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# taz.de -- Erinnerung an den 17. September 1939: Motivation zum Widerstand
> In der Ukraine erinnert man sich nicht nur an die deutsche Aggression.
> Ein Besuch an einem Ort, der für die Besetzung durch die Sowjetunion
> steht.
Bild: Lonsky-Gefängnis im ukrainischen Lwiw: Beklemmung und Repression
Lwiw taz | Nur gut einen Meter breit und lang ist die unbeheizte,
fensterlose Zelle. Die Wände sind mit unebenem Beton verputzt. Wer hier
eingesperrt wurde, sollte sich nicht mal anlehnen können. Eine zweite Zelle
ist rundherum gepolstert und schallisoliert. Beide Zellen befinden sich im
Museum im Lonsky-Gefängnis im ukrainischen Lwiw. Der Ort verkörpert wie
kaum ein anderer die Vielschichtigkeit der Geschichte der Region. Ein
wichtiges Datum dabei ist der 17. September 1939. 85 Jahre ist dies nun
her.
Geht es um den Beginn des [1][Zweiten Weltkriegs], herrschen in der
deutschen kollektiven Erinnerung Bilder vor, wie die Wehrmacht Schlagbäume
an der polnischen Grenze durchbricht oder wie das Schlachtschiff
„Schleswig-Holstein“ in Danzig auf die Westerplatte schießt. Doch in
Osteuropa erinnert man sich auch an eine andere Geschichte. Nämlich an die
Besetzung durch die Sowjetunion ab dem 17. September und an den Terror, der
dann folgte.
Das Lonsky-Gefängnis wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Kaserne der
österreichischen Gendarmerie erbaut, als Lwiw noch Lemberg genannt wurde
und zur österreichisch-ungarischen Donaumonarchie gehörte. Im Polen der
Zeit zwischen den Weltkriegen wurde das Gebäude zum Gefängnis umgebaut. Das
nutzte dann die sowjetische Geheimpolizei weiter, dann die Nazis und dann
wieder die sowjetische Geheimpolizei. In der unabhängigen Ukraine wurde das
Gebäude schließlich zum Museum.
Vieles in dem Gebäude mit der eidottergelben Fassade erzeugt Beklemmungen:
die langen Korridore mit den Zellentüren, die Gitter, die winzigen
Toiletten, die die Gefangenen zehn Minuten am Tag nutzen durften. Doch
dieser Ort war nicht gedacht, um Menschen nur einzusperren. Sie sollten
gebrochen werden.
## Viele Binnengeflüchtete besuchen das Museum
Olesya Isaiuk kennt die Ausstellung in – und auswendig. Die promovierte
Historikerin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die 37-Jährige arbeitet
seit zwölf Jahren im Museum und forscht unter anderem zu
Konzentrationslagern. Jährlich werden nach ihren Angaben zwischen 16.000
und 20.000 Besucher gezählt. „Die Menge hat sich auch seit Beginn des
großangelegten Krieges nicht verändert“, sagt sie. Allerdings kämen nun
viele Binnengeflüchtete aus dem Osten der Ukraine zu Besuch. „Sie wollen
die Hintergründe von Russlands Invasion und der damit einhergehenden
Gräueltaten verstehen.“
Dass Ostgalizien – also in etwa die drei heutigen westukrainischen
Regionen Lwiw, Ternopil und Iwano-Frankiwsk – heute zur Ukraine gehört,
hängt mit einem Dokument zusammen, dass vor 85 Jahren in Moskau von
Nazi-Außenminister Joachim von Ribbentrop und seinem sowjetischen
Amtskollegen Wjatscheslaw Molotow unterzeichnet wurde: dem geheimen
Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der
Sowjetunion.
Der Pakt der Diktatoren gab Hitler freie Hand für seinen Krieg gegen Polen
und teilte den Osten Europas zwischen dem faschistischen und dem
kommunistischen Imperium auf. Mit ein paar Ausnahmen bildet die Linie aus
dem Zusatzprotokoll auch heute die polnische Ostgrenze.
