# taz.de -- Tiere im Krieg: Ziegenzucht im Binnenexil | |
> Der Ziegenhof der Ukrainerin Olena Bilosorenko wurde im Krieg zerstört. | |
> Die Tiere überlebten. Andernorts hat sie ihn neu aufgebaut – samt | |
> Käserei. | |
Bild: Hält inzwischen fast fünfzig Ziegen: Olena Bilosorenko | |
Vor einem Jahr schien es, als sei es das gewesen mit der Ziegenzucht von | |
Olena Bilosorenko. Eine russische Rakete schlug in ihren Hof ein, im Dorf | |
Stanislaw, westlich von Cherson. Mehrere Gebäude brannten, das gesamte | |
Futter war weg, ein Mann verletzt. Auch der Stall wurde getroffen. | |
„Als wir den ersten Schock überwunden hatten, hatten wir keine Hoffnung | |
mehr beim Anblick all der Zerstörung“, sagt Bilosorenko rückblickend. „Wir | |
haben uns nur auf Zehenspitzen herangewagt. Links und rechts brannten die | |
Wände, die Ziegen drängten sich in der Mitte zusammen. Völlig verängstigt.�… | |
Doch wie durch ein Wunder überlebten alle Tiere. „Da war uns klar, dass wir | |
gehen müssen.“ | |
[1][Nach dem 24. Februar 2022] fiel auch Stanislaw unter russische | |
Besatzung, im November 2022 wurde es von ukrainischen Streitkräften | |
zurückerobert. Seitdem wird es von der russischen Armee beschossen. | |
Nun leben die Ziegen in Hwozdiw, einem Dorf unweit von Kyjiw. Besonders die | |
wunderschöne Landschaft gefalle ihr hier, sagt Bilosorenko. Genauso die | |
vielen Obstplantagen, der See, und dass ihr neuer Hof an einem Hang liege, | |
der sie an die Klippen erinnert, die von Stanislaw steil zum Dniproufer | |
abfallen. Da der neue Hof zuvor lange leer stand, muss viel restauriert | |
werden. Die Nachbarn helfen mit Materialien und Arbeitskraft. | |
Zum Ziegenzüchten kam Olena Bilosorenko auf Umwegen. Zwei Jahrzehnte hatte | |
sie am Theater [2][von Cherson] gearbeitet, zum Schluss managte sie die | |
Gastspieltourneen. Doch vor fünf Jahren musste sie aus gesundheitlichen | |
Gründen damit aufhören und beschloss, ihr Leben zu ändern. | |
„Mein Mann und ich nutzten die Gelegenheit, um aufs Land zu ziehen“, sagt | |
sie. Sie wollten mehr Platz, mehr Freiraum. „Als Städter hatten wir keine | |
Ahnung von Landwirtschaft und haben uns gleich zwei Ziegen angeschafft.“ | |
Ihre Kinder haben ihnen dann noch zwei weitere geschenkt. | |
## Akribische Käseherstellerin | |
Dann kamen die ersten Touristen, zuerst Familien mit Kindern. Sie tranken | |
die frisch gemolkene Milch, fotografierten sich mit den Ziegen. „Als sie | |
wieder weg waren, haben mein Mann und ich uns angesehen und wir wussten: | |
das wird unser Geschäftsmodell!“, erzählt Bilosorenko. „Denn wir haben | |
diese Freude gespürt. Die Erwachsenen wurden zu Kindern, sie hatten | |
strahlende Augen. Ich weiß nicht mal mehr, ob wir Geld verlangt haben für | |
den Besuch.“ | |
Das andere Geschäft ist der Käse. „Die erste Milch von unseren Ziegen haben | |
wir uns kaum getraut zu probieren. Ziegenmilch hat ja einen sehr speziellen | |
Geschmack und Geruch. Aber sie war sehr lecker!“, sagt Bilosorenko. Vor | |
allem war es gleich ziemlich viel. Auf YouTube fand sie dann ein Video, in | |
dem eine Frau einen Weichkäse herstellt. | |
„Das sah alles sehr schön aus. Ich habe es mir aufmerksam angeschaut und | |
dann sehr lange nach diesem Rezept gearbeitet.“ Mit der Zeit | |
perfektionierte Bilosorenko es, lernte dazu, sah sich professionellere | |
Videos an und trat auch der Vereinigung der Ziegenzüchter bei. Dort erhielt | |
sie Hilfe bei den Rezepturen, der Tierhaltung sowie weitere gute Tipps. | |
„Bei der Käseherstellung bin ich sehr akribisch“, sagt sie. | |
