# taz.de -- Mobilisierung in der Ukraine: Wer muss in den Krieg? | |
> Zwei Jahre nach Russlands Invasion brauchen erschöpfte ukrainische | |
> Soldat:innen eine Pause. Unterwegs in einem Land, das sich gegenseitig | |
> mustert. | |
Bild: Demonstration in Kyjiw: Frauen fordern, dass Soldaten, die seit zwei Jahr… | |
KYJIW, LWIW UND SLOWJANSK taz | Bevor Yurii Nod weiterschießen darf, macht | |
sich sein Trainer erst einmal über ihn lustig. „Du bist alt und langsam“, | |
sagt der, als sich Nod hinkniet und sein Gewehr anlegt, um zu zielen, den | |
Kolben an der rechten Wange. „Du brauchst mehr Stretching.“ Yurii Nod | |
grinst und zielt nochmal, dieses Mal den Kolben links neben seinem Gesicht. | |
Er steht auf und rennt: einmal vom wellblechüberdachten Unterstand bis zur | |
Tonne in der Mitte des schneeverkrusteten Übungsplatzes und wieder zurück. | |
Dann schießt er. Kurz und scharf wie der Knall einer Peitsche hallt der | |
Schuss über das Feld. Die ausgeworfene Patronenhülse klimpert gegen das | |
Dach des Schützenstands und hoppelt ein paarmal über Beton. | |
46 Jahre ist Yurii Nod alt. Er müsste überhaupt nicht hier sein, in der | |
feuchten Kälte der ersten Februartage, die jedes unbedeckte Fleckchen Haut | |
findet, die Finger und Zehen nach Minuten durchfrostet; hier auf diesem | |
privaten Trainingsgelände in der Nähe von Lwiw, einer Großstadt im Westen | |
der Ukraine. Yurii Nod hat vier Kinder, davon drei jünger als 18 Jahre, er | |
müsste deshalb nicht in die Armee, für die es im Osten an der Front seit | |
einiger Zeit nicht gut läuft. | |
Kyjiws Gegenoffensive im Sommer und Herbst 2023 brachte hohe Verluste, aber | |
keine signifikanten Geländegewinne. Die westlichen Verbündeten liefern | |
nicht genug Munition. Die Kriegsführung hat sich wieder einmal verändert, | |
beide Armeen setzen Kamikazedrohnen ein, aber Russland hat mehr davon, | |
Artillerie sowieso. | |
Am 8. Februar wechselte Präsident Wolodymyr Selenskyj den in der | |
Bevölkerung beliebten [1][Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj] durch einen | |
unpopulären General aus. Nur wenige Tage später zog sich die ukrainische | |
Armee aus der seit knapp zehn Jahren gehaltenen Frontstadt Awdijiwka zurück | |
– eine herbe Niederlage. Und trotzdem sagt Yurii Nod, er wolle an die | |
Front. „Ich kann mir auch vorstellen, in einer Spezialeinheit zu arbeiten“, | |
sagt er nach dem Schießtraining beim Essen in seiner Lwiwer | |
Lieblingspizzeria, „in einer Einheit, die auf von Russland besetztem Gebiet | |
kämpft.“ | |
Nod spricht in dieser Pizzeria auch darüber, was die meisten Menschen in | |
der Ukraine zwei Jahre nach Russlands Angriff beschäftigt. Er glaubt nicht, | |
dass der Kampf mit dem großen Nachbar bald endet. Er sagt: „In zwei Jahren | |
werden wir immer noch Krieg haben. Mal sehen, wie der aussieht, vielleicht | |
wird es ein Stellungskrieg wie vor 2022.“ Von einem Sieg ist er trotzdem | |
überzeugt. Er sagt: „Es sind harte Zeiten, aber keine dunklen Zeiten.“ | |
Mit dem Bewusstsein, dass der Krieg wahrscheinlich noch lange dauert, geht | |
auch die Erkenntnis einher, dass dieser Krieg nicht allein mit den | |
Soldat:innen zu gewinnen ist, die sich nach der Invasion im Februar 2022 | |
freiwillig gemeldet haben. Die Ukrainer:innen reden darüber in den | |
Straßen, in Tram und Metro, in Kneipen, auf Facebook und Telegram. Im | |
Dezember 2023 hat Präsident Selenskyj gesagt, das Militär brauche 500.000 | |
