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# taz.de -- Tiere im Ukrainekrieg: Die Katzen von Butscha
> In der Ukraine helfen Tierschützer:innen zurückgelassenen Katzen,
> Hunden, Bären. Ihre Arbeit hilft ihnen auch, mit der eigenen Ohnmacht
> klarzukommen.
Bild: Katzen aus den Kriegsgebieten werden in Lwiw umsorgt
Olha Horbatsch ist fast den ganzen Tag bei den Katzen. Die Wohnung im
Erdgeschoss in einem der vielen Plattenbauten von Sychiw, einem Viertel der
westukrainischen Stadt Lwiw, wurde eigens für die Tiere angemietet; durch
den Hausflur wabert der intensive Geruch von Katzenfutter. Hier leben 90
Tiere, es miaut aus allen Ecken. Dauernd fällt irgendetwas um, man wird von
jeder Seite angeschmust. Auf dem Tisch, dem Sofa, sogar auf dem Fernseher:
überall Katzen, in allen Größen und Farben.
Die meisten kommen aus den Kriegsgebieten – Mykolajiw, Nikopol,
[1][Butscha] – und haben Schlimmes erlebt. Eine schwarze Katze kann nicht
gehen, sie wurde angeschossen. Viele laufen frei in der Wohnung herum und
vertragen sich meistens; andere sitzen in Käfigen, bis sie gegen Tollwut
oder andere Krankheiten geimpft sind. Wenn sie Glück haben, werden sie an
ein neues Zuhause vermittelt, nach Polen oder auch Deutschland.
„Das ist das oberste Ziel“, sagt Olha Horbatsch, die vor dem Krieg eine
Zoohandlung betrieb. Jetzt kann sie sich ihr ehrenamtliches
Tierschutz-Engagement nur leisten, weil ihr Mann ausreichend verdient. Sie
wirkt nachdenklich, aber auch sehr motiviert. Horbatsch würde auch der
Armee helfen, sagt sie – aber sie kenne sich eben mit Tieren besser aus.
Ihnen zu helfen, ist ihr Ding, das merkt man, wenn man sie mit den Katzen
sieht. Zusammen mit anderen Helfer:innen hat Horbatsch seit Kriegsbeginn
schon über tausend Katzen retten und vermitteln können.
Wenn Bomben einschlagen, leiden auch Tiere. Das betrifft sowohl wilde Tiere
als auch solche, die auch in Friedenszeiten stark vom Menschen abhängig
sind, nämlich Nutz- und Haustiere. Nachdem [2][Russland im Februar 2022 die
Ukraine angriff], gingen auch Bilder um die Welt, wie flüchtende
Ukrainer:innen an Bahnhöfen mit Katzenboxen oder kleinen Hunden im Arm
an der Grenze zu Polen standen.
## Schicksale nicht gegeneinander ausspielen
Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber sicher ist: Nicht alle konnten ihre
Tiere mitnehmen, zumal die Ausfuhrkontrollen inzwischen strikter sind. Zwar
werden Kühe, Schweine oder Hühner so gut es geht weiter versorgt –
schließlich ernähren sich viele Menschen von ihnen –, aber vor allem
Haustiere leben in der stark zerstörten Ostukraine jetzt auf der Straße
oder in Ruinen. Sie sind auf sich allein gestellt, hungern und sind auch
von Infektionen bedroht.
Tierschützer und Tierschützerinnen wie Olha Horbatsch – die meisten sind
Frauen und arbeiten unter äußerst prekären Bedingungen – kümmern sich um
Katzen, Hunde, Bären oder Vögel. Sie verteilen Futter, holen Tiere aus den
Kriegsgebieten oder versorgen sie in improvisierten Tierheimen. Und alle,
mit denen die wochentaz sprach, finden: Man soll menschliches Schicksal
nicht gegen das der Tiere ausspielen.
Horbatsch zum Beispiel hat auch Geflüchtete bei sich zuhause aufgenommen,
sieht aber ihre Kompetenzen vor allem im Bereich Katzen. Für viele Menschen
sei es eine große Entlastung, dass sich jemand um ihre geliebten Haustiere
kümmert, wenn sie an die Front müssten oder das Land verließen.
