# taz.de -- Russischer Vormarsch auf Region Charkiw: Verjagt aus ihren Häusern | |
> Die russische Armee ist ins Gebiet Charkiw einmarschiert. Freiwillige und | |
> Soldaten evakuieren die Dorfbewohner und bringen sie in Sicherheit. | |
Bild: Tamara wurde mit ihren drei Kindern und ihrer 76-jährigen Mutter von Fre… | |
„Ich denke, wir halten durch“, sagt Lidija Iwanowna. Die 83 Jahre alte Frau | |
kommt aus dem Dorf Wowtschanski Chutory nördlich von Charkiw, gerade einmal | |
zwei Kilometer von der russischen Grenze entfernt. „Ich selbst bin schon | |
alt. Aber unsere jungen Leute – die werden durchhalten. Ukrainer sind | |
fleißig und stark“, sagt sie der taz. Lidija Iwanowna redet sich Mut zu. | |
Dabei musste sie selbst bereits ihr Dorf verlassen. Am frühen Freitagmorgen | |
marschierte die russische Armee erneut im Gebiet Charkiw ein und zerstörte | |
dabei alle Dörfer, durch die sie kam. | |
Iwanowna geht langsam über den Schulhof, wo sie Zuflucht gefunden hat. Mit | |
beiden Händen hält sie einen Pappteller mit Grütze, den sie von | |
freiwilligen Helfern bekommen hat. Die Grütze bringt sie ihrem | |
„Leidensgenossen“, wie sie ihn nennt, einem 86 Jahre alten Mann, der aus | |
Wowtschansk evakuiert wurde. Traurig beginnt er zu essen. | |
[1][Die russische Armee hat eine neue Frontlinie nördlich von Charkiw | |
eröffnet.] Wer kann, flieht. Freiwillige Helfer und Polizisten helfen | |
ihnen, nach Charkiw zu gelangen, zunächst in ein Regionalzentrum für | |
Binnenflüchtlinge. Dort werden sie mit dem Notwendigsten versorgt, bevor | |
sie auf Wohnheime in der Stadt oder sichere Gegenden außerhalb gebracht | |
werden. Allein an zwei Tagen sind 3.000 Menschen in einer ehemaligen Schule | |
am Stadtrand von Charkiw untergebracht worden. Es sind vor allem alte | |
Menschen, Behinderte und kinderreiche Familien. Lidija Iwanowna ist eine | |
von ihnen. | |
Der Schulhof erinnert dieser Tage an einen großen Bahnhof. Überall sitzen | |
Menschen, viele einfach auf dem Rasen oder auf Kinderstühlen, mit dem, was | |
sie vor den russischen Bombardierungen noch haben retten können. Lidija | |
Iwanowna konnte nur eine kleine Tasche mit persönlichen Dingen und ihren | |
kleinen Hund mitnehmen. Als der Beschuss losging, holte ihr Neffe, ein | |
Polizist, sie am Samstagmorgen ab. Zum Packen habe sie nur zwei Minuten | |
Zeit gehabt. | |
## 83 Jahre alt und obdachlos | |
„Ich hatte Angst“, erzählt Iwanowa weiter. Vor den Kugeln, den Bomben. | |
„Gott sei Dank sind wir noch rausgekommen. Von unserem Dorf ist nichts mehr | |
übrig. Sie haben alles zerstört.“ Warum weiter Bomben abgeworfen würden, | |
versteht sie nicht – es sei doch gar nichts mehr da. „Wer weiß schon, warum | |
sie uns all das antun. Früher haben sie hier bei uns in Wowtschansk | |
eingekauft: Kartoffeln, Gurken. Sie haben selber nichts.“ Dann bricht die | |
Bitterkeit aus ihr heraus: „Ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll. Es | |
sind keine Menschen!“ Iwanowa ist 83 Jahre alt und obdachlos. | |
Sie ist nicht die Einzige, die die Fragen der Journalisten bereitwillig | |
beantwortet. Die Menschen sind verstört, haben Angst, aber offenbar auch | |
die Hoffnung, dass es ihnen hilft, wenn sie ihre Geschichten erzählen. Und | |
sie erzählen sie alle ausnahmslos auf Ukrainisch. Trotz der geografischen | |
Nähe zu Russland, trotz all der gegenteiligen Behauptungen der russischen | |
Propaganda. | |
