# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Leben wie in einer Schießbude | |
> Die Stadt Cherson im Süden der Ukraine wurde vor zwei Jahren von der | |
> russischen Besatzung befreit. Dennoch sterben dort weiterhin jeden Tag | |
> Menschen. | |
Bild: Zwei Jahre nach der Befreiung von der russischen Besatzung gleicht das Le… | |
Cherson taz | „Haben Sie keine Angst, Sie brauchen sich nicht zu | |
verstecken, es kommt nicht bis hierher“, sagt ein älterer Mann mit ruhiger | |
Stimme. Er duckt sich nicht einmal, als irgendwo in der Nähe ein Donnern zu | |
hören ist, so als würde eine Artilleriegranate explodieren. Auch eine | |
zweite Explosion bringt ihn nicht aus der Ruhe, er bleibt auf einer Bank an | |
der Bushaltestelle sitzen. | |
„Das sind unsere Jungs, die einen Verteidigungskampf führen, es gibt keinen | |
Grund zur Panik. Aber wenn die Russen anfangen, auf uns zu schießen, müssen | |
wir uns verstecken. Wenn wir noch Zeit haben“, sagt der 78-jährige Iwan | |
Iwanowytsch und zeigt auf einen zwei Meter entfernten Betonbunker. | |
Solche Bunker wurden in Cherson an den wichtigsten Haltestellen des | |
öffentlichen Nahverkehrs gebaut, nachdem mehrere Menschen, die auf einen | |
Trolleybus warteten, durch Beschuss getötet worden waren. „Die Wände sind | |
dick, gegen Granatsplitter sind sie sicher, aber was bei einem Volltreffer | |
passiert, weiß ich nicht. Dann wird es mir wohl auch egal sein“, überlegt | |
der Rentner und stützt sich auf seinen Stock. | |
Er kommt jeden Tag, um Brot und Milch zu kaufen. Nur hier gibt es noch | |
große Supermärkte, einen Markt, und es ist relativ sicher – russische | |
Drohnen und Fliegerbomben schlagen hier nur selten ein. „Ich komme auch | |
hierher, weil Leute auf der Straße sind. Sie laufen die Straßen entlang und | |
gehen ihren Geschäften nach. Wenigstens gibt es noch ein paar Anzeichen | |
normalen Lebens. Morgen komme ich wieder. Natürlich nur, wenn ich | |
überlebe“, sagt er und beeilt sich, in den Trolleybus zu steigen. Der ist | |
jetzt kostenlos. | |
## Bomben mit allem, was geht | |
Zwei Jahre nach der Befreiung von der russischen Besatzung gleicht das | |
Leben in Cherson einem Schießstand. Die russischen Truppen bombardieren die | |
Stadt mit allen verfügbaren Waffen, von Angriffsdrohnen bis zu Gleitbomben. | |
2022 war es den russischen Streitkräften bereits in den ersten Tagen ihrer | |
großangelegten Invasion gelungen, Cherson und die gleichnamige Region | |
einzunehmen. Die Stadt war das einzige regionalen Zentrum in der Ukraine, | |
das die Russen einnehmen konnten – und nach fast neun Monaten Besatzung am | |
11. November 2022 die einzige Großstadt, [1][die die ukrainische Armee seit | |
Beginn der Großinvasion befreien konnte]. | |
Heute ist die Region Cherson zweigeteilt: Das linke Ufer steht unter | |
russischer Besatzung, das rechte Ufer unter ukrainischer Kontrolle. [2][Der | |
Fluss Dnipro ist de facto zur Frontlinie geworden]. Die Ufer des Dnipro, | |
für die Einheimischen einst ein Ort der Erholung im Freien, werden heute | |
nur noch mit Gefahr und Tod in Verbindung gebracht. Die meisten | |
Küstenbezirke der Stadt sind rote Zonen. Das bedeutet, dass die Russen fünf | |
Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Flusses diese Gebiete | |
ungehindert und regelmäßig beschießen. | |
[3][Der zentrale Platz von Cherson, der Freiheits-Platz, auf dem nach der | |
Befreiung drei Tage lang gefeiert wurde] und dessen Bilder um die Welt | |
gingen, ist heute ein sehr gefährlicher Ort. In den vergangenen zwei Jahren | |
wurde etwa ein Dutzend Menschen getötet oder verletzt, die hier unterwegs | |
waren. | |
## Film über eine Apokalypse | |
Einst der belebteste Platz der Stadt, wirkt er heute wie eine Szene aus | |
einem apokalyptischen Film. Gebäudefassaden sind von Granateneinschlägen | |
zerstört, zerbrochene Fenster mit Sperrholz vernagelt, Autos rasen mit | |
halsbrecherischer Geschwindigkeit vorbei. | |
Passanten sind nur selten zu sehen, selbst herrenlose Hunde scheuen den | |
