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# taz.de -- Mobilisierung in der Ukraine: Wer muss in den Krieg?
> Zwei Jahre nach Russlands Invasion brauchen erschöpfte ukrainische
> Soldat:innen eine Pause. Unterwegs in einem Land, das sich gegenseitig
> mustert.
Bild: Demonstration in Kyjiw: Frauen fordern, dass Soldaten, die seit zwei Jahr…
Kyjiw, Lwiw und Slowjansk taz | Bevor Yurii Nod weiterschießen darf, macht
sich sein Trainer erst einmal über ihn lustig. „Du bist alt und langsam“,
sagt der, als sich Nod hinkniet und sein Gewehr anlegt, um zu zielen, den
Kolben an der rechten Wange. „Du brauchst mehr Stretching.“ Yurii Nod
grinst und zielt nochmal, dieses Mal den Kolben links neben seinem Gesicht.
Er steht auf und rennt: einmal vom wellblechüberdachten Unterstand bis zur
Tonne in der Mitte des schneeverkrusteten Übungsplatzes und wieder zurück.
Dann schießt er. Kurz und scharf wie der Knall einer Peitsche hallt der
Schuss über das Feld. Die ausgeworfene Patronenhülse klimpert gegen das
Dach des Schützenstands und hoppelt ein paarmal über Beton.
46 Jahre ist Yurii Nod alt. Er müsste überhaupt nicht hier sein, in der
feuchten Kälte der ersten Februartage, die jedes unbedeckte Fleckchen Haut
findet, die Finger und Zehen nach Minuten durchfrostet; hier auf diesem
privaten Trainingsgelände in der Nähe von Lwiw, einer Großstadt im Westen
der Ukraine. Yurii Nod hat vier Kinder, davon drei jünger als 18 Jahre, er
müsste deshalb nicht in die Armee, für die es im Osten an der Front seit
einiger Zeit nicht gut läuft.
Kyjiws Gegenoffensive im Sommer und Herbst 2023 brachte hohe Verluste, aber
keine signifikanten Geländegewinne. Die westlichen Verbündeten liefern
nicht genug Munition. Die Kriegsführung hat sich wieder einmal verändert,
beide Armeen setzen Kamikazedrohnen ein, aber Russland hat mehr davon,
Artillerie sowieso.
Am 8. Februar wechselte Präsident Wolodymyr Selenskyj den in der
Bevölkerung beliebten [1][Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj] durch einen