Die 44-jährige Tamara wurde mit ihren drei Kindern und ihrer 76-jährigen | |
Mutter von Freiwilligen aus dem Dorf Bilyj Kolodjas evakuiert, etwa 15 | |
Kilometer von der Grenze entfernt. 48 Stunden lang habe sie nicht | |
geschlafen, erzählt sie. Seit Freitag, als die russischen Soldaten erneut | |
ins Gebiet Charkiw einmarschierten, steht das Dorf unter Dauerbombardement. | |
„Es ist jetzt schlimmer als 2022. Die Flugzeuge, die Zerstörungen.“ Vor | |
allem die Kinder seien total verängstigt. „Meine Tochter kann gar nichts | |
mehr sagen, sie muss dann immer sofort weinen“, sagt Tamara traurig. | |
Mitnehmen konnte die Familie nur ein paar persönliche Dinge und die drei | |
Katzen. | |
## Unerträgliche Ruhe | |
Im Schulgebäude lassen sich die Menschen registrieren. Es ist sehr voll, | |
die Luft ist schlecht. Die meisten Menschen hier sind über 70, viele gehen | |
an Krücken. Niemand drängelt oder schimpft. Alle warten ruhig darauf, dass | |
sie an der Reihe sind. Einige der alten Menschen sitzen am Rand und weinen. | |
Psychologen von Freiwilligenorganisationen und Rettungskräfte versuchen, | |
sie zumindest ein bisschen zu unterstützen. | |
Eine alte Frau im Rollstuhl stellt sich als „Oma Lena“ vor. Die 85-Jährige | |
hat einen hellen, klaren Blick und spricht ruhig und unaufgeregt, wie es | |
nur alte Menschen mit viel Lebenserfahrung können. Sie kommt aus der | |
[2][Stadt Wowtschansk]. Seit einem Oberschenkelhalsbruch vor drei Jahren | |
ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. „Die ganze Nacht über wurde unser | |
Dorf beschossen“, erzählt sie. „Heute Morgen gab es ganz in der Nähe mein… | |
Hofes dann zwei Explosionen. Gerade, als ich ins Auto stieg.“ | |
„Ich habe mein Hündchen zurückgelassen und mein Kätzchen“, erzählt sie | |
weiter. „Aber ich musste gehen, denn so einen Tod möchte man nicht sterben. | |
Was haben wir ihnen getan, dass sie sich uns gegenüber so verhalten? Wie | |
viele Kinder, wie viele Soldaten sind schon gestorben?“, fragt Oma Lena mit | |
einer Ruhe, die man kaum erträgt. Es wäre gefährlich, sagt sie weiter, zu | |
denken, man könne einfach abwarten, bis sich die Lage wieder beruhigt. | |
## Niemand will unter russischer Besatzung leben | |
Auch der 52-jährige Sergei aus dem Dorf Bilyj Kolodjas erzählt, dass die | |
russische Armee Bomben auf Wohnviertel in seinem Dorf abgeworfen hat. Fast | |
alle Häuser in seiner Straße seien zerstört worden. „Der Beschuss war sehr, | |
sehr stark. 2022 und 2023 war es bei uns im Vergleich dazu ruhig. Die halbe | |
Straße wurde durch eine gelenkte Fliegerbombe zerstört“, erzählt er. | |
Alle, mit denen die taz spricht, wollen nach Hause zurück, allerdings nur, | |
wenn die Ukraine den Krieg gewinnt. Niemand will [3][unter russischer | |
Besatzung] leben. | |
Zur gleichen Zeit bringt die russische Armee Nachschub an Munition und | |
gepanzerten Fahrzeugen an die Front, um ihren Brückenkopf zu erweitern. | |
Währenddessen versucht das ukrainische Militär, den Vormarsch der | |
russischen Besatzungsarmee in der Nähe der Dörfer Pylna, Striletscha und | |
Boryssiwka im Norden des Gebietes Charkiw zu stoppen. Dort finden | |
erbitterte Kämpfe statt. In der Stadt Charkiw ist es derzeit ruhig. Es ist | |
wahrscheinlich die Ruhe vor dem Sturm. | |
Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
12 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Juri Larin | |
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