Platz. Wer sich ins Stadtzentrum wagt, hält sich dicht an die Hauswände | |
oder sucht den Schutz von Baumkronen. | |
Denn [4][mit kleinen Drohnen hat die russische Armee eine regelrechte | |
Safari gegen Zivilisten gestartet]. Die Russen befestigen Minen an Drohnen | |
und werfen sie auf Passanten, Häuser und Autos ab. Es ist fast unmöglich, | |
dieser Gefahr zu entkommen, denn sie kommt unerwartet. In den letzten sechs | |
Monaten sind mehrere Dutzend Menschen auf diese Weise ums Leben gekommen. | |
Die meisten Opfer sind Ärzte, Rettungskräfte und Mitarbeiter der | |
Stadtverwaltung, die zum Ort des Beschusses kommen. In der vorletzten Woche | |
gerieten Ärzte unter Beschuss, als sie zwei Opfer behandeln wollten, deren | |
Haus von einer Drohne getroffen worden war. Auf dem Weg zum Krankenhaus | |
warf eine zweite Drohne eine Mine direkt auf den Rettungswagen. | |
## Menschen kehren zurück | |
Trotz des Terrors kehren die Menschen nach Cherson zurück. Heute sind es | |
etwa 70.000, ein Viertel der Vorkriegsbevölkerung. Die meisten sind | |
Rentner, die die Stadt während der Besatzung nicht verlassen hatten, aber | |
manche Familien mit kleinen Kindern kommen zurück. Den einen gelang es | |
nicht, sich woanders dauerhaft niederzulassen, den anderen ging schlicht | |
das Geld zum Leben aus. | |
[5][In den Schulen lernen die Kinder online]. Doch das ist nicht immer | |
möglich: Wenn eine Stromleitung durch nächtlichen Beschuss beschädigt wird, | |
ist auch das Internet sehr instabil. Auch die Parks der Stadt sind für | |
Spaziergänger gesperrt. Russische Truppen verstreuen aus der Ferne | |
Antipersonenminen – sogenannte „Lepestki“, die wie Blätter aussehen und | |
kaum zu erkennen sind. | |
Die einzigen Orte, an denen sich Kinder in Cherson treffen können, sind | |
Spielplätze, umgeben von hohen, mit Sandsäcken verkleideten Metallgittern. | |
Diese Konstruktionen sollen die Kinder vor Granatsplittern schützen. Doch | |
sie bieten nur minimalen Schutz. | |
## Ein Baum als Retter | |
Die 15-jährige Lisa verließ die Stadt nicht, als der Krieg begann. Während | |
der Besatzung ging sie fast nie aus dem Haus, und auch jetzt verlässt sie | |
es nur selten. Kürzlich hatte sie Glück, als sie ihren Hund ausführte. | |
Lisa lief ein paar hundert Meter in Richtung ihrer Schule, die in einer | |
Nebenstraße liegt. In diesem Moment ging eine Fliegerbombe auf die Schule | |
nieder. Das Mädchen fiel unter einen Baum und wurde gerettet. Später fand | |
sie dort ein handtellergroßes Schrapnell. | |
Wie viele Kinder in Cherson hat Lisa schon so einiges erlebt. Während der | |
Besatzung kamen Männer mit Maschinengewehren in ihr Haus und nahmen vor | |
ihren Augen ihren Vater mit. Roman war ein ehemaliger Soldat und hatte eine | |
patriotische Tätowierung auf dem Arm – eine Karte der Ukraine in gelb-blau. | |
Er wurde etwa zwei Monate lang gefangen gehalten. | |
Sie zwangen ihn, die Tätowierung mit einem Messer aus seinem Arm zu | |
schneiden. Als er sich weigerte, brannten sie sie mit einem Lötkolben aus. | |
„Als alles verheilt war, habe ich mir sofort ein neues gemacht“, sagt Roman | |
und zeigt ein frisches Tattoo in der gleichen Farbe an der Stelle der | |
Narbe. | |
Roman ist einer von Tausenden Männern und Frauen aus Cherson, die in | |
russischen Folterkammern waren. Der Mann hat sich vor einigen Wochen den | |
ukrainischen Streitkräften angeschlossen und rechnet damit, bald in den | |
Einsatz zu ziehen. „Ich weiß schon, dass ich nach Sumy geschickt werde. | |
Dort geht es jetzt sehr hoch her“, sagt er. | |
Roman macht sich Sorgen um seine Tochter und seine Frau, die in Cherson | |
bleiben werden. Aber er ist sicher: Sie haben die Besatzung überlebt, jetzt | |
schaffen sie auch das. Der Mann träumt davon, eines Tages auch das linke | |
Ufer des Dnipro befreien zu können: „Nur wenn die Russen unser Land | |
verlassen, können wir ihren Terror gegenüber dem ukrainischen Volk | |
beenden“. | |
17 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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