Das kann sich Claus-Christian Carbon, Professor für Allgemeine Psychologie
an der Universität Bamberg, sehr gut vorstellen. Die Bindung von Menschen
zu ihren Haustieren sei nicht zu unterschätzen. Allerdings glaubt er, dass
die Pflege der Tiere für jene, die sie unter Obhut nehmen, mindestens
genauso wichtig ist. Auch wenn die Ressourcen im Krieg begrenzt seien und
eine Wohnung voller Tiere einerseits Ballast sein mag, überwiege etwas
anderes: „Wer eine Aufgabe hat, hat ein Ziel; wer ein Ziel hat, hält besser
durch.“
Schließlich seien die Menschen in einer wirklich bedrohlichen Lage: „Es ist
gefährlich, und sie wissen nicht, wie es weitergeht.“ Ihnen sei bewusst,
wie viele Menschen die Ukraine verlassen haben, und sie fragten sich
wahrscheinlich auch, ob sie fliehen sollten. Sich ein solches Ziel zu
suchen, sei dann eine sehr erfolgversprechende Strategie des Umgangs, die
psychisch stabilisiert, sagt Carbon. „Wenn man eine gute Begründung hat zu
bleiben, dann muss man nicht mehr zaudern.“
Ukrainer:innen, die sich jetzt um Tiere kümmern, kämen besser mit ihrer
Ohnmacht klar, glaubt Carbon. „Krieg bedeutet Autonomieverlust, man wird
zum Spielball“, sagt er. „Indem man ein Tier versorgt, überwindet man das
zumindest kurzzeitig und wird wieder zum Akteur.“ Das habe gerade bei
Geflüchteten, die fast alles verloren haben, eine wichtige
psychohygienische Funktion. Daher solle man ihnen nicht etwa einreden, dass
sie ihr Tier zurücklassen sollen. Manchmal sei es im Gegenteil wesentlich
rationaler und nachhaltiger, Menschen ihre Tiere mitnehmen zu lassen.
Manchmal aber, wenn die Katze, der Hund oder ein anderes Haustier zu groß
ist oder die Mittel zu begrenzt, muss es zurückbleiben. „Eine gruselige
Vorstellung“, findet Carbon. Man denke vermutlich die ganze Zeit daran, wie
es ihm gehe, was sehr belastend sein kann.
Olha Horbatsch jedenfalls gibt ihr Bestes für die Tiere, die ihre
Landsleute bei ihr gelassen haben. Doch manche Tiere können wegen ihrer
Größe oder Lebensweise nicht in einer Wohnung leben. Sie müssen in ein
Tierheim. Zum Beispiel in jenes, in dem Natalia Kuznjezowa arbeitet, etwas
außerhalb von Lwiw. Auf dem Gelände am Waldrand leben rund 400 Hunde.
Vor der russischen Invasion waren es 280, und schon da war es überfüllt.
Die Finanzierung durch die Stadt reiche nur für sieben Monate im Jahr,
erzählt Kuznjezowa. Der Fehlbetrag werde mehr schlecht als recht über
Spenden abgedeckt. Eigentlich sei sie Unternehmerin und handele mit
Auto-Ersatzteilen, am liebsten aber würde sie ausschließlich hier arbeiten.
Die meisten der hier untergebrachten Hunde sind mittelgroß bis groß –
vielleicht, weil sich die kleinen bei einer Flucht besser mitnehmen lassen.
Bringen die jungen freiwilligen Helfer:innen neue Hunde ins Gehege,
drehen deren Artgenossen durch: Noch bevor sich das Tor öffnet, bellen
Dutzende Hunde. Als eine Frau mit einem Tier im Arm eintritt, steigert sich
das Gebell zu großem Getöse. Die Tiere rotten sich zusammen, knurren,
fletschen die Zähne und kommen immer näher.
