# taz.de -- Mein Vormieter Max Anschel (6): Das Leben im Nazinest nach dem Krieg | |
> Max Anschel kam ins KZ, weil Nachbarn ihn im Luftschutzkeller anzeigten. | |
> Seine Frau lebte noch 20 Jahre in dem Haus, Seite an Seite mit den | |
> Denunzianten. | |
Bild: Dahinten war der Luftschutzkeller: Der Hof des Hauses an der Elisabethkir… | |
Das Bittschreiben an Heinrich Himmler | |
Dieser Brief ist eine echte Überraschung – schon wegen des Adressaten. Ein | |
Jahr nachdem Max Anschel nach Auschwitz deportiert wurde, schreibt seine | |
Frau Anna Anschel an [1][Heinrich Himmler. Der Mann, der als Reichsführer | |
SS] und zu der Zeit auch Reichsinnenminister die zentrale Instanz der | |
Judenvernichtung war, ist ihre letzte Hoffnung. Und ihm schildert sie die | |
Geschichte, wie ihr Mann von einem Nachbarn denunziert wurde – und so ins | |
KZ kam. | |
Heute finde ich den Mut, Ew. Exzellens um Gnade für meine Mann Max Israel | |
Anschel zu bitten. | |
So beginnt Anna Anschel ihren Brief. Und schon dieser erste Satz ist ein | |
Akt verzweifelter Unterwürfigkeit. Sie nennt ihren Mann mit dem zweiten | |
Vornamen „Israel“, den er als Jude zwangsweise tragen musste. | |
Mein Mann, mein Mädchen und ich hielten uns bis zum November 1943 bei | |
Fliegeralarm in dem unteren Kellergang des Hauses, von dem rechts und links | |
insgesamt 7 Türen abgehen, die zu Wohnungen führen, auf, | |
schreibt Anna Anschel weiter. Erst als die Heftigkeit der feindlichen | |
Angriffe zugenommen hatte, habe sie ihren Mann gebeten, mit ihr in den | |
besser befestigen Luftschutzkeller zu gehen. | |
Als wir das taten, bedrohte mich der Luftschutzwart mit Anzeigen, weil wir | |
„vorn“ bleiben sollten“, | |
schreibt Anna Anschel an Himmler. | |
Am 15.1.1944 klingelte es an unser Wohnungstür. Der Luftschutzwart erklärte | |
mir persönlich: „Ich habe Polizeigewalt. Sie müssen in den | |
Hausluftschutzkeller. Ihr Mann und ihr Kind, falls sie im Hause sind, | |
dürfen weder in den Keller noch in der Wohnung verbleiben, sondern haben | |
sich unter meiner Aufsicht aufzuhalten. Bewegen sie sich nicht nach meinen | |
Vorschriften, gibt es eine Anzeige.“ | |
Von dieser Zeit an holte der Luftschutzwart sofort zu Beginn des Alarms | |
meinen Mann mit den Worten: „kommen Sie nach vorn“ aus dem Keller. Dort | |
liess er ihn von Anfang bis Ende des Alarms stehen, ohne, dass je ein | |
Kontrollgang gemacht wurde. | |
Vor einem erneuten Luftalarm habe sie sich sogar von der Kommandostelle der | |
Luftschutzpolizei bestätigen lassen, dass dieses Vorgehen unzulässig sei, | |
schreibt Anna Anschel an Himmler. Aber der Luftschutzwart Krüger und der | |
Selbstschutztruppführer Klatt hätten dennoch Anzeige erstattet, dass der | |
„Jude Anschel Kontrollgänge verweigert habe“ – nur weil er sich einmal | |
geweigert habe „nach vorne“ zu gehen. Dabei, betont seine Frau, habe sich | |
ihr Mann nie gegen Kontrollgänge gewehrt. | |
Bei den Löscharbeiten um das Kino „Harmonie“ in der Invalidenstraße hat | |
sich mein Mann betätigt. Auch alle sonst vorkommenden Arbeiten im | |
Luftschutzkeller hat er mit ausgeführt. | |
Wenig später wurde Max Anschel als Folge der Anzeige von der Gestapo | |
verhaftet. In ihrem im Juni 1945 verfassten Lebenslauf schreibt Anna | |
Anschel: | |
Nun kam der Februar 1944. 2 Gestapobeamten holten eines Abends meinen Mann. | |