unpopulären General aus. Nur wenige Tage später zog sich die ukrainische
Armee aus der seit knapp zehn Jahren gehaltenen Frontstadt Awdijiwka zurück
– eine herbe Niederlage. Und trotzdem sagt Yurii Nod, er wolle an die
Front. „Ich kann mir auch vorstellen, in einer Spezialeinheit zu arbeiten“,
sagt er nach dem Schießtraining beim Essen in seiner Lwiwer
Lieblingspizzeria, „in einer Einheit, die auf von Russland besetztem Gebiet
kämpft.“
Nod spricht in dieser Pizzeria auch darüber, was die meisten Menschen in
der Ukraine zwei Jahre nach Russlands Angriff beschäftigt. Er glaubt nicht,
dass der Kampf mit dem großen Nachbar bald endet. Er sagt: „In zwei Jahren
werden wir immer noch Krieg haben. Mal sehen, wie der aussieht, vielleicht
wird es ein Stellungskrieg wie vor 2022.“ Von einem Sieg ist er trotzdem
überzeugt. Er sagt: „Es sind harte Zeiten, aber keine dunklen Zeiten.“
Mit dem Bewusstsein, dass der Krieg wahrscheinlich noch lange dauert, geht
auch die Erkenntnis einher, dass dieser Krieg nicht allein mit den
Soldat:innen zu gewinnen ist, die sich nach der Invasion im Februar 2022
freiwillig gemeldet haben. Die Ukrainer:innen reden darüber in den
Straßen, in Tram und Metro, in Kneipen, auf Facebook und Telegram. Im
Dezember 2023 hat Präsident Selenskyj gesagt, das Militär brauche 500.000
neue Soldat:innen. Das betrifft vor allem die Männer. Frauen können
freiwillig zur Armee gehen. Die Regierung in Kyjiw hält die Zahlen der
toten ukrainischen Kämpfer:innen geheim, die New York Times schrieb im
vergangenen Sommer unter Berufung auf US-Regierungsbeamt:innen von etwa
70.000 Toten und bis zu 120.000 Verwundeten.
Im Dezember hat die ukrainische Regierung den [2][Entwurf für ein Gesetz]
ins Parlament eingebracht, das neu festlegen soll, wer unter welchen
Umständen zur Armee gehen muss und wer das Militär wann wieder verlassen
darf. Die erste Version wurde von den Abgeordneten unter anderem wegen
potenzieller Menschenrechtsverletzungen gleich wieder kassiert. Der Entwurf
enthielt empfindliche Strafen gegen Männer, die sich dem Militärdienst
entziehen, darunter den Ausschluss von staatlichen Leistungen und
Beschränkungen, über das eigene Vermögen zu verfügen. Ein geänderter
Entwurf passierte trotz einiger fortbestehender Bedenken Anfang Februar in
erster Lesung das Parlament.
Die Mobilisierung neuer Soldat:innen ist ein Verliererthema. Ukrainische
Politiker:innen wissen, dass sie sich damit nicht beliebt machen
können. Ein Teil ihrer potenziellen Wähler:innen hat Angst, sie selbst,
ihre Männer, ihre Verwandten müssten bald an die Front gehen. Andere
kämpfen seit zwei Jahren oder länger und wollen nach Hause. Die Zahl
500.000 wollte Präsident Selenskyj selbst gar nicht gesagt haben und schob
die Verantwortung dafür dem Militär zu. Der damalige Oberbefehlshaber
Saluschnyj wies das von sich, es folgte ein öffentlicher Schlagabtausch aus
dem Umfeld der beiden; vielleicht einer der Gründe für Saluschnyjs spätere
Demission.
## Drohnen und Raketen
An einem frühen Nachmittag im Februar umläuft Serhii Hnesdilov, 23 Jahre
alt und Kommandeur einer Drohneneinheit, Pfützen auf einer schlammigen
Nebenstraße am Rande von Slowjansk. Es ist dieselbe Woche, in der Yurii
Nod trainiert, aber hier über Slowjansk weit im Osten strahlt der Himmel
blau. Knapp 1.200 Kilometer, fast ein ganzes Land, liegen zwischen den
beiden Männern.
Yurii Nod schießt auf Zielscheiben aus Pappe, Serhii Hnesdilov sagt, er
wäre am Tag davor beinahe getötet worden. Grad-Raketen seien in seiner Nähe
eingeschlagen. „Ich konnte gerade noch so in einen Graben springen“, sagt
Hnesdilov. Dabei zieht er die Mundwinkel leicht nach oben, das macht er
ziemlich oft, in Deutschland würde man ihn in manchen Gegenden eine
Grinsebacke nennen.
Serhii Hnesdilov hat verboten, ihn an der Front zu besuchen, das sei zu
gefährlich. „Wir kommen nicht bei Tageslicht an die Front, wir können uns
nur in der Dämmerung bewegen. Drohnen beobachten alles, und wenn sich
tagsüber etwas rührt, kommt eine Drohne und zerstört das.“
Slowjansk liegt je nach Messung 30 bis 40 Kilometer hinter der Front.
Hierher kommen ukrainische Soldat:innen, um einzukaufen, sich mit
Freund:innen und Geliebten zu treffen. Hnesdilov will sich die Haare
schneiden lassen. Ein Mann öffnet ein braunes Tor in einem ebenso braunen
Zaun, er lotst Hnesdilov vorbei an Gartengeräten in sein Einfamilienhaus,
im Flur hängt ein rot und braun bemaltes Papierskelett, Puzzles mit
Weihnachtslandschaften kleben an nackten Wänden. Serhii Hnesdilov setzt
sich auf einen Friseurstuhl in einem Raum, der mal ein Wohnzimmer war. Das
sagt jedenfalls der Mann, der jetzt Schere und Rasierer in der Hand hat.