Damit sich die Hunde untereinander nicht gefährlich werden, dürfen sie nur
abwechselnd in größeren Gruppen frei herumlaufen und im Dreck scharren. Aus
vielen der Verschläge dringt Jaulen. Hund Michail – sein Besitzer ist an
der Front – sieht aus wie eine Mischung aus Hyäne und Wolf. In seinem Käfig
läuft er stets unruhig im Kreis, springt am Zaun hoch, wedelt aber noch mit
dem Schwanz. Ein stolzer Schäferhund aus Nikopol, der von seinen
Besitzer:innen zurückgelassen werden musste, ist krank. Er hat
Verdauungsprobleme, kratzt am Gitter und verschmiert einen riesigen Haufen
seines eigenen Kots. Es stinkt erbärmlich. Aber gäbe es solche
Hilfsprojekte nicht, wären die Tiere noch schlechter dran.
Tiere können auf ganz verschiedene Weise von Krieg betroffen sein. Wilde
Tiere sind oft in der Lage, aus den umkämpften Gebieten zu fliehen; in
manchen Gegenden werden sie sogar weniger gestört als sonst. Wenn etwa
keine Landwirtschaft mehr betrieben wird, können Insekten wegen der
fehlenden Pestizide profitieren. Vor allem größere Tiere können aber auch
verstärkt gejagt werden, etwa weil die Versorgungslage schlecht ist und das
Essen knapp wird; außerdem lassen sich Naturschutzmaßnahmen meist
schlechter durchsetzen.
„Alle möglichen Tiere sind stille Opfer des Krieges in der Ukraine“, sagt
Natalia Gozak, die von Kyjiw aus als Wildtierretterin für den
Internationalen Tierschutzfonds (IFAW) arbeitet. Die aktuellen Verluste
seien jedoch schwer zu beziffern, weil Wissenschaftler:innen nicht in
der Lage seien, die entsprechenden Gebiete zu untersuchen – vor allem, wenn
sie umkämpft oder vermint sind. Exakte Daten gebe es daher wohl erst zu
einem späteren Zeitpunkt. „Aber wir wissen, dass 20 Prozent der
Schutzgebiete von kriegsbedingter Zerstörung betroffen sind“, sagt Gozak.
„Auch die Habitate seltener endemischer Arten, etwa im Bereich des
zerstörten [3][Kachowkaer Stausees].“
Auch einige der rund 30 Braunbären der Rettungsstation Domazhyr sind Opfer
des Kriegs und, wie die meisten Hunde und Katzen, vollkommen vom Menschen
abhängig. Die Station befindet sich etwa 30 Kilometer westlich von Lwiw und
wird von der österreichischen NGO „Four Paws“ betrieben. Das 20 Hektar
große Gelände im Wald, umgeben und durchzogen von großen Metallzäunen, gab
es schon vor dem Krieg. Aber auch hier kamen zuletzt neue Bewohner hinzu.
Die meisten Bären sind in Käfigen aufgewachsen, bevor sie hier einzogen,
als Attraktion von Hotelrestaurants zum Beispiel. Was übrig bleibt, sind
traumatisierte und verstörte Tiere. Besonders traurig ist der Anblick
ehemaliger Tanzbären, die jetzt einsam und verloren – ohne Publikum – die
sinnlosen Bewegungen wiederholen, die ihnen andressiert wurden. Die Tiere –
viele von ihnen haben wegen früherer Fehlernährung Diabetes – könnten in
freier Wildbahn nicht überleben.
Teilweise kennen sie nicht einmal den Geruch von Erde oder das Gefühl von
frischem Wind im Fell, wenn sie hier ankommen. Bei manchen dauert es ein
Jahr, bis sie sich trauen, mal ein bisschen in den Bäumen zu klettern,
erzählt Olha Fedoriv, Mitarbeiterin der Einrichtung. Mit einem der Bären
spricht sie regelmäßig, vertraut ihm ihre Sorgen und Geheimnisse an. „Er
heißt Potap, ist ein sehr geduldiger Zuhörer und weiß alles über mich“,
sagt sie scherzhaft.