Am anderen Tage ging ich zur Gestapo. Der Sachbearbeiter Schwöbl – ein | |
berüchtigter Sadist und Schläger – sagte mir persönlich: | |
„Ich habe soeben ihren Mann wegen Feindbegünstigung verhaftet, da er | |
Kontrollgänge verweigert hat. Die Zeugen sind der Parteigenosse Klatt und | |
Krüger. Ihr Mann hat bereits gestanden. Sie können sich ja denken, was | |
einem Staatsfeinde blüht. Warum sind sie noch nicht von den Juden | |
geschieden?“ | |
Antwort: „Ich sehe ja in meinem Mann nicht den Juden, sondern meinen Mann.“ | |
Schwöbl: „Rauss Sie Judenhure! Dass ich sie nicht noch verhafte!“ | |
Mein Mann kam ins Reichsarbeitserziehungslager Wartenberg unter S.S. | |
Hauptsturmführer Weber – der die Leute glatt hungern liess. Alles, was ich | |
an Lebensmittel hatte, sandte ich meinem Manne. Auch besuchte ich ihm | |
heimlich. Eine schwere Flecktyphuserkrankung erfasste meinem lieben Mann. | |
Von seiner schweren Krankheit kaum genesen, kam er ins Polizeigefängnis. | |
Durch einen Zufall erfuhr ich davon. Nach grosser Bemühung bekam ich | |
Sprecherlaubnis. Mein Mann erzählte mir schweren Herzens, dass er einen | |
langen vorgedruckten Bogen unterschreiben musste, worin mit Tinte | |
ausgefüllt stand, dass er durch seine staatsfeindliche Haltung dem Feinde | |
Vorschub leistete und dadurch die Anordnungen des Staates sabotierte. | |
Deshalb hat er als Staatsfeind in Sicherheitsverwahrung zu verbleiben. | |
Ein letztes Treffen im Keller der Polizei | |
Einen im Polizeigefängnis diensthabenden Beamten bestach ich. (…) Eines | |
Abends liess mich der Beamte Müller in ein Kellerloch blicken. Ein Keller | |
ohne Fenster, ohne Sitz- oder Schlafgelegenheit. Auf dem Steinboden lag | |
mein Mann, ein an Typhus sehwer erkrankt gewesener 57-jähriger Mensch. | |
Leise rief ich: „Männe!“ Mein Mann erschrak sehr und ebenso leise kam es | |
zurück: „Liebling gehe.“ | |
Durch den Beamten konnte ich ihm auch noch Worte des Trostes senden und | |
bat, doch auszuhalten, da doch die Stunde der Befreiung endlich bald kommen | |
müsste. Auch er sandte mir liebe, tröstende Worte. | |
Eines Tages war er nicht mehr da. Aus Auschwitz bekam ich später Nachricht. | |
Ich sandte ihm an Lebensmittel, was ich nur entbehren konnte, im Dezember | |
auch noch Winterkleidung. Seit dem 22.10.1944 bin ich ohne Nachricht. Nun | |
suche und frage ich überall nach. Oft bin ich ganz verzagt. | |
Der Luftschutzkeller im Nachbarhaus | |
In den verschieden Schriftstücken, die in den Mappen des Landesarchivs | |
abgeheftet sind, finden sich immer wieder Details, die den Ablauf | |
plastisch, nachvollziehbar machen. | |
An einer Stelle wird beiläufig erwähnt, dass der Luftschutzkeller unter der | |
Brunnenstraße 169 lag. Das dortige Haus teilt sich mit dem Wohnhaus der | |
Anschels einen gemeinsamen Hinterhof. | |
Dort wohnt seit vielen Jahren der Eventmanager Christian Anslinger, den ich | |
mal bei einem Kulturprojekt kennengelernt hatte. Er kennt sich aus mit | |
Kellern – vor allem mit solchen, die seit den frühen 1990er Jahren von der | |
Technoszene für Partys genutzt wurden. Christian drückt mir das großartige | |
[2][Fotobuch „Temporary Spaces“ in die Hand, für das der Fotograf Martin | |
Eberle] die häufig illegal genutzten Räume vieler Clubs dokumentiert hat. | |