Die Sowjetpropaganda behauptete, die Rote Armee habe die polnischen
Ostgebiete ab dem 17. September 1939 besetzt, um ihre „slawischen
Brudervölker“ zu schützen. Tatsächlich hielten sie mit der Wehrmacht
gemeinsam fünf Tage später eine Parade in Brest ab. In den Monaten, die
folgten, zogen die Sowjets in ihren neu eroberten Gebieten im
Schnelldurchlauf das Terrorprogramm durch, dass sie in ihrem
Herrschaftsbereich schon 20 Jahre lang umsetzten.
## Wer noch lebte, wurde nach Sibirien deportiert
„Alle, die Verantwortung in einer Gesellschaft übernehmen konnten, standen
auf der Fahndungsliste des NKWD“, erklärt Isaiuk. Dazu zählten Lehrer,
Geistliche, Kulturschaffende oder Politiker, ganz gleich ob Polen, Ukrainer
oder Juden. „Oft wurden die Gesuchten mit ihren Familien verhaftet.“ Im
Gefängnisflur hängen Dutzende Namenslisten. „Mit einem roten Häkchen
markierte Namen sind Gefangene, die hingerichtet wurden.“ Wer nicht gleich
erschossen wurde, wurde in Haft gefoltert und verhört, um an weitere Namen
zu kommen. „Die Geheimpolizei war Ermittler, Ankläger und Richter in
einem.“
Wer noch am Leben war, wurde nach Sibirien deportiert. Insgesamt rund 1,1
Millionen Menschen aus den vormals polnischen Gebieten. Aber es gibt auch
höhere Schätzungen. Bis Mitte 1941 Nazideutschland den Pakt mit Stalin
brach, gab es vier Verhaftungswellen. Die letzte kurz vor dem Angriff der
Wehrmacht. Als sich die deutschen Truppen der Stadt näherten, hatte der
NKWD keine Zeit mehr für einen Abtransport der Gefangenen. Alle 1.681
Menschen wurden Ende Juni 1941 erschossen. Das ganze war kein Einzelfall.
In der Region gab es 16 Massenerschießungen.
„Für viele hier ist die Erfahrung der sowjetischen Okkupation eine
Motivation zum Widerstand“, sagt Isaiuk. Sie kenne etliche Beispiele aus
dem Freundeskreis. „Manche sprechen vom zehnten Jahr des Kriegs, der vor
mehr als 100 Jahren begonnen hat.“ Ähnlich wie aus dem Holodomor – dem von
Stalin angeordneten Aushungern der ukrainischen Gebiete unter sowjetischer
Herrschaft Anfang der 1930er Jahre – ergebe sich aus der massenhaften
Gewalt nach dem sowjetischen Einmarsch 1939 für die heutige Generation die
Lehre, dass sie sich in einer existenziellen Auseinandersetzung befinde.
„Wir wissen, wir haben keine andere Wahl, als zu kämpfen.“
Fährt man heute durch das historische Galizien, bemerkt man nicht auf
Anhieb, ob man in Polen oder in der Ukraine ist. Die wellige Landschaft
steigt langsam Richtung Süden zu den Karpaten an, wird von kleinen Flüssen
durchzogen, die Gehöfte auf dem Land liegen oft ein bisschen abseits der
Straßen. Gewissheit bekommt man zum Beispiel, wenn man irgendwo ein Schild
sieht. Je nachdem, ob die Buchstaben lateinisch oder kyrillisch sind.
[2][Oder wenn der Luftalarm ertönt.]