neue Soldat:innen. Das betrifft vor allem die Männer. Frauen können | |
freiwillig zur Armee gehen. Die Regierung in Kyjiw hält die Zahlen der | |
toten ukrainischen Kämpfer:innen geheim, die New York Times schrieb im | |
vergangenen Sommer unter Berufung auf US-Regierungsbeamt:innen von etwa | |
70.000 Toten und bis zu 120.000 Verwundeten. | |
Im Dezember hat die ukrainische Regierung den [2][Entwurf für ein Gesetz] | |
ins Parlament eingebracht, das neu festlegen soll, wer unter welchen | |
Umständen zur Armee gehen muss und wer das Militär wann wieder verlassen | |
darf. Die erste Version wurde von den Abgeordneten unter anderem wegen | |
potenzieller Menschenrechtsverletzungen gleich wieder kassiert. Der Entwurf | |
enthielt empfindliche Strafen gegen Männer, die sich dem Militärdienst | |
entziehen, darunter den Ausschluss von staatlichen Leistungen und | |
Beschränkungen, über das eigene Vermögen zu verfügen. Ein geänderter | |
Entwurf passierte trotz einiger fortbestehender Bedenken Anfang Februar in | |
erster Lesung das Parlament. | |
Die Mobilisierung neuer Soldat:innen ist ein Verliererthema. Ukrainische | |
Politiker:innen wissen, dass sie sich damit nicht beliebt machen | |
können. Ein Teil ihrer potenziellen Wähler:innen hat Angst, sie selbst, | |
ihre Männer, ihre Verwandten müssten bald an die Front gehen. Andere | |
kämpfen seit zwei Jahren oder länger und wollen nach Hause. Die Zahl | |
500.000 wollte Präsident Selenskyj selbst gar nicht gesagt haben und schob | |
die Verantwortung dafür dem Militär zu. Der damalige Oberbefehlshaber | |
Saluschnyj wies das von sich, es folgte ein öffentlicher Schlagabtausch aus | |
dem Umfeld der beiden; vielleicht einer der Gründe für Saluschnyjs spätere | |
Demission. | |
## Drohnen und Raketen | |
An einem frühen Nachmittag im Februar umläuft Serhii Hnesdilov, 23 Jahre | |
alt und Kommandeur einer Drohneneinheit, Pfützen auf einer schlammigen | |
Nebenstraße am Rande von Slowjansk. Es ist dieselbe Woche, in der Yurii | |
Nod trainiert, aber hier über Slowjansk weit im Osten strahlt der Himmel | |
blau. Knapp 1.200 Kilometer, fast ein ganzes Land, liegen zwischen den | |
beiden Männern. | |
Yurii Nod schießt auf Zielscheiben aus Pappe, Serhii Hnesdilov sagt, er | |
wäre am Tag davor beinahe getötet worden. Grad-Raketen seien in seiner Nähe | |
eingeschlagen. „Ich konnte gerade noch so in einen Graben springen“, sagt | |
Hnesdilov. Dabei zieht er die Mundwinkel leicht nach oben, das macht er | |
ziemlich oft, in Deutschland würde man ihn in manchen Gegenden eine | |
Grinsebacke nennen. | |
Serhii Hnesdilov hat verboten, ihn an der Front zu besuchen, das sei zu | |
gefährlich. „Wir kommen nicht bei Tageslicht an die Front, wir können uns | |
nur in der Dämmerung bewegen. Drohnen beobachten alles, und wenn sich | |
tagsüber etwas rührt, kommt eine Drohne und zerstört das.“ | |
Slowjansk liegt je nach Messung 30 bis 40 Kilometer hinter der Front. | |
Hierher kommen ukrainische Soldat:innen, um einzukaufen, sich mit | |
Freund:innen und Geliebten zu treffen. Hnesdilov will sich die Haare | |
schneiden lassen. Ein Mann öffnet ein braunes Tor in einem ebenso braunen | |
Zaun, er lotst Hnesdilov vorbei an Gartengeräten in sein Einfamilienhaus, | |
im Flur hängt ein rot und braun bemaltes Papierskelett, Puzzles mit | |
Weihnachtslandschaften kleben an nackten Wänden. Serhii Hnesdilov setzt | |
sich auf einen Friseurstuhl in einem Raum, der mal ein Wohnzimmer war. Das | |