Darunter der „Eimer“ und der „Club 4 Chunk“, die von hier nur ein paar | |
hundert Meter die Straße runter lagen. Aber das ist eine völlig andere | |
Schicht der neuen Berliner Stadtgeschichte. | |
In seinem Wohnhaus war er schon lange nicht mehr im Keller. „Das ist | |
ekelig“, warnt Christian, „alles voller Ratten.“ Von einem Luftschutzkell… | |
dort unten weiß er nichts. Aber er gibt mir den Schlüssel, damit ich selber | |
nachschauen kann. | |
Die Treppe führt vom Hof in modrig riechende, flache Gänge. Zum Glück ist | |
von den Ratten nichts zu sehen. In einer Ecke wächst ein großer Pilz. Hier | |
und da steht Gerümpel, ein paar neuer wirkende Leitungen und Rohre lassen | |
erkennen, dass hier nicht alles seit Jahrzehnten unberührt geblieben ist. | |
Die Verschläge haben, wenn überhaupt, Holztüren. Nur einer nicht. Er hat | |
eine Stahltür, die sich von innen und außen mit großen Hebeln verriegeln | |
ließe. Bin ich hier richtig? | |
Auf der Innenseite ist eine Plakette angebracht. „Fr. Richardt Stahlbau | |
Hameln/Weser“ steht darauf. Und etwas kleiner darunter: „Vertrieb gem. §8 | |
Luftsch.-Ges. genehmigt“. Ja, ich bin fündig geworden. | |
Das Luftschutzgesetz wurde von den Nazis bereits im Jahr 1935 erlassen – es | |
wurde dokumentiert [3][in der Zeitschrift Gasschutz und Luftschutz vom Juli | |
1935]. Diese Zeitschrift für das gesamte Gebiet des Gas- und Luftschutzes | |
der Zivilbevölkerung, wie sie im Untertitel hieß, erschien bereits seit | |
1931. Sie „behielt nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 | |
ihren Charakter als Fachblatt; offene Propaganda blieb eher die Ausnahme. | |
Gleichwohl stand sie dem Dritten Reich positiv gegenüber – dieses förderte | |
den zivilen Luftschutz energisch, später auch zur Kriegsvorbereitung“, | |
[4][heißt es bei Wikipedia]. | |
Und sie dokumentiert, dass Luftschutz schon 1935 mehr als prophylaktische | |
Theorie war. Das zeigen in der Ausgabe nachlesbare Berichte von der großen | |
Luftschutzübung im März 1935. „Die gezeigte Vollübung war sehr sorgfältig | |
bis ins kleinste vorbereitet und klappte im großen Ganzen vorzüglich“, | |
heißt es an einer Stelle. Selbst die „Abwicklung des Verkehrs ging in der | |
verdunkelten Reichshauptstadt Berlin erstaunlich glatt vor sich. Mag auch | |
der herrlich vom Himmel scheinende Vollmond geholfen haben, diese | |
erstmalige Verdunkelung der Reichshauptstadt in mildem Licht erscheinen zu | |
lassen, so werden sich auch bei Neumond die angewandten Maßnahmen | |
bewähren.“ Offenbar ging man schon damals, vier Jahre vor dem Überfall auf | |
Polen, davon aus, dass es Anlass geben könnte, Berlin zu bombardieren. | |
Auch über die Firma Richardt Stahlbau findet man Einschlägiges. Auf der | |
Webseite [5][gelderblom-hameln.de] hat der [6][Geschichtslehrer Bernhard | |
Gelderblom] die Geschichte der Stadt abseits vom Rattenfänger dokumentiert. | |
Es geht um die Judenverfolgung in der niedersächsischen Stadt. Und [7][um | |
Zwangsarbeit]. „In den Spitzenzeiten der Jahre 1944 und 1945 arbeiteten in | |
Hameln und dem Landkreis mehr als 7.000 Personen“ in Zwangsarbeit vor allem | |
in den weitgehend auf Rüstungsproduktion umgestellten Fabriken, schreibt | |
Gelderblom. | |
Zwangsarbeit für Luftschutztüren in Hameln | |
Eine davon war die Firma Richardt Stahlbau. [8][Ein Text berichtet über den | |