Hnesdilov sagt, es gebe zu wenige Friseure in der Stadt, und der Besitzer
dieses Hauses habe deswegen ein Geschäft aufgemacht.
Während ihm die Haare geschnitten werden und bei einem Restaurantbesuch
erzählt Hnesdilov von seinem Zorn. „Ich bin wütend, weil die Regierung noch
immer keine transparenten Gesetzen erlassen hat, Gesetze, die für alle
gelten.“ So, wie er es sieht, ruhen sich zu viele Menschen in der Ukraine
darauf aus, dass Männer wie er das Land verteidigen und dabei sterben. Er
sagt, viele Ukrainer:innen würden so tun, als kämpften nur
professionelle Soldat:innen, Menschen, deren Beruf das Töten und Sterben
sei.
„Aber die meisten von uns sind Zivilpersonen, die sich nur deshalb
freiwillig gemeldet haben, weil Russland uns keinen anderen Ausweg lässt,
als zu kämpfen.“ Hnesdilov hat sich 2019 vertraglich zum Militärdienst
verpflichtet, vorher hat er Journalismus studiert und ein Kunstfestival in
der Gegend von Odessa organisiert. Da kommt er ursprünglich her. Er sagt:
„Ich möchte ausgewechselt werden, ich gehöre hier so wenig hin wie alle
anderen, ich bin müde.“
## Frage der Fairness
Die [3][Frage der Fairness], die nach einer irgendwie gerechten Verteilung
der Schrecken des Krieges in der Ukraine, stellen nicht nur Soldat:innen
wie Serhii Hnesdilov. Eine kleine, aber gut organisierte Bewegung von
Frauen demonstriert dafür, dass ihre Männer, Brüder, Söhne möglichst bald
die Armee verlassen dürfen. Am 28. Januar und am 11. Februar versammeln
sich jeweils mehr als 100 Frauen auf dem zentralen Platz in Kyjiw, dem
Maidan, sie rufen: „Helden sind keine Sklaven!“, und: „Das ganze Land ist
für den Sieg verantwortlich!“ Es ist ihre sechste und siebte Demonstration,
sie protestieren seit dem Herbst.
Organisiert hat diese Versammlung zusammen mit ein paar anderen Frauen
Anastasiia Bulba, 37, im Gebiet des heutigen Russlands geboren, auf der
ukrainischen Krim aufgewachsen. Sie wohnt in einem Dorf nahe der
Hauptstadt, 25 Minuten braucht sie mit der Marschrutka, einem Sammeltaxi,
dorthin. Sie hat mal Forst- und Parkwirtschaft studiert, dann mit ihrem
Mann eine Manufaktur für Matratzen aufgemacht. Er ist Soldat in einer
Logistikeinheit, und Anastasiia Bulba wartet jeden Morgen bis 11 Uhr auf
die Bestätigung im Signal-Messenger, dass er ihre Nachrichten gelesen hat.
Wenn nicht, ruft sie die Frauen seiner Kameraden an, so haben sie es
vereinbart.
Bulba sagt, und das sagen andere Frauen auf dem Maidan auch, sie
demonstriere nicht gegen den Krieg. Sie halten die Verteidigung gegen
Russland für alternativlos. Das Nachbarland habe angegriffen und könne den
Krieg nur selbst beenden. „Aber die ukrainische Regierung und die
Gesellschaft haben aus unseren Männern Helden gemacht, die angeblich
unzerstörbar sind“, sagt Anastasiia Bulba. Diese Verheldung sei eine Form
der Entmenschlichung. „Unsere Männer werden krank, sie werden verletzt, sie
sterben.“
Viele dieser Männer haben sich gleich nach der Invasion zum Militär
gemeldet und hatten seitdem kaum einmal Zeit, sich zu erholen. Sie müssten
endlich durch andere ersetzt werden, fordert Bulba. „Jeder wird in der
Armee dienen“, rufen die Frauen, als sie vom Maidan aus den Chreschtschatyk
hinunterlaufen, die große mehrspurige Straße im Kyjiwer Stadtzentrum.