Ein anderer Bär trägt den Namen Bachmut, er ist nach der gleichnamigen
Stadt im Donezk-Gebiet benannt. Mit ihm kann Fedoriv nicht sprechen, er
kommt noch nicht einmal aus seiner Hütte heraus. Sie kann nur ahnen, was
ihm widerfahren ist: Man fand ihn an ein Haus gekettet, dessen Dach
weggebombt worden war.
Das Tier war vollkommen verängstigt und ausgehungert; jetzt vertraut es nur
ganz wenigen Pflegern. Mit zunächst kleinen Portionen gekochten Futters
päppelten sie den Bären auf, um seinen Magen nicht zu überfordern. Langsam
werden die Portionen größer, aber es wird noch lange dauern, bis Bachmut
sich einigermaßen erholt hat.
Zu Beginn des Krieges lebten noch sieben andere Bären hier, sie waren unter
Beschuss aus der Region Kyjiw hertransportiert worden, als auch viele
Menschen aus der Hauptstadt fliehen mussten. Drei davon wohnen jetzt in
Deutschland, beispielsweise im Bärenpark Worbis, die anderen konnten wieder
zurück. Die Menschen in der Ukraine hoffen, dass solche
Evakuierungsaktionen nicht mehr nötig sein werden.
Noch aber ist der Krieg nicht vorbei, und Wildtierretterin Natalia Gozak
hat für die Evakuierungen aus den umkämpften Gebieten eine wichtige
Beobachtung gemacht: „Haustiere spielen eine maßgebliche Rolle bei
Entscheidungen der Zivilbevölkerung, ob sie gehen oder bleiben“. Je mehr
Tiere die Leute besäßen und je weniger Einkommen sie hätten, desto weniger
wahrscheinlich sei es, dass sie die gefährlichen Gebiete verlassen.
„Deswegen sind Evakuierungspläne, denen die Komponente der Tierrettung
fehlt, weniger effektiv“, sagt Gozak.
In einer akuten Notsituation gehe zwar immer das Menschenleben vor, sagt
Psychologieprofessor Claus-Christian Carbon. Aber die Entscheidung, ob sie
ein Tier mitnehmen oder nicht, träfen Menschen selbst in schwierigsten
Situationen nicht nach Kriterien der rationalen Nutzenmaximierung, die
ohnehin eine psychologisch naive Illusion sei. Stattdessen zeige sich das
Bedürfnis, Tiere nicht zurückzulassen, oder sogar zusätzlich welche zu
retten.
Manche Haustiere haben kein Fell, sondern Federn. Sie sind ein Fall für den
Ornithologen Viktor Shelvinskyi von der Nationalen Akademie der
Wissenschaften mit Sitz in Kyiw. Dass er auch für die Gestaltung des
Naturkundemuseums von Lwiw zuständig ist, sieht man seinem Garten an.
In Kozhychi am Rande Lwiws gelegen, erinnert er an das verwunschene Gelände
eines Avantgarde-Festivals: hier eine Hängematte mit einem Mobilé aus
Austernschalen darüber, dort ein Schaukasten mit Vogelfedern, und da drüben
eine selbst gebaute Hütte mit einem großen, in den Fußboden eingelassenen
Aquarium. Das Areal ist nicht groß, doch einmal betreten, wirkt es endlos.
In jeder freien Ecke befinden sich kleine oder größere Volieren, dazwischen
stolzieren weiße und grün schillernde Pfauen.
Seit vergangenem Jahr leben hier nicht mehr nur einheimische Vögel, sondern
auch bunte Papageien. Geflüchtete aus dem Osten des Landes hatten von
Shelvinskyis Arbeit gehört und brachten sie her: Halsbandsittiche, einen
Graupapagei, Salomon-Kakadus. Im Krieg, sagt der studierte Ornithologe,
hätten sie im Grunde die gleichen Probleme wie Menschen: Unsicherheit,
Hunger, Angst.