Besuch einer Polin], die 1944 in Hameln zur Welt kam, weil ihre Eltern dort | |
Zwangsarbeit seit 1942 leisten mussten: „Und dank des heimischen | |
Historikers Bernhard Gelderblom finden die Kwaskiewicz’ am letzten Tag auch | |
heraus, wo Vater Piotr seinerzeit als Zwangsarbeiter beschäftigt war: bei | |
der ehemaligen Firma Stahlbau Richardt, als Schweißer von Luftschutztüren.“ | |
Hat er an der Tür mitgearbeitet, die hier noch im Keller steht? Hinter der | |
Max Anschel nicht Schutz suchen durfte? | |
Die Decke des niedrigen Kellers scheint mit Betonplatten verstärkt zu sein. | |
Eventuell einst vorhandene Fenster zur Straßenseite sind zugemauert. An | |
einer Wand des kaum mehr als 20 Quadratmeter großen Raumes finden sich | |
Holzpanele. Hier sollten die Bewohner:innen von zwei Berliner | |
Mietshäusern Schutz finden, während die Alliierten die Stadt bombardierten. | |
Von der Tür bis zur Kellertreppe, an der Max Anschel „vorne“ trotz | |
Bombenalarm warten musste, sind es keine zwei Meter. Hier also kam es zum | |
Streit zwischen den Anschels und den Luftschutzwarten Klatt und Krause. | |
Geht man die Treppe wieder hoch zum Hof, atmet man auf. Und blickt auf | |
Haus, in dem die Anschels lebten. | |
Vier Wochen bis zur Deportation? | |
Die Eskalation im Luftschutzkeller fand offenbar am 21. Januar 1944 statt – | |
auch das wird in einer der Zeugenaussagen erwähnt. In der Nacht hatte die | |
Royal Air Force einen Großangriff mit mehr als 1.000 Flugzeugen gestartet. | |
Die Menschen in Berlin flüchten sich wieder in die Keller. | |
An anderer Stelle heißt es beiläufig, dass Max Anschel am 17. Februar 1944 | |
nach Auschwitz deportiert wurde. Wenn das Datum stimmt, vergingen vom | |
Streit im Keller bis zur Deportation keine vier Wochen. | |
Allerdings lässt sich das Datum nicht verifizieren. Im Netz finden sich an | |
verschiedenen Orten die Deportationszüge von Berlin nach Auschwitz | |
aufgelistet. [9][Einen Transport nach Auschwitz] gab es erst 5 Tage später | |
am 22. Februar. Auf der Webseite [10][statistik-des-holocaust.de] findet | |
sich gar [11][die Passagierliste] dieses „49. Osttransports“. Der Name | |
Anschel steht nicht darauf. Auch auf den vielen anderen dort publizierten | |
Listen finde ich ihn nicht. | |
Eine neue Spur ins KZ Majdanek | |
Kurz bevor diese Texte online gehen, habe ich noch eine andere Idee. Anna | |
Anschel erwähnt in einem Schreiben, die Häftlings-Nummer, die ihr Mann in | |
Auschwitz auf den Arm tätowiert bekam: 190 795. Das Arolsen-Archiv hat | |
[12][eine Liste ins Netz gestellt, in der man sehen kann, wann welche | |
Nummern vergeben wurden]. Demnach ist Max Anschel erst im August 1944 in | |
Auschwitz angekommen. | |
Im Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Berliner Humboldt-Universiät finde | |
ich das Buch „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager | |
Auschwitz-Birkenau 1939 – 1945“ von [13][Danuta Czech. Die polnische | |
Historikerin,] deren Vater Auschwitz knapp überlebt hatte, hat diese | |
1.000-seitige Chronik des Grauens in den 1950er und 60er Jahren anhand ihr | |
zugängliche Akten erstellt. Man kann dort nachlesen, was Tag für Tag in | |
Auschwitz passiert ist. Wieviele Menschen vergast wurden. Aber hin und | |
wieder auch, dass einem Häftling der Ausbruch gelungen war. | |
In der 1989 erschienenen deutschen Version kann man unter dem 6. August | |