sagt jedenfalls der Mann, der jetzt Schere und Rasierer in der Hand hat. | |
Hnesdilov sagt, es gebe zu wenige Friseure in der Stadt, und der Besitzer | |
dieses Hauses habe deswegen ein Geschäft aufgemacht. | |
Während ihm die Haare geschnitten werden und bei einem Restaurantbesuch | |
erzählt Hnesdilov von seinem Zorn. „Ich bin wütend, weil die Regierung noch | |
immer keine transparenten Gesetzen erlassen hat, Gesetze, die für alle | |
gelten.“ So, wie er es sieht, ruhen sich zu viele Menschen in der Ukraine | |
darauf aus, dass Männer wie er das Land verteidigen und dabei sterben. Er | |
sagt, viele Ukrainer:innen würden so tun, als kämpften nur | |
professionelle Soldat:innen, Menschen, deren Beruf das Töten und Sterben | |
sei. | |
„Aber die meisten von uns sind Zivilpersonen, die sich nur deshalb | |
freiwillig gemeldet haben, weil Russland uns keinen anderen Ausweg lässt, | |
als zu kämpfen.“ Hnesdilov hat sich 2019 vertraglich zum Militärdienst | |
verpflichtet, vorher hat er Journalismus studiert und ein Kunstfestival in | |
der Gegend von Odessa organisiert. Da kommt er ursprünglich her. Er sagt: | |
„Ich möchte ausgewechselt werden, ich gehöre hier so wenig hin wie alle | |
anderen, ich bin müde.“ | |
## Frage der Fairness | |
Die [3][Frage der Fairness], die nach einer irgendwie gerechten Verteilung | |
der Schrecken des Krieges in der Ukraine, stellen nicht nur Soldat:innen | |
wie Serhii Hnesdilov. Eine kleine, aber gut organisierte Bewegung von | |
Frauen demonstriert dafür, dass ihre Männer, Brüder, Söhne möglichst bald | |
die Armee verlassen dürfen. Am 28. Januar und am 11. Februar versammeln | |
sich jeweils mehr als 100 Frauen auf dem zentralen Platz in Kyjiw, dem | |
Maidan, sie rufen: „Helden sind keine Sklaven!“, und: „Das ganze Land ist | |
für den Sieg verantwortlich!“ Es ist ihre sechste und siebte Demonstration, | |
sie protestieren seit dem Herbst. | |
Organisiert hat diese Versammlung zusammen mit ein paar anderen Frauen | |
Anastasiia Bulba, 37, im Gebiet des heutigen Russlands geboren, auf der | |
ukrainischen Krim aufgewachsen. Sie wohnt in einem Dorf nahe der | |
Hauptstadt, 25 Minuten braucht sie mit der Marschrutka, einem Sammeltaxi, | |
dorthin. Sie hat mal Forst- und Parkwirtschaft studiert, dann mit ihrem | |
Mann eine Manufaktur für Matratzen aufgemacht. Er ist Soldat in einer | |
Logistikeinheit, und Anastasiia Bulba wartet jeden Morgen bis 11 Uhr auf | |
die Bestätigung im Signal-Messenger, dass er ihre Nachrichten gelesen hat. | |
Wenn nicht, ruft sie die Frauen seiner Kameraden an, so haben sie es | |
vereinbart. | |
Bulba sagt, und das sagen andere Frauen auf dem Maidan auch, sie | |
demonstriere nicht gegen den Krieg. Sie halten die Verteidigung gegen | |
Russland für alternativlos. Das Nachbarland habe angegriffen und könne den | |
Krieg nur selbst beenden. „Aber die ukrainische Regierung und die | |
Gesellschaft haben aus unseren Männern Helden gemacht, die angeblich | |
unzerstörbar sind“, sagt Anastasiia Bulba. Diese Verheldung sei eine Form | |
der Entmenschlichung. „Unsere Männer werden krank, sie werden verletzt, sie | |
sterben.“ | |
Viele dieser Männer haben sich gleich nach der Invasion zum Militär | |
gemeldet und hatten seitdem kaum einmal Zeit, sich zu erholen. Sie müssten | |
endlich durch andere ersetzt werden, fordert Bulba. „Jeder wird in der | |
Armee dienen“, rufen die Frauen, als sie vom Maidan aus den Chreschtschatyk | |
hinunterlaufen, die große mehrspurige Straße im Kyjiwer Stadtzentrum. | |
Manche, denen sie dabei begegnen, schauen freundlich, andere erschrocken, | |
insbesondere Männer. | |
Fragt man Frauen aus dem Demonstrationszug, wie sie die Männer sehen, die | |
in Kyjiw und anderen Städten einkaufen oder ins Fitnessstudio gehen, dann | |
schimpfen einige, es fallen Beleidigungen wie „Ziegenböcke“ und | |
„Feiglinge“. „Negativ“, ist Anastasiia Bulbas knappe Antwort auf die Fr… | |
wie sie gesunde Männer sieht, die nicht zum Militär gehen. Aus Bulbas Sicht | |
nehmen sie ihre Verantwortung nicht wahr und lassen andere für ihre | |
Sicherheit und ihren Komfort sterben. | |
Auch Serhii Hnesdilov, der Drohnenkommandant, sagt in Slowjansk, er | |
verstehe zwar die Furcht der Männer, an die Front zu gehen. „Aber ich kann | |
diejenigen, die dieser Furcht nachgeben und sich verstecken, nicht | |
respektieren.“ Hnesdilov sagt auch, dass er allen Männern nach dem Krieg | |
immer mit der Frage begegnen werde, wo sie während der Kämpfe waren. Viele | |
Soldat:innen sehen das wie er und schreiben das ins Internet. Man kann | |
allerdings auch genügend Zivilist:innen treffen, die so reden. | |
Wie viele Männer sich in der Ukraine vor dem Militärdienst verstecken, | |
lässt sich nicht seriös nachprüfen. Die Ämter, die für die Musterung und | |
Einberufung verantwortlich sind, gelten als rabiat und korrupt. Ihre | |
Rekrutierer sind an Checkpoints unterwegs, vor Einkaufszentren und in | |
U-Bahnhöfen. Wer Geld hat, kann versuchen, sich freizukaufen, andere | |
bekommen ihren Einberufungsbescheid ausgehändigt und haben dann manchmal | |
nur Stunden oder Tage Zeit, bis sie sich bei ihrer Einheit melden sollen. | |
Im Internet kursieren Videos von Männern, die andere Männer in Vans zerren | |
oder gewaltsam fortschleppen. Das sollen Rekrutierer sein, die besonders | |
brachial vorgehen. Die Behörden versprechen, in diesen Fällen zu ermitteln. | |
Sehr groß ist das Vertrauen in diese Zusagen nicht. In einem Dorf in der | |
Westukraine hat eine aufgebrachte Menge eine Frau und ihr Kind brutal | |
angegriffen. Die Angreifer:innen, darunter viele Frauen, hielten die | |
Attackierte für eine Beschäftigte der Einberufungsbehörden. | |
## Rekrutierung auf den Straßen | |
In Telegram-Kanälen wie „Wetter in Kyjiw“ warnen sich Menschen vor den | |
Rekrutierern, der Kanal hat knapp 65.000 Abonnenten. „Es regnet am Eingang | |
zu den Rusaniw-Gärten“, schreibt jemand am Nachmittag des 17. Februar. | |
Männer sollen sich dort also besser nicht blicken lassen. Wenn keine | |
Rekrutierer zu sehen sind, liest sich das so: „Chotiw, Tschabany, Novosilky | |
klar und ohne Niederschlag.“ Auch wegen des schlechten Rufs der Behörden | |
rekrutieren bekannte Militäreinheiten mit eigenen Veranstaltungen | |
inzwischen landesweit selbst. | |
Mehr als 650.000 ukrainische Männer im Alter von 18 bis 64 Jahren sind laut | |
der Statistikbehörde der EU in West- und Mitteleuropa als Flüchtlinge | |
registriert. Einer von denen, die die Ukraine inzwischen verlassen haben, | |
ist Roman. Das ist nicht sein richtiger Name, aber den möchte er auch nicht | |
in der Öffentlichkeit sehen. Er sagt, er fürchte die öffentliche Stimmung | |
in der Ukraine, es gebe Hetze gegen Leute wie ihn. | |
Wir sprechen wenige Tage vor seinem Grenzübertritt per Videoanruf | |
miteinander. Ich kenne seinen richtigen Namen, seine Accounts in | |
verschiedenen sozialen Medien. Roman ist 25 Jahre alt, seine Stimme klingt | |
jungenhaft, aber fest; er sagt gerne, dass er dieses oder jenes genau | |
analysiert habe, bevor er entscheide. Seine Familie besitzt Geld, Roman hat | |
für das ukrainische Fernsehen gearbeitet, er hätte auch die Chance gehabt, | |
in Istanbul zum Piloten ausgebildet zu werden. | |
## Geld für eine Attestierung von Dienstuntauglichkeit | |
Eigentlich dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine seit Februar | |
2022 nicht verlassen, aber es gibt ein paar legale und jede Menge illegale | |
Wege. Roman sagt, er habe 7.000 Dollar für ein medizinisches Dokument | |
bezahlt, das ihm eine Krankheit attestieren wird, mit der er | |
dienstuntauglich ist. Welche das sei, wisse er noch nicht. Außerdem müsse | |
er zu einer genau festgelegten Zeit an einem genau festgelegten | |
Grenzübergang sein. Er habe ein Arrangement mit Leuten von der | |
Grenzkontrolle. Die Polizist:innen einer bestimmten Schicht würden ihm | |
keine Schwierigkeiten machen. | |
Roman sagt, er habe gar nicht so viel Angst davor, an die Front zu müssen, | |
„davor wäre ich wahrscheinlich durch mein gekauftes Dokument geschützt. Ich | |
fürchte vielmehr den sozialen Krieg, nachdem der Krieg mit Russland zu Ende | |
ist.“ Er glaubt, dass die Männer, die als Soldaten gekämpft haben, sich als | |
eine neue Elite verstehen und nach politischer Macht greifen würden, wenn | |
das Kämpfen vorbei sei. In so einer Zukunft sehe er für sich keinen Platz. | |
Zurückkehren möchte er irgendwann trotzdem, weil „ich mir nur Kyjiw als | |
meine Heimatstadt vorstellen kann“. Roman denkt, mit Russland lasse sich | |
ein Deal aushandeln, ein Miteinander, in dem Angehörige der ukrainischen | |
Elite wie er von Vergeltung und Gewalt verschont würden. Roman sagt: „Wir | |
haben vor dem Maidan Geschäfte mit Russland gemacht, warum sollte das in | |
Zukunft nicht wieder möglich sein?“ | |
Auf die Frage, ob er die Drohung der Moskauer Regierung, die Ukraine müsse | |
entukrainisiert werden, und ob er die Massaker an Zivilist:innen in | |
Butscha und anderen Städten nicht ernst nehme, antwortet Roman: Doch, das | |
tue er. Seine Familie besitze ein Haus bei Butscha und habe selbst den | |
Beschuss der russischen Artillerie gehört. Er sei ein Patriot. Aber man | |
müsse eben auch die spezielle Situation der Soldaten aus Russland sehen, | |
die geglaubt hätten, in der Ukraine freudig empfangen zu werden. „Natürlich | |
wurden die wütend, als sie angegriffen wurden.“ | |
Wenige Tage nach unserem Gespräch überquert Roman die Grenze tatsächlich. | |
Wir schreiben uns, nachdem er in Polen angekommen ist. Seine Freundin und | |
er fahren einen langen Umweg durch Rumänien, sie posten im Internet Bilder | |
und Videos davon. | |
Es ist nicht allein das Geld, das Roman so anders auf die Ukraine blicken | |
lässt. Auch Yurii Nod, der Mann, der in Lwiw trainiert, hat viel Geld. In | |
seiner Werkstatt tunen, reparieren und putzen seine 17 Angestellten bei | |
einem Besuch nach dem Schießtraining einige teure Autos. Allein Nods | |
Ausrüstung, das Gewehr, die Schutzweste, das medizinische Equipment, hat | |
11.000 bis 14.000 Euro gekostet. Für zwei Trainingsstunden bezahlt er dem | |
kriegsverletzten Veteranen, der ihn unterrichtet, umgerechnet 72 Euro, für | |
jede verschossene Patrone 72 Cent. | |
Die Revolution auf dem Maidan, Russlands beständige Aggression und die | |
vielen Toten fordern Ukrainer:innen andauernde existenzielle | |
Auseinandersetzungen damit ab, welcher Gemeinschaft sie sich zugehörig | |
fühlen, was sie verteidigen wollen und wie viel sie bereit sind, dafür zu | |
opfern. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus, Geld ist nur ein | |
Faktor, selbst erlebte politische Kämpfe und familiäre Erfahrungen sind | |
andere. | |
Laut einer Anfang der vorletzten Februarwoche veröffentlichten Umfrage hat | |
sich die Zahl der Ukrainer:innen, die nicht an einen Sieg ihrer Armee | |
glauben, im Vergleich zum Sommer 2023 zwar von 3 auf 15 Prozent erhöht. | |
Aber 85 Prozent sind immer noch überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg | |
gewinnt. Alle ernst zu nehmenden Umfragen von Herbst 2023 bis Februar | |
dieses Jahres zeigen hohe Vertrauenswerte für die Armee und den | |
Präsidenten. Nicht einmal Roman, der bald weiter nach England oder in die | |
USA ziehen möchte, glaubt daran, Russland könnte die gesamte Ukraine | |
besetzen. Und auch bei „Wetter in Kyjiw“, dem Telegram-Kanal, der vor | |
Rekrutierern warnt, sammeln sie regelmäßig Geld für diejenigen, die | |
kämpfen. | |
## Sie sagen, irgendwann werden sie kämpfen müssen | |
In längeren Gesprächen mit knapp 20 anderen als den hier im Text zitierten | |
Menschen – darunter ein gelernter Kfz-Mechaniker, der in den Wäldern um | |
Kyjiw schießen übt, und eine Militärsanitäterin, die vor dem Interview | |
warnt, sie sei so traumatisiert, dass sie anfangen könnte zu weinen – | |
entsteht der Eindruck, die meisten Ukrainer:innen wollten gegen Russland | |
kämpfen, solange das Land weiterhin angreift. Viele Männer melden sich | |
nicht freiwillig bei der Armee. Aber sie gehen auch nicht weg, verstecken | |
sich nicht. Sie sagen, irgendwann würden auch sie kämpfen müssen und sie | |
würden sich dem trotz ihrer Angst stellen. | |
Vor der Infanterie fürchten sich viele. Kämpfer:innen, die zu Fuß unterwegs | |
sind, die Schützengräben einnehmen und verteidigen, stellen in so gut wie | |
jedem Militär das größte Kontingent. Sie braucht die ukrainische Armee am | |
meisten. Sie sterben häufiger und schneller als andere Soldat:innen. | |
Deshalb versuchen einige Männer sich zu spezialisieren. Sie lernen zum | |
Beispiel das Drohnenfliegen, um dort eingesetzt zu werden, wo es vielleicht | |
nicht ganz so gefährlich zugeht. Eine andere Angst ist, von einem unfähigen | |
Offizier befehligt zu werden, der seinen Posten durch Vetternwirtschaft | |
erhalten hat. | |
Das große Vertrauen in die aktiven Kämpfer:innen der Armee koexistiert | |
in der Ukraine mit dem krassen Misstrauen in oft als „sowjetisch“ | |
bezeichnete Strukturen in eben dieser Armee. Yurii Nod, der Mann, der in | |
Lwiw trainiert, überlegt deswegen, gleich selbst Offizier zu werden, wofür | |
er noch jahrelang lernen müsste. Er sagt: „Ich habe Managementfähigkeiten, | |
ich lasse mich nicht von einem Trottel verheizen, dafür bin ich mir zu viel | |
wert.“ | |
Am Ende seines Trainings auf dem februarkalten Platz in Lwiw gibt Nod | |
seinem Trainer noch ein zweites Mal die Gelegenheit, sich über ihn lustig | |
zu machen. Yurii Nod legt sich mit seinem Gewehr auf den Boden, um im | |
Liegen zu schießen. „Ich sehe nichts“, sagt er. „Mein Zielfernrohr ist | |
beschlagen.“ – „Keine Angst, Yurii“, sagt der Trainer und lacht. „Der… | |
wartet natürlich auf dich.“ | |
25 Feb 2024 | |
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Daniel Schulz | |
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