Bei ihm jedenfalls sind alle willkommen: In den ersten Kriegsmonaten nahm
auch Shelvinskyi geflüchtete Menschen auf sowie deren Hunde und Katzen.
Diese seien inzwischen weitergezogen nach Westeuropa oder in andere
halbwegs sichere Regionen der Ukraine. Geblieben aber sind ihm die Vögel.
Shelvinskyi liebt Vögel, seit seiner Kindheit. Wenn er über die Bewohner
der Volieren in seinem Garten redet, spürt man seine Begeisterung. Er kann
sogar pfeifen wie ein Vogel. Schon seit Jahren kümmert er sich neben seiner
eigentlichen Arbeit um verletzte Tiere, die er findet oder die Leute ihm
bringen: Elstern, Mäusebussarde, Störche. Oft haben sie gebrochene Beine
oder Flügel, können aber nach einer Weile in Shelvinskyis Obhut wieder
fliegen. Er lässt sie dann frei und genießt diesen Moment. Manche Vögel
kommen weiterhin ab und zu vorbei – um sich füttern zu lassen oder einfach
auf einen Besuch.
Schon seit vielen Jahren kursiert Shelvinskyis Nummer in den sozialen
Medien. Besorgte Menschen rufen ihn an, wenn sie zum Beispiel in ihrem
Schuppen eine verschreckte Eule finden. Er stellt dann fachkundige Fragen,
etwa: ‚Wie verhält sich das Tier, wie sehen seine Pupillen aus?‘ – „In…
Prozent solcher Fälle muss man gar nichts tun“, sagt er, „ich erkläre dan…
dass sich die Eule nur vor Regen versteckt hat und alleine klarkommt.“
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs aber wird Shelvinskyi deutlich
häufiger kontaktiert, im März vergangenen Jahres waren es oft 15 Anrufe am
Tag. So viele Vögel wie jetzt musste er noch nie versorgen: 286 Individuen
aus 53 verschiedenen Arten. Darunter ist eine Rohrweihe aus Saporischschja;
sie hat sich den linken Flügel gebrochen. Die drei Steinkäuze aus Mariupol
sind schon wieder gesund, müssen aber noch beringt werden, bevor sie
losfliegen dürfen.
Shelvinskyi berät sogar Ukrainer, die aktiv im Krieg kämpfen: Immer wieder
melden sich Menschen aus den umkämpften Gebieten, wenn sie verwundete Vögel
finden. Mit einem Soldaten, der an der Front nebenbei einen verwundeten
Kaiseradler versorgt, telefoniert er regelmäßig und gibt ihm Tipps: wie man
den Bruch verbindet oder dass man dem Adler notfalls statt Fleisch rohes
Hühnerei oder Insekten zu fressen geben kann. Auch Wildtierretterin Natalia
Gozak kennt viele Fälle, in denen Soldaten an der Front sich um Katzen,
Hunde, Mäuse, Wildschweine, Tigeriltisse oder andere Tiere kümmern. „Sie
tun das mit größter Empathie; es baut Stress ab und gibt ihnen ein Stück
Normalität zurück“, sagt sie.
Genau deswegen sei es in Kriegs- und Krisengebieten auch so wichtig,
Theater oder Cafés so früh wie möglich wieder zu öffnen, sagt der
Psychologe Claus-Christian Carbon. Man brauche eine gewisse Normalität,
etwas, woran man sich festhalten kann. In ähnlicher Weise erinnerten Tiere
immer wieder an eine positive, zivile Welt, die gerade verloren scheint.
„Tiere lösen Freude aus, und daran mangelt es im Krieg“, sagt er.
Schließlich seien sie keine Gegenstände, sondern unersetzliche Lebewesen,
die auch resonieren. Man bekomme also gewissermaßen etwas von ihnen zurück:
„Tiere, die man versorgt, senden permanent Signale, dass es ihnen gefällt,
zum Beispiel in Form von Schnurren“, sagt Carbon.
Auch die körperliche Nähe sei nicht zu unterschätzen. An der Front habe man
normalerweise nur Nähe zu Kameraden. Jene zu einem Tier sei frei gewählt
und öffne somit einen privaten emotionalen Raum. Gerade auch bei
Geflüchteten, die oft auch zu wenig Privatsphäre haben, sei das wichtig.
„Können sie ihre Tiere nicht mitnehmen, ist es aber natürlich immer noch
besser, wenn sich jemand anderes kümmern kann“, sagt Carbon. Dann fehle
zwar unter anderem die körperliche Komponente, trotzdem werde gewissermaßen
ein Stück verlorene Heimat bewahrt, und es bleibe die Hoffnung auf ein
Wiedersehen.
Eigentlich wollte Vogelflüsterer Viktor Shelvinskyi nie exotische Tiere
halten, doch jetzt ist er froh, dass er mit seiner besonderen Expertise
nützlich sein kann – nicht zuletzt Geflüchteten. Im Frühjahr 2022 brachten
ihm viele Menschen auf der Flucht ihre Papageien; auch der [4][Kyjiwer Zoo]
schickte Dutzende tropische Tauben und Papageien, die dort nicht mehr
sicher waren. Die großen roten Aras leben inzwischen wieder in Kyjiw,
manche Vögel sind weiter nach Polen gereist. Aber die anderen Papageien
bleiben bei Shelvinskyi.
Für die bunten Vögel hat er extra ein beheizbares Winterquartier gebaut,
aus alten Fenstern und mit einer Dämmung aus Mineralwolle, die er in
Bauabfällen fand. Das mag improvisiert sein, erfüllt aber seinen Zweck und
fügt sich auch optisch gut in seinen ausgefallenen Garten ein. Das
Polycarbonat, ein durchsichtiger Kunststoff fürs Dach, wurde durch Spenden
finanziert, die die ukrainische Tierschutz-NGO UAnimals ihm zu sammeln
half.
Eine der neuen Bewohnerinnen des Papageien-Hauses ist Jagoda, ein blaurotes
Salomon-Edelpapageien-Weibchen. Seine Besitzerin Anna, eine Übersetzerin
aus Lwiw, zog mit ihren Kindern wegen der russischen Invasion nach Brüssel.
Sie weinte, als sie Jagoda zurückließen. Aber sie konnten das Tier nicht
mitnehmen – zu aufwändig ist die Pflege großer sensibler Papageien, zu
kompliziert der Transport.
Sie brachten Jagoda zu Shelvinskyi, den sie über Freunde kannten – und
baten ihn, in Kontakt zu bleiben, bis sie eines Tages zurückkehren und
Jagoda wieder selbst versorgen können. Jetzt schickt er ihnen per
Viber-Messenger regelmäßig Videos, Fotos oder Tonaufnahmen, auf denen ihr
Haustier „Hallo, Jagoda“ plappert. „Das ist ein bisschen wie Telefonsex�…
scherzt Shelvinskyi. Für die Familie sei das aber ganz wichtig und helfe
ihr, mit der schlimmen Situation klarzukommen.
Geld möchte Shelvinskyi für solche Dienste nicht, zumal viele sich das gar
nicht leisten könnten. Auch die Führungen, die er für Schulgruppen
geflüchteter Kinder aus der Ostukraine anbietet, sind kostenlos. Sie finden
in seinem Garten statt; er zeigt dann echte Vogelnester, unterschiedliche
Tierschädel aus seiner Sammlung und erzählt, wie man einheimische Tierarten
unterscheiden kann.
Das Grün seines Gartens, die Einblicke ins Leben der Tiere und überhaupt
die Nähe zur Natur tue seinen jungen Besuchern und Besucherinnen gut, sagt
Shelvinskyi. Er sieht den teils durch den Krieg traumatisierten Kindern an,
wie sie sich hier zwischen den Vögeln plötzlich entspannen. Das bestätigt
den Vogelexperten in seiner Arbeit und dem Satz, der für ihn die Grundlage
davon ist: Indem du Tieren hilfst, hilfst du auch Menschen.
30 Jul 2023
## LINKS
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Andrew Müller
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