1944 nachlesen: „Die Nummern 190765 bis 190835 erhalten 71 Häftlinge, die | |
mit einem Evakuierungstransport aus dem KL Lublin (Majdanek) nach zwei | |
Wochen im KL Auschwitz eintreffen. Wahrscheinlich wurden diese Häftlinge | |
zusammen mit den beweglichen Gütern, den Büroeinrichtungen u.ä., die ins KL | |
Auschwitz transportiert wurden, evakuiert.“ | |
Das Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin/Majdanek lag rund 260 | |
Kilometer nordöstlich von Auschwitz. Hier kam die Rote Armee deutlich | |
früher an. Und die Nazis hatten schon im April begonnen, das KZ zu räumen. | |
Am 22. Juli 1944 wurde das Lager aufgeben. Einen Tag bevor sowjetisvche | |
Truppen Majdanek erreichten, wurden noch mehrere hundert Gefangene | |
erschossen, [14][heißt es auf der Seite des Majdanek-Museums]. 800 weitere | |
wurden bewacht von SS-Männern zunächst auf einen tagelangen Fußmarsch | |
geschickt, bis sie schließlich mit einem Zug nach Auschwitz transportiert | |
wurden, wo sie zwei Wochen später ankamen. | |
Max Anschel scheint einer von ihnen gewesen sein. Allerdings fehlt sein | |
Name auf der Gefangenen-Liste dieses Transports, [15][die das | |
Majdanek-Museum veröffentlicht hat]. Aber sie zeigt nur einen Ausriss. Aber | |
das KZ Lublin-Majdanek dürfte eine weitere Station auf dem Leidensweg von | |
Max Anschel gewesen sein. | |
## Die Hoffnung auf ein Wiedersehen | |
Ihren Anfang 1945 verfassten Brief an die „Ehrenwerte Exzellenz“ Heinrich | |
Himmler beendet Anna Anschel mit einer flehenden Bitte: | |
Mein Mann ist (…) Kriegsteilnehmer mit der Auszeichnung des | |
Frontkämpfer-Ehrenkreuzes und E.K. II. Meine Ausführungen, hochverehrter | |
Herr Reichsminister, beweisen und zeigen, dass mein Mann das Opfer eines | |
Irrtums ist. Als Frau und Mutter flehe ich Sie inständigst an, Ihre grosse | |
Gnade walten zu lassen und meinen Mann zu befreien. Seien Sie meines steten | |
Dankes gewiss. | |
Dass ihr Mann da schon mehr als zwei Monate tot war, konnte sie nicht | |
wissen. Selbst im Juni 1945 hatte sie die Hoffnung auf ein Wiedersehen | |
nicht aufgegeben: Am Ende ihres Lebenslaufs schreibt Anna Anschel: | |
Mein grösster Herzenswunsch ist der, recht bald meinen Iieben Mann bei mir | |
zu haben, um ein neues leben mit ihm in einer anderen Wohngegend beginnen | |
zu können. | |
Dass Himmler jemals geantwortet hat, scheint unwahrscheinlich. Er wurde | |
wenige Tage nach Kriegsende verhaftet und beging am 23. Mai 1945 Suizid. | |
Der lange Kampf um verlorenes Vermögen | |
Mit dem Ende des Krieges am 8. Mai 1945 und dem Untergang des NS-Regimes | |
mag Hoffnung aufgekommen sein bei Anna und Ruth Anschel. Doch der Schrecken | |
war noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil, er zog sich über Jahrzehnte. | |
Weil Max Anschel nicht zurückkam. Weil die Nachbarn dieselben waren wie in | |
der NS-Zeit. Und weil die Anschels durch die Nazis ihr Vermögen verloren | |
hatten. | |
Das zumindest versuchten Anna und Ruth Anschel in jahrelanger Arbeit | |
zurückzubekommen. Auf der Webseite des Niederländischen Nationalarchivs | |
finde ich einen Hinweis auf Akten zu Anna Anschel. Ich lasse sie mir | |
zuschicken. Es sind Briefwechsel mit Banken und Institutionen, mit denen | |
Anna Anschel an Geld herankommen will, das ihr Mann Max bei der Hugo | |
