# taz.de -- Alltag in der Ukraine: Krieg ist eine Wette | |
> Neun Stunden dauerte der letzte Luftalarm in Kyjiw. Unser Autor berichtet | |
> von Medikamenten gegen die Angst und einem Luftschutzbunker, der keiner | |
> ist. | |
Bild: In einem Bunker in Kyjiw | |
Krieg ist, wenn Du den Kater suchst. | |
„Rapan“, lockt K. auf Russisch und auf Ukrainisch. „Rapa, mein Kätzchen, | |
mein Süßer.“ | |
Draußen heulen die Sirenen. K. hat darauf gedrungen, in den | |
Luftschutzkeller zu gehen. Weil Russland wieder ballistische Raketen auf | |
die Ukraine schießt. Schießen wird? Der Telegram-Kanal „Monitor“ meldet am | |
4. September um 23.17 Uhr, dass in Russland Flugzeuge aufgestiegen sind, | |
die ballistische Raketen abfeuern können. | |
Vielleicht bluffen sie nur. | |
Vielleicht schießen sie aber doch. | |
Falls sie schießen, gibt es Millionen Möglichkeiten, wo ihre Raketen | |
hinfliegen können. | |
Eine davon seid Ihr. | |
Viele in Kyjiw bleiben liegen. Suchen die Katze nicht. Gehen nicht in den | |
Keller. Warum sollte es ausgerechnet sie treffen? Krieg ist eine Wette. | |
Am 4. September hat [1][Russlands Armee Lwiw getroffen]. Lwiw weit im | |
Westen, Lwiw fast in Polen. Die sicherste Stadt des Landes. Schreibt immer | |
mal wieder irgendwer. An diesem Tag nicht. Sieben Tote, eine Mutter und | |
ihre drei Töchter, 21 Jahre alt, 14 und sieben. Der Vater ist noch hier. Wo | |
auch immer „da“ ist. 53 Verletzte gibt es auch. | |
Am 3. September haben sie Poltawa getroffen, 300.000 Einwohner, | |
Zentralukraine. Es scheint fast so, als hätte Russland die Stadt mit seinen | |
Angriffen bisher vergessen, keine großen Meldungen von dort. Dafür schlagen | |
sie dieses Mal hart zu. 53 Tote, 298 Verletzte. | |
Wenn Dir diese Angriffe nicht klar machen, dass Du nicht im Bett bleiben | |
kannst, was dann? | |
## Müdigkeit. Würde. Depression. | |
„1 Raketenträger wurde im Schwarzen Meer stationiert“, meldet „Monitor�… | |
0.00 Uhr, 5. September 2024. „Gesamtmunition bis zu 4 Kaliber | |
Marschflugkörper.“ Woher weiß „Monitor“ das eigentlich so genau? Die | |
Person, die das macht? Die Personen? In der Ukraine konnte Dir das bisher | |
nie jemand sagen, einige vermuten, dass Leute von der ukrainischen | |
Luftabwehr dahinterstecken. Du hast Dich dafür nie wirklich interessiert. | |
Wichtig ist: „Monitor“ ist zuverlässig. „Monitor“ hat recht. | |
Vielleicht sollten K. und Du ohne den Kater in den Keller..? | |
„Mach, was du willst“, sagt K. „Ich kann nicht ohne ihn gehen.“ | |
Ihr findet Rapan unter dem Gästebett. K. steckt ihn in einen Rucksack mit | |
Atemlöchern und einem Bullauge aus durchsichtigem Plastik. Die Treppen | |
runter, rüber ins Nachbarhaus. Es ist finster, Stromausfall, mal wieder. | |
Die Lampen Eurer Mobiltelefone im Dunkel. Der Kater starrt durch sein | |
Bullauge auf die zu Sternschnuppen gewordenen Menschen. Rapan, der | |
Raumfahrer. | |
Warum bleiben so viele im Bett? | |
Müdigkeit. Würde. Depression. Such Dir einen Grund aus. Oder alle auf | |
einmal. | |
K. und Du haben am Morgen dieses fünften September am Kiosk zwei Espresso | |
Tonic bestellt. Du noch ein Croissant. Drei Mal hast Du die Verkäuferin | |
daran erinnert. „Entschuldigung“, hat sie gesagt. „Hab kaum geschlafen. | |
Luftalarm.“ Das war die Nacht, in der Russland die Frau in Lwiw getötet hat | |
und ihre drei Töchter dazu. | |
Schräg gegenüber vom Kiosk, einmal über die Straße ist die Apotheke. Dort | |
kriegt man immer Pillen, selbst zwischen Null und fünf Uhr morgens, wenn | |
Ausgangssperre ist. Knopf drücken, in den Lautsprecher reden, die Frau | |
drinnen sucht die Packungen raus und bringt sie an die Tür. | |
Rezeptpflichtige Medikamente aber wirklich nur gegen Rezept. Da ist sie | |
streng. Bleib eine Weile stehen, und Du siehst sie alle. Die Teenager, die | |
verschämt kichern und dann klingeln. Lachende junge Frauen auf dem Weg zur | |
Party. Die Friseurin, die Dir für umgerechnet sechs Euro die Haare | |
geschnitten hat. Rauchende Alte. Und K., K. natürlich auch. | |
## Auch für Tiere gibt es Pillen | |
Du hörst die Namen der Medikamente, der Wirkstoffe, die sie in den | |
Lautsprecher sagen: Magni, Opipram, Lamictal, Levana, Gidazepam, Diazepam, | |
Saroten, Phenibut. Gegen Anspannung, gegen Angst, gegen Schlaflosigkeit, | |
gegen Krämpfe, gegen Verspannungen, gegen Schwindel, gegen Übelkeit, gegen | |
Depression, gegen bipolare Störung, gegen alles, was das Heulen der Sirenen | |
in den Menschen hier seit dem Februar 2022 geweckt hat. Wer will schon | |
sagen, was vorher da war und was mit Russlands Raketen gekommen ist. „Vor | |
der Invasion habe ich von allem eine Dosis genommen“, sagt K. „jetzt eben | |
zwei.“ Neben ihrem Bett ein Blistermeer. Krieg ist, wenn alle auf Tabletten | |
sind. | |
Auch die Tiere. Auch die wollen schlafen. Auch für die gibt es Pillen. | |
Ihr seid im Keller angekommen. Ein Luftschutzbunker müsste zwei Eingänge | |
haben, stabiler gebaut sein. Einen Treffer mit einer Rakete hält das hier | |
nicht aus. Deswegen bleiben auch viele zu Hause. Sie wollen nicht unter | |
Schutt sterben. Dann schon lieber im eigenen Bett. Zwei Frauen und ein | |
kleines Mädchen sind hier. Eine andere Frau tippt auf ihrem Laptop. Noch | |
eine sitzt vor dem Keller. | |
„Guten Abend.“– „Guten Abend.“ | |
„Pass auf Dich auf“, schreibt eine Freundin aus Deutschland. Sie hat Deinen | |
Post auf Instagram gesehen. | |
„Das macht die ukrainische Luftabwehr“, schreibst Du zurück. | |
Wer hätte gedacht, dass Du nochmal freundlich über eine Armee schreiben | |
würdest. Als Kind, ja, da warst Du begeistert von Soldaten und Waffen, Dein | |
Vater war Offizier der Nationalen Volksarmee. Das war die DDR, einer der | |
militarisiertesten Staaten der Welt. Heute verachtest Du das Jungsgerede | |
erwachsener Männer über Kanonen und Panzer. Aber es ist, wie es ist. Ohne | |
die Luftabwehr wäre jede Rakete aus Russland ein Treffer und jede iranische | |
Shahed-Kamikaze-Drohne ein Feuerball. Du kannst Dir hier [2][keine | |
Interviews mit Sahra Wagenknecht] durchlesen oder mit anderen deutschen | |
Politiker:innen, die ein Ende der Waffenlieferungen fordern. Bekämen die | |
ihren Willen, wären hier noch viel mehr Menschen tot. | |
## Es wird stärker. Es füllt Deinen Kopf ganz aus. | |
Vor drei Tagen hast Du bei einer befreundeten Familie übernachtet. Die | |
haben keinen Keller, die verstecken sich im Badezimmer. „Warum ist es so | |
laut“, hat D. gefragt. Sieben Jahre alt, zwei davon mit Luftalarm. Müsste | |
er die Antwort nicht kennen? | |
Dann hat das Haus gewackelt, etwas war in der Nähe eingeschlagen. Und dann | |
noch einmal. Wir haben den Rauch gesehen. Nichts stand davon in den Medien | |
am nächsten Tag. Wahrscheinlich war es wieder diese Fabrik, da haben sie | |
schon einmal viele Tote rausgetragen. Auch die tauchten in keiner Zeitung | |
auf. Militärgeheimnis. Die, die in der Gegend wohnen, wissen trotzdem | |
Bescheid. | |
Du hast die nahen Einschläge gut weggesteckt. Das Wackeln gefilmt wie ein | |
Journalist, das Weinen des Kindes aufgenommen. | |
Dann bist Du am Morgen des 4. September an der Fabrik vorbeigelaufen. | |
Nachdem Ihr Eure Espressi Tonic ausgetrunken habt, hat K. Dir erzählt, dass | |
die Leute erzählen, dass es in dieser Fabrik spukt. „Hörst du die | |
Geräusche?“, hat sie gefragt und sie hat angehalten. Und Du hörtest die | |
Geräusche tatsächlich. Ein leichtes Rauschen wie in einer Muschel. Es wurde | |
stärker. Es füllte Deinen Kopf ganz aus. Du hast Deinen Körper verlassen, | |
Du schwebtest über Dir. Hallo, Du. | |
Das ist normal, wird K. Dir später sagen. Wahrscheinlich wegen des | |
Angriffs, als das Haus gewackelt hat. Die Auswirkungen spürt man oft erst | |
später. K. klang gedämpft, als würde sie durch Watte reden. | |
## Vielleicht abgeschossen, vielleicht nicht | |
Ihr seid weitergelaufen und habt den Namen des Musikers Bulat Okudschawa | |
verdreht, gewürgt und zusammengestaucht. Bulat, Schnulat, Populat, | |
Krassipulat. Okudschawa, Popudschawa. Ihr habt es gerufen, ihr habt | |
gelacht. Die Leute haben geguckt. „Vielleicht verhaftet uns die Polizei“, | |
hat K. gesagt, „wegen Lachens.“ Ihr habt noch mehr gelacht. Armer Bulat | |
Okudschawa. Vielleicht freut er sich, dass er Euch hilft. | |
Neun Stunden dauert der Luftalarm in Kyjiw vom 4. auf den 5. September. Im | |
Keller sitzt Ihr davon nur zwei Stunden lang. Dann ist die Gefahr | |
ballistischer Raketen vorüber. Vielleicht abgeschossen, vielleicht nie | |
abgeschossen, vielleicht hat Russland wirklich nur geblufft. Egal, Ihr | |
wollt ins Bett. Jetzt fliegen noch die langsamen und lauten Shahed. Die | |
können die Ukrainer:innen auch mit einfachen Maschinengewehren | |
abschießen. Schlafen werdet Ihr trotzdem erst um vier Uhr morgens. | |
In Kyjiw stirbt an diesem Tag niemand. | |
5 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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