Manche, denen sie dabei begegnen, schauen freundlich, andere erschrocken,
insbesondere Männer.
Fragt man Frauen aus dem Demonstrationszug, wie sie die Männer sehen, die
in Kyjiw und anderen Städten einkaufen oder ins Fitnessstudio gehen, dann
schimpfen einige, es fallen Beleidigungen wie „Ziegenböcke“ und
„Feiglinge“. „Negativ“, ist Anastasiia Bulbas knappe Antwort auf die Fr…
wie sie gesunde Männer sieht, die nicht zum Militär gehen. Aus Bulbas Sicht
nehmen sie ihre Verantwortung nicht wahr und lassen andere für ihre
Sicherheit und ihren Komfort sterben.
Auch Serhii Hnesdilov, der Drohnenkommandant, sagt in Slowjansk, er
verstehe zwar die Furcht der Männer, an die Front zu gehen. „Aber ich kann
diejenigen, die dieser Furcht nachgeben und sich verstecken, nicht
respektieren.“ Hnesdilov sagt auch, dass er allen Männern nach dem Krieg
immer mit der Frage begegnen werde, wo sie während der Kämpfe waren. Viele
Soldat:innen sehen das wie er und schreiben das ins Internet. Man kann
allerdings auch genügend Zivilist:innen treffen, die so reden.
Wie viele Männer sich in der Ukraine vor dem Militärdienst verstecken,
lässt sich nicht seriös nachprüfen. Die Ämter, die für die Musterung und
Einberufung verantwortlich sind, gelten als rabiat und korrupt. Ihre
Rekrutierer sind an Checkpoints unterwegs, vor Einkaufszentren und in
U-Bahnhöfen. Wer Geld hat, kann versuchen, sich freizukaufen, andere
bekommen ihren Einberufungsbescheid ausgehändigt und haben dann manchmal
nur Stunden oder Tage Zeit, bis sie sich bei ihrer Einheit melden sollen.
Im Internet kursieren Videos von Männern, die andere Männer in Vans zerren
oder gewaltsam fortschleppen. Das sollen Rekrutierer sein, die besonders
brachial vorgehen. Die Behörden versprechen, in diesen Fällen zu ermitteln.
Sehr groß ist das Vertrauen in diese Zusagen nicht. In einem Dorf in der
Westukraine hat eine aufgebrachte Menge eine Frau und ihr Kind brutal
angegriffen. Die Angreifer:innen, darunter viele Frauen, hielten die
Attackierte für eine Beschäftigte der Einberufungsbehörden.
## Rekrutierung auf den Straßen
In Telegram-Kanälen wie „Wetter in Kyjiw“ warnen sich Menschen vor den
Rekrutierern, der Kanal hat knapp 65.000 Abonnenten. „Es regnet am Eingang
zu den Rusaniw-Gärten“, schreibt jemand am Nachmittag des 17. Februar.
Männer sollen sich dort also besser nicht blicken lassen. Wenn keine
Rekrutierer zu sehen sind, liest sich das so: „Chotiw, Tschabany, Novosilky
klar und ohne Niederschlag.“ Auch wegen des schlechten Rufs der Behörden
rekrutieren bekannte Militäreinheiten mit eigenen Veranstaltungen
inzwischen landesweit selbst.
Mehr als 650.000 ukrainische Männer im Alter von 18 bis 64 Jahren sind laut
der Statistikbehörde der EU in West- und Mitteleuropa als Flüchtlinge
registriert. Einer von denen, die die Ukraine inzwischen verlassen haben,
ist Roman. Das ist nicht sein richtiger Name, aber den möchte er auch nicht
in der Öffentlichkeit sehen. Er sagt, er fürchte die öffentliche Stimmung
in der Ukraine, es gebe Hetze gegen Leute wie ihn.
Wir sprechen wenige Tage vor seinem Grenzübertritt per Videoanruf
miteinander. Ich kenne seinen richtigen Namen, seine Accounts in
verschiedenen sozialen Medien. Roman ist 25 Jahre alt, seine Stimme klingt
jungenhaft, aber fest; er sagt gerne, dass er dieses oder jenes genau
analysiert habe, bevor er entscheide. Seine Familie besitzt Geld, Roman hat
für das ukrainische Fernsehen gearbeitet, er hätte auch die Chance gehabt,
in Istanbul zum Piloten ausgebildet zu werden.
## Geld für eine Attestierung von Dienstuntauglichkeit
Eigentlich dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine seit Februar
2022 nicht verlassen, aber es gibt ein paar legale und jede Menge illegale
Wege. Roman sagt, er habe 7.000 Dollar für ein medizinisches Dokument
bezahlt, das ihm eine Krankheit attestieren wird, mit der er
dienstuntauglich ist. Welche das sei, wisse er noch nicht. Außerdem müsse
er zu einer genau festgelegten Zeit an einem genau festgelegten
Grenzübergang sein. Er habe ein Arrangement mit Leuten von der
Grenzkontrolle. Die Polizist:innen einer bestimmten Schicht würden ihm
keine Schwierigkeiten machen.
Roman sagt, er habe gar nicht so viel Angst davor, an die Front zu müssen,
„davor wäre ich wahrscheinlich durch mein gekauftes Dokument geschützt. Ich
fürchte vielmehr den sozialen Krieg, nachdem der Krieg mit Russland zu Ende
ist.“ Er glaubt, dass die Männer, die als Soldaten gekämpft haben, sich als
eine neue Elite verstehen und nach politischer Macht greifen würden, wenn
das Kämpfen vorbei sei. In so einer Zukunft sehe er für sich keinen Platz.
Zurückkehren möchte er irgendwann trotzdem, weil „ich mir nur Kyjiw als
meine Heimatstadt vorstellen kann“. Roman denkt, mit Russland lasse sich
ein Deal aushandeln, ein Miteinander, in dem Angehörige der ukrainischen
Elite wie er von Vergeltung und Gewalt verschont würden. Roman sagt: „Wir
haben vor dem Maidan Geschäfte mit Russland gemacht, warum sollte das in
Zukunft nicht wieder möglich sein?“
Auf die Frage, ob er die Drohung der Moskauer Regierung, die Ukraine müsse
entukrainisiert werden, und ob er die Massaker an Zivilist:innen in
Butscha und anderen Städten nicht ernst nehme, antwortet Roman: Doch, das
tue er. Seine Familie besitze ein Haus bei Butscha und habe selbst den
Beschuss der russischen Artillerie gehört. Er sei ein Patriot. Aber man
müsse eben auch die spezielle Situation der Soldaten aus Russland sehen,
die geglaubt hätten, in der Ukraine freudig empfangen zu werden. „Natürlich
wurden die wütend, als sie angegriffen wurden.“
Wenige Tage nach unserem Gespräch überquert Roman die Grenze tatsächlich.
Wir schreiben uns, nachdem er in Polen angekommen ist. Seine Freundin und
er fahren einen langen Umweg durch Rumänien, sie posten im Internet Bilder
und Videos davon.
Es ist nicht allein das Geld, das Roman so anders auf die Ukraine blicken
lässt. Auch Yurii Nod, der Mann, der in Lwiw trainiert, hat viel Geld. In
seiner Werkstatt tunen, reparieren und putzen seine 17 Angestellten bei
einem Besuch nach dem Schießtraining einige teure Autos. Allein Nods
Ausrüstung, das Gewehr, die Schutzweste, das medizinische Equipment, hat
11.000 bis 14.000 Euro gekostet. Für zwei Trainingsstunden bezahlt er dem
kriegsverletzten Veteranen, der ihn unterrichtet, umgerechnet 72 Euro, für
jede verschossene Patrone 72 Cent.
Die Revolution auf dem Maidan, Russlands beständige Aggression und die
vielen Toten fordern Ukrainer:innen andauernde existenzielle
Auseinandersetzungen damit ab, welcher Gemeinschaft sie sich zugehörig
fühlen, was sie verteidigen wollen und wie viel sie bereit sind, dafür zu
opfern. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus, Geld ist nur ein
Faktor, selbst erlebte politische Kämpfe und familiäre Erfahrungen sind
andere.
Laut einer Anfang der vorletzten Februarwoche veröffentlichten Umfrage hat
sich die Zahl der Ukrainer:innen, die nicht an einen Sieg ihrer Armee
glauben, im Vergleich zum Sommer 2023 zwar von 3 auf 15 Prozent erhöht.
Aber 85 Prozent sind immer noch überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg
gewinnt. Alle ernst zu nehmenden Umfragen von Herbst 2023 bis Februar
dieses Jahres zeigen hohe Vertrauenswerte für die Armee und den
Präsidenten. Nicht einmal Roman, der bald weiter nach England oder in die
USA ziehen möchte, glaubt daran, Russland könnte die gesamte Ukraine
besetzen. Und auch bei „Wetter in Kyjiw“, dem Telegram-Kanal, der vor
Rekrutierern warnt, sammeln sie regelmäßig Geld für diejenigen, die
kämpfen.
## Sie sagen, irgendwann werden sie kämpfen müssen
In längeren Gesprächen mit knapp 20 anderen als den hier im Text zitierten
Menschen – darunter ein gelernter Kfz-Mechaniker, der in den Wäldern um
Kyjiw schießen übt, und eine Militärsanitäterin, die vor dem Interview
warnt, sie sei so traumatisiert, dass sie anfangen könnte zu weinen –
entsteht der Eindruck, die meisten Ukrainer:innen wollten gegen Russland
kämpfen, solange das Land weiterhin angreift. Viele Männer melden sich
nicht freiwillig bei der Armee. Aber sie gehen auch nicht weg, verstecken
sich nicht. Sie sagen, irgendwann würden auch sie kämpfen müssen und sie
würden sich dem trotz ihrer Angst stellen.
Vor der Infanterie fürchten sich viele. Kämpfer:innen, die zu Fuß unterwegs
sind, die Schützengräben einnehmen und verteidigen, stellen in so gut wie
jedem Militär das größte Kontingent. Sie braucht die ukrainische Armee am
meisten. Sie sterben häufiger und schneller als andere Soldat:innen.
Deshalb versuchen einige Männer sich zu spezialisieren. Sie lernen zum
Beispiel das Drohnenfliegen, um dort eingesetzt zu werden, wo es vielleicht
nicht ganz so gefährlich zugeht. Eine andere Angst ist, von einem unfähigen
Offizier befehligt zu werden, der seinen Posten durch Vetternwirtschaft
erhalten hat.
Das große Vertrauen in die aktiven Kämpfer:innen der Armee koexistiert
in der Ukraine mit dem krassen Misstrauen in oft als „sowjetisch“
bezeichnete Strukturen in eben dieser Armee. Yurii Nod, der Mann, der in
Lwiw trainiert, überlegt deswegen, gleich selbst Offizier zu werden, wofür
er noch jahrelang lernen müsste. Er sagt: „Ich habe Managementfähigkeiten,
ich lasse mich nicht von einem Trottel verheizen, dafür bin ich mir zu viel
wert.“
Am Ende seines Trainings auf dem februarkalten Platz in Lwiw gibt Nod
seinem Trainer noch ein zweites Mal die Gelegenheit, sich über ihn lustig
zu machen. Yurii Nod legt sich mit seinem Gewehr auf den Boden, um im
Liegen zu schießen. „Ich sehe nichts“, sagt er. „Mein Zielfernrohr ist
beschlagen.“ – „Keine Angst, Yurii“, sagt der Trainer und lacht. „Der…
wartet natürlich auf dich.“
25 Feb 2024
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