Kaufmanns & Co Bank angelegt hatte. Die Akten beginnen im Jahr 1947, als | |
Anna Anschel versucht, eine „Nichtfeinderklärung“ zu bekommen. | |
Und sie enden fünf Jahre später mit Briefen, in denen bescheinigt wird, | |
dass Ruth Anschel als Erbin von Max nun von den ursprünglich 3.850 Gulden, | |
nach Abzug von Auslagen und Abgaben noch 3.446 Gulden ausgezahlt werden | |
können. | |
„Im letzten Brief erhält Frau Anschel die Zusage, dass sie das Vermögen | |
zurückerhalten soll. Es war zuvor als mögliches ‚Feindvermögen‘ eingestu… | |
worden“, erklärt mir ein taz-Kollege, der Holländisch lesen kann. | |
Ebenso lang zieht sich ein Briefwechsel zwischen Ruth Anschel und ihren | |
Vertretern auf der einen und der Deutschen Bank auf der anderen Seite. Es | |
beginnt mit einem „Antrag auf Wiedererstattung von übertragenem Vermögen“, | |
den im November 1950 die Jewish Restitution Successor Organization als | |
Treuhänder im Namen von Ruth Anschel stellt. | |
Es geht anfangs um 3.000 Reichsmark, die Max Anschel bei der Deutschen Bank | |
für seine Tochter deponiert hatte. Hier schreibt die Deutsche Bank Ende | |
1955, dass ein Anspruch von 1.000 Reichsmark bereits 1951 eingelöst worden | |
sei. „Der Gegenwert in Höhe von DM 77,65 wurde bei der Berliner Disconto | |
Bank A.G. gutgeschrieben, die ihn abzüglich DM 1,50 Gebühren“ für die | |
Einholung einer Genehmigung an Anna Anschel ausgezahlt habe. | |
Dass es Anna Anschel nicht gut ging, lassen weitere Papiere aus dem | |
Landesarchiv erkennen. Immehin wurde sie in der Sowjetischen Besatzungszone | |
schnell als Opfer des Faschismus anerkannt und mit einem entsprechenden | |
ODF-Ausweis ausgestattet. Das aber hatte Neid und Missgunst bei den | |
Nachbar:innen zufolge – und heftigste Anschuldigungen. | |
Die erneute Denunziation durch die Nachbarn | |
In einem Schreiben vom 5. August 1946 mit dem Betreff „Sachen Anschel“ | |
fasst der damalige Straßenobmann der Elisabethkirchstraße, Wilhelm | |
Gädheimer, die Vorwürfe zusammen. Demnach sollen nicht die Luftschutzwarte | |
Klatt und Krüger an der Deportation von Max Anschel schuld gewesen sein, | |
sondern seine Ehefrau Anna. | |
„Anschel stand bei seiner Frau unter dem Pantoffel, und hatte nur das | |
auszuführen, was seine Frau sagte“, schreibt Gädheimer. Nur deswegen habe | |
Max Anschel die Anweisungen der Luftschutzwarte zurückgewiesen. | |
„Krüger machte daraufhin Anzeige bei der Polizei Gartenstrasse, welche zur | |
Folge hatte, dass Anschel zu RM 80,- Geldstrafe verurteilt wurde. Auch hier | |
hat sich Frau Anschel geweigert, dass Geld zu bezahlen. Daraufhin wurde | |
Anschel von der Gestapo nach dem Lager Theresienstaat abgeholt“, schreibt | |
Gädheimer weiter. | |
Er fasst damit die Aussagen von Anschels Nachbar:innen zusammen, die | |
diese mit mehreren eidesstattlichen Erklärungen untermauern. | |
Unter den Nachbar:innen, die Anna Anschel beschuldigen, ist auch die Frau | |
von P.G. Klatt, der – so Gädheimer – im August 1945 abgeholt worden sei und | |
sich seitdem in Sachsenhausen befinde. Dort hatten die Nazis ein KZ | |
betrieben, das die Sowjets nach der Befreiung selbst als rüdes | |
Gefangenenlager nutzten. | |
Aufgrund des Schreibens von Gädheimer lädt der „Hauptausschuss Opfer des | |
Faschismus“ zahlreiche Nachbarn ein. Ein Fritz Neumann bestätigt, dass Anna | |