## Brutalität förderte Nationalismus
Mitten in der Landschaft steht der Grenzübergang Korczowa-Krakowez. Auf der
polnischen Seite beginnt eine Autobahn, die bis nach Calais am Ärmelkanal
führt. Auf der ukrainischen Seite hat man sich zur
Fußball-Europameisterschaft 2012 immerhin frischen Asphalt auf der
Landstraße bis in die 90 Kilometer entfernte Universitätsstadt Lwiw
geleistet – der historischen Hauptstadt Galiziens, die auf Deutsch Lemberg
heißt und auf Polnisch und Russisch Lwow. Die EU-Außengrenze schneidet sich
durch die Landschaft.
Es gibt einen Zaun, Stacheldraht und einen vegetationsfreien
Geländestreifen, damit man Fußspuren gut erkennen kann. Auf der einen Seite
ist das Nato-Land Polen, auf der anderen Seite muss sich die Ukraine des
russischen Angriffskrieges seit mehr als zweieinhalb Jahren erwehren.
„Eine paradoxes Ergebnis der stalinschen Politik ist, dass dadurch 1939
erstmals fast alle Ukrainer im selben Staat gelebt haben – auch wenn es
nicht ihr eigener war“, sagt der Historiker Jan Claas Behrends. Er hat die
Professur Diktatur und Demokratie – Deutschland und Osteuropa von 1914 bis
zur Gegenwart an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt (Oder) inne.
Bekannt ist er auch durch den Podcast „Ostausschuss der Salonkolumnisten“.
Die Brutalität der sowjetischen Unterdrückung habe damals die ukrainische
Bevölkerung in die Arme des radikalen Teils der Nationalbewegung getrieben.
Und diese wiederum saß zwischen allen Stühlen. Sowohl Polen als auch die
Sowjetunion waren für sie Besatzer. „Der Annäherungsversuch an Deutschland
hat nicht funktioniert“, sagt Behrends. Die Nazis waren nicht an einem
ukrainischen Staat interessiert. Für sie zählte die slawische Bevölkerung
in Osteuropa allenfalls als Arbeitssklaven.
## Auch an den 17. September wird erinnert
Der Partisanenkampf gegen die Sowjets dauerte bis Ende der 1940er-Jahre.
„Ähnlich wie der Erste Weltkrieg in Osteuropa nicht 1918 zu Ende war, war
auch der Zweite nicht 1945 vorbei“, so Behrends. Aus dem langen Widerstand
speist sich auch bis heute die Popularität in Teilen der Bevölkerung. Das
gelte beispielsweise auch für Stepan Bandera, der zeitweise mit
Nazideutschland kollaboriert hat. „Bandera war für seine Epoche ein
typischer nationalistischer Politiker.“ Dass er 1957 in München durch den
KGB ermordet wurde, habe ihn posthum noch bekannter gemacht. „Die heutige
Ukraine mit ihrem ethnisch und religiös inklusiven Nationalbewusstsein
hätte ihm sicher nicht gefallen.“
„Im heutigen Polen wird dem 17. September genau so gedacht wie dem 1.
September“, erklärt Behrends. Das könne man gar nicht voneinander trennen.
Ein gewaltiges Gebiet, um das die Rote Armee nach der Machtübernahme der
Bolschewiki bis Anfang der 1920er-Jahre erfolglos gekämpft hatte, gab es
nun fast frei Haus. Die Implikationen gehen sogar weit über Osteuropa
hinaus: „Die Kooperation mit der Sowjetunion hat Hitlerdeutschland den
Rücken freigehalten, um in Westeuropa erfolgreich angreifen zu können“,
sagt Historiker Behrends.
Anders als die Ostukraine oder zeitweise auch die Region Kyjiw ist der
Westen des Landes seit 2022 allerdings kein Frontgebiet. Aber es gibt immer
wieder Luftangriffe. Anfang September etwa schlug eine russische Rakete in
ein Wohnhaus in der Innenstadt ein und tötete eine Mutter und ihre drei
Töchter. Der Ort ist nur etwas mehr als einen Kilometer vom Museum
entfernt.
17 Sep 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Marco Zschieck
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