
| Prozent solcher Fälle muss man gar nichts tun“, sagt er, „ich erkläre dan… | |
| dass sich die Eule nur vor Regen versteckt hat und alleine klarkommt.“ | |
| Seit Beginn des russischen Angriffskriegs aber wird Shelvinskyi deutlich | |
| häufiger kontaktiert, im März vergangenen Jahres waren es oft 15 Anrufe am | |
| Tag. So viele Vögel wie jetzt musste er noch nie versorgen: 286 Individuen | |
| aus 53 verschiedenen Arten. Darunter ist eine Rohrweihe aus Saporischschja; | |
| sie hat sich den linken Flügel gebrochen. Die drei Steinkäuze aus Mariupol | |
| sind schon wieder gesund, müssen aber noch beringt werden, bevor sie | |
| losfliegen dürfen. | |
| Shelvinskyi berät sogar Ukrainer, die aktiv im Krieg kämpfen: Immer wieder | |
| melden sich Menschen aus den umkämpften Gebieten, wenn sie verwundete Vögel | |
| finden. Mit einem Soldaten, der an der Front nebenbei einen verwundeten | |
| Kaiseradler versorgt, telefoniert er regelmäßig und gibt ihm Tipps: wie man | |
| den Bruch verbindet oder dass man dem Adler notfalls statt Fleisch rohes | |
| Hühnerei oder Insekten zu fressen geben kann. Auch Wildtierretterin Natalia | |
| Gozak kennt viele Fälle, in denen Soldaten an der Front sich um Katzen, | |
| Hunde, Mäuse, Wildschweine, Tigeriltisse oder andere Tiere kümmern. „Sie | |
| tun das mit größter Empathie; es baut Stress ab und gibt ihnen ein Stück | |
| Normalität zurück“, sagt sie. | |
| Genau deswegen sei es in Kriegs- und Krisengebieten auch so wichtig, | |
| Theater oder Cafés so früh wie möglich wieder zu öffnen, sagt der | |
| Psychologe Claus-Christian Carbon. Man brauche eine gewisse Normalität, | |
| etwas, woran man sich festhalten kann. In ähnlicher Weise erinnerten Tiere | |
| immer wieder an eine positive, zivile Welt, die gerade verloren scheint. | |
| „Tiere lösen Freude aus, und daran mangelt es im Krieg“, sagt er. | |
| Schließlich seien sie keine Gegenstände, sondern unersetzliche Lebewesen, | |
| die auch resonieren. Man bekomme also gewissermaßen etwas von ihnen zurück: | |
| „Tiere, die man versorgt, senden permanent Signale, dass es ihnen gefällt, | |
| zum Beispiel in Form von Schnurren“, sagt Carbon. | |
| Auch die körperliche Nähe sei nicht zu unterschätzen. An der Front habe man | |
| normalerweise nur Nähe zu Kameraden. Jene zu einem Tier sei frei gewählt | |
| und öffne somit einen privaten emotionalen Raum. Gerade auch bei | |
| Geflüchteten, die oft auch zu wenig Privatsphäre haben, sei das wichtig. | |
| „Können sie ihre Tiere nicht mitnehmen, ist es aber natürlich immer noch | |
| besser, wenn sich jemand anderes kümmern kann“, sagt Carbon. Dann fehle | |
| zwar unter anderem die körperliche Komponente, trotzdem werde gewissermaßen | |
| ein Stück verlorene Heimat bewahrt, und es bleibe die Hoffnung auf ein | |
| Wiedersehen. | |
| Eigentlich wollte Vogelflüsterer Viktor Shelvinskyi nie exotische Tiere | |
| halten, doch jetzt ist er froh, dass er mit seiner besonderen Expertise | |
| nützlich sein kann – nicht zuletzt Geflüchteten. Im Frühjahr 2022 brachten | |
| ihm viele Menschen auf der Flucht ihre Papageien; auch der [4][Kyjiwer Zoo] | |
| schickte Dutzende tropische Tauben und Papageien, die dort nicht mehr | |
| sicher waren. Die großen roten Aras leben inzwischen wieder in Kyjiw, | |
| manche Vögel sind weiter nach Polen gereist. Aber die anderen Papageien | |
| bleiben bei Shelvinskyi. | |
| Für die bunten Vögel hat er extra ein beheizbares Winterquartier gebaut, | |
| aus alten Fenstern und mit einer Dämmung aus Mineralwolle, die er in | |
| Bauabfällen fand. Das mag improvisiert sein, erfüllt aber seinen Zweck und | |
| fügt sich auch optisch gut in seinen ausgefallenen Garten ein. Das | |
| Polycarbonat, ein durchsichtiger Kunststoff fürs Dach, wurde durch Spenden | |
| finanziert, die die ukrainische Tierschutz-NGO UAnimals ihm zu sammeln | |
| half. | |
| Eine der neuen Bewohnerinnen des Papageien-Hauses ist Jagoda, ein blaurotes | |
| Salomon-Edelpapageien-Weibchen. Seine Besitzerin Anna, eine Übersetzerin | |
| aus Lwiw, zog mit ihren Kindern wegen der russischen Invasion nach Brüssel. | |
| Sie weinte, als sie Jagoda zurückließen. Aber sie konnten das Tier nicht | |
| mitnehmen – zu aufwändig ist die Pflege großer sensibler Papageien, zu | |
| kompliziert der Transport. | |
| Sie brachten Jagoda zu Shelvinskyi, den sie über Freunde kannten – und | |
| baten ihn, in Kontakt zu bleiben, bis sie eines Tages zurückkehren und | |
| Jagoda wieder selbst versorgen können. Jetzt schickt er ihnen per | |
| Viber-Messenger regelmäßig Videos, Fotos oder Tonaufnahmen, auf denen ihr | |
| Haustier „Hallo, Jagoda“ plappert. „Das ist ein bisschen wie Telefonsex�… | |
| scherzt Shelvinskyi. Für die Familie sei das aber ganz wichtig und helfe | |
| ihr, mit der schlimmen Situation klarzukommen. | |
| Geld möchte Shelvinskyi für solche Dienste nicht, zumal viele sich das gar | |
| nicht leisten könnten. Auch die Führungen, die er für Schulgruppen | |
| geflüchteter Kinder aus der Ostukraine anbietet, sind kostenlos. Sie finden | |
| in seinem Garten statt; er zeigt dann echte Vogelnester, unterschiedliche | |
| Tierschädel aus seiner Sammlung und erzählt, wie man einheimische Tierarten | |
| unterscheiden kann. | |
| Das Grün seines Gartens, die Einblicke ins Leben der Tiere und überhaupt | |
| die Nähe zur Natur tue seinen jungen Besuchern und Besucherinnen gut, sagt | |
| Shelvinskyi. Er sieht den teils durch den Krieg traumatisierten Kindern an, | |
| wie sie sich hier zwischen den Vögeln plötzlich entspannen. Das bestätigt | |
| den Vogelexperten in seiner Arbeit und dem Satz, der für ihn die Grundlage | |
| davon ist: Indem du Tieren hilfst, hilfst du auch Menschen. | |
| 30 Jul 2023 | |
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