Anschel selbst schuld daran sei, dass ihr Mann ins Lager kam. Das | |
Nachbarpaar Max und Klara Krause unterstellt Anna Anschel, sie habe ihren | |
Mann als „Judenschwein und Stinkjude“ bezeichnet. Mehrere Nachbarn kreiden | |
Anna Anschel an, dass ihr Mann, der zu der Zeit einem Arbeitsverbot | |
unterlag, „die gewöhnlichsten Hausarbeiten verrichten“ musste, „die gro�… | |
Wäsche“. Auch wird ihr zum Vorwurf gemacht, dass ihr „Mädel“ im BDM gew… | |
sei. | |
Die Konsequenz ist hart: Anna Anschel wird tatsächlich der Ausweis „Opfer | |
des Faschismus“ abgenommen. | |
## Tatsachenverdrehung im Nazi-Nest | |
Doch zum Glück hat sie nicht nur feindlich gesinnte Menschen in ihrem | |
Umfeld. Unter ihren Schreiben an den „Hauptausschuss“ nennt Anna Anschel | |
gleich 20 mögliche Zeugen für ihre Sichtweise – darunter viele Freunde aus | |
dem Kiez, aber auch fünf Mieter:innen ihres Hauses, die ebenfalls im | |
Luftschutzkeller waren. Von einigen finden sich Bericht und eidesstattliche | |
Erklärungen in den Akten. | |
So schreibt Alfred Jarre, der am Arkonaplatz wohnte, dass er die Familie | |
seit 20 Jahren kenne: Zu den Denunziationen (…) über Frau Anschel | |
zugegangen sind, möchte ich bemerken, dass ich im Hause der Frau Anschel | |
eine für die Gesinnung der dortigen Hausbewohner bezeichnende Erfahrung | |
gemacht habe: Im Januar 1941 wollte ich als Soldat die Familie Anschel | |
besuchen. Ich traf aber niemand an. Da öffnete die Nachbarin, Frau Krause, | |
ihre Türe und sagte zu mir: „Wissen Sie auch, dass die Anschels Juden | |
sind?“ Ich antwortete „Das macht doch nichts, es sind meine Bekannten.“ | |
Darauf Frau Krause: „Schämen Sie sich nicht als deutscher Soldat bei | |
solchem Judenpack zu verkehren!“ | |
Auch Frau Küstermeier vom Katholischen Hilfswerk schaltet sich in den | |
Streit ein. Sie berichtet, dass ein Herr Wenske bei ihr erschienen sei, der | |
seit vielen Jahren mit Anschels in Geschäftsverbindung gestanden habe. Der | |
bezeuge, „dass er, als er als Händler die Anschels besuchen musste, im Haus | |
sehr oft angepöbelt wurde, was er bei diesem Judenpack zu suchen hätte“. | |
Und Helene Arndt, eine Bekannte aus der Krausnickstraße, schreibt, dass | |
„mir Frau Anschel für den Fall, dass mein Mann, der ja Sternträger war, | |
abgeholt würde, ihre Hilfe angeboten“ habe. Sie wollte ihn sogar bei sich | |
verstecken. | |
Am 21.10.46 stellt ein Herr Wolff in einem zusammenfassenden Schreiben an | |
den Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ fest, dass die Anschuldigungen | |
der Nachbarn „vollständig den Tatbestand“ verdrehen. Es gebe eine | |
eidesstattlichen Aussage, „dass das Haus, in dem Frau Anschel wohnt, ein | |
richtiges Nazi-Nest war“. Und weiter: „Ich habe das Gefühl, als ob in | |
dieser Angelegenheit ein Kesseltreiben gegen Frau Anschel gemacht wird von | |
denselben Leuten, die nichts dazu beigetragen haben, dass Herr Anschel | |
nicht in's KZ kam.“ | |
Der Autor des Schreibens verbürgt sich auch persönlich für Anna und Max | |
Anschel: | |
„Ich selbst sowie 25 meiner Kameraden, die mit Anschel im Lager Wartenberg | |
waren, können jederzeit bezeugen, dass Herr Anschel die Schuld an seiner | |
Haft dem Luftschutzwart resp. dem Luftschutz-Kontrolleur gab. Die 25 | |
Kameraden von ihm haben Herrn Anschel als einen sehr freundlichen Menschen | |