Inzwischen produziert sie rund ein Dutzend verschiedene Käsesorten. Nach | |
dem Weichkäse kam ein Halloumi, anschließend hat sie sich an länger | |
reifende Käsesorten herangewagt. Eine von ihnen, die Belper Knolle, ist ein | |
Schweizer Hartkäse in Kugelform. Zur Käsemasse gibt man Knoblauch und | |
Himalajasalz und wälzt die Kugeln in schwarzem Pfeffer. | |
Danach muss er zwischen drei Wochen und zwei Jahren reifen. Am Anfang ist | |
er noch ganz weich, ähnlich wie Frischkäse, aber schon ein bisschen scharf. | |
„Er passt gut im Salat“, sagt Bilosorenko. „Aber wenn er reifer wird, | |
ähnelt er Parmesan und kann über Pasta, Omelette und Salat gerieben | |
werden.“ | |
## „Wir schlachten überhaupt keine Ziegen“ | |
Auch Lavendelkäse, Canestrato, Feta und Ricotta stellt sie aus der | |
Ziegenmilch her sowie verschiedene Sorten Caciotta. „Am besten gefällt mir | |
der mit selbst angebautem Spinat. Er hat so eine leuchtende Farbe und einen | |
cremigen Geschmack.“ Sie selbst isst ihren Käse am liebsten auf Brot: | |
„Ricotta auf eine Brotscheibe, ein paar Tomatenscheiben und obendrauf | |
würziger Belper Käse. Das sind so super Sandwiches.“ | |
Noch einmal geht Olena Bilosorenkos Blick zurück nach Stanislaw, wo alles | |
begann. „Es hat mir das Herz zerrissen zu sehen, wie die Panzer kamen und | |
das Dorf eingenommen wurde“, sagt sie. Die größte Angst während der | |
Besatzungszeit hatten sie und ihr Mann davor, dass die russischen Militärs | |
ihnen die Ziegen wegnehmen würden. | |
Oder schlachten. „Wir schlachten überhaupt keine Ziegen. Wir essen nicht | |
das Fleisch unserer Tiere und verkaufen es auch nicht.“ Doch die Russen | |
seien während der gesamten Besatzungszeit nicht einmal zur Ziegenfarm | |
gekommen. | |
„Als das Dorf dann befreit wurde, haben wir einige der Tiere an Menschen | |
verschenkt, die ins Dorf zurückkamen, damit sie von etwas leben und sich | |
eine neue Existenz aufbauen können.“ | |
Dennoch war der Umzug nach dem Raketeneinschlag in den Ziegenhof | |
unumgänglich. Mit 24 Ziegen, 13 Hunden und 9 Katzen ging es ins neue | |
Zuhause. Dank der Vermittlung von Bekannten konnte Bilosorenko einen Mann | |
[3][aus der Nähe von Kyjiw] finden, der dort einen landwirtschaftlichen | |
Betrieb aufgegeben hatte und bereit war, sie dort aufzunehmen. | |
Beim Transport halfen dann die Militärverwaltung des Gebietes Cherson und | |
eine britische Tierschutzorganisation. „Sie fanden einen Spediteur, was | |
nicht selbstverständlich ist, denn Stanislaw liegt in der roten, besonders | |
gefährdeten Zone. Nicht viele lassen sich darauf ein, dort überhaupt | |
hinzufahren.“ | |
Schon ein halbes Jahr leben Olena Bilosorenko, ihr Mann und die Ziegen nun | |
im Kyjiwer Umland. Leicht ist das Leben auch hier nicht. Es gibt zu wenig | |
Baumaterial, um Stallungen zu errichten, und die Ziegen werden immer mehr: | |
„Es sind jetzt schon fast fünfzig. Wir haben vor, Zicklein zu verkaufen | |
oder auch zu verschenken, weil der Platz hier gar nicht ausreicht für so | |
viele Tiere. Wir sind aber sehr dankbar, dass uns so viele Menschen | |
geholfen haben.“ | |
Die Ziegen produzieren weiterhin Milch für Käse, aber nicht mehr so große | |
Mengen. „Wir haben auch vor, bald wieder Touristen bei uns unterzubringen, | |
um ihre glücklichen Augen zu sehen“, sagt Bilosorenko. „Genau damit haben | |
wir ja auch begonnen damals.“ | |
Aus dem Ukrainischen von Gaby Coldewey | |
2 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Yuliia Shchetyna | |
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