kennengelernt, der immer sich lobend über seine Frau aussprach.“ | |
Er kommt daher zu dem Urteil: „Die Wirklichkeit ist đoch so, dass Herr | |
Anschel nicht auf Veranlassung seiner abgeholt wurde und in's KZ kam, | |
sondern durch die Anzeige des Luftschutzwartes, der durch die Russen | |
abgeholt worden ist, gemacht hat.“ | |
Wolffs Brief endet mit dem Satz: „Meine persönliche Meinung ist, dass Frau | |
Anschel aus der Gegend herauszieht und ihr der Ausweis wiedergegeben wird.“ | |
Zehn Tage später wird Anna Anschel der Ausweis „Opfer des Faschismus“ | |
wieder ausgehändigt – in Gegenwart mehrerer Zeugen, darunter der spätere | |
Präsident des Zentralrat der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, der sich | |
in den Nachkriegsjahren an den OdF-Ausschüssen beteiligt hatte. | |
Ruhe geben die Nachbar:innen dennoch nicht. 1947 erstattet die Nachbarin | |
Else Selchow Anzeige gegen Anna Anschel. Selchow, so geht aus den | |
Unterlagen hervor, war anfangs selber mit einem Juden verheiratet, ließ | |
sich aber von ihm scheiden, bevor er offenbar deportiert wurde. „Auf Grund | |
der Haltlosigkeit der Anschuldigung der Frau Selchow wurde die Sache zu den | |
Akten gelegt. Der kleine Zettel, den Frau Selchow geschrieben hatte, wurde | |
von uns in den Papierkorb geworfen“, gibt der Bezirksauschuss Opfer des | |
Faschismus daraufhin zu Protokoll. | |
Ende 1949 geht ein weiteres Schreiben an den Hauptausschuss Opfer des | |
Faschismus ein, wieder von einer Nachbarin, die sich auf die Aussagen von | |
Krause, Klatt, Selchow und anderen beruft. In einem Vermerk des Ausschusses | |
dazu heißt es, man habe Anna Anschel deswegen zwar vorgeladen, aber „von | |
einer erneuerlichen Vernehmung Abstand genommen, da die Anschuldigungen | |
dieselben sind, wie bereits im Jahre 1946 erhoben worden“. Und weiter: | |
„Frau Anschel macht einen nervösen Eindruck, ist etwas impulsiv und wird | |
dadurch immer wieder in Kollusionen mit den Mietern geraten.“ | |
Und erneut wird als gangbarer Ausweg aus dem „Nazi-Nest“ ein Umzug | |
nahegelegt. „Wir haben Frau Anschel gebeten, wenn es ihr möglich ist, die | |
Wohnung zu wechseln.“ | |
Sie ist dennoch geblieben. Noch fast 20 Jahre. | |
Spuren, überall Spuren | |
Je mehr man sich mit so einer Geschichte befasst, desto mehr Spuren findet | |
man. Hinweise, Details, die die Zeit der Schoah lebendig werden lassen. Sie | |
sind überall. Gerade in Berlin. Das wissen um das Schicksal der Familie | |
Anschel verändert meinen Blick auf sie. Aber nicht alle Spuren führen auch | |
zum Ziel. Manche führen weit weg, in manchen verliert man sich. | |
Einmal suche ich im Deutschen Zeitungsportal, das viele Printprodukte bis | |
zurück ins 19. Jahrhundert digitalisiert hat, nach Artikeln über die | |
Elisabethkirchstraße. Ich finde [16][einen Bericht über einen großen | |
Gerichtsprozess], in dem es um die Ermordung des Nachtwächters der | |
Elisabethkirche geht, der offenbar zwei Diebe ertappt hatte, die ihn | |
kurzerhand im Garten der Kirche aufgeknüpft haben. Aber die Geschichte | |
spielt schon im Jahr 1891. | |
Einmal stoße ich [17][auf der Webseite des Berlin-Mitte-Archivs auf alte | |
Fotos], die zeigen, dass es einst mehrere Kneipen in der Straße gab, wie | |
die Löwen-Bier-Schwemme in den 1920er Jahren, den | |
Engelhardt-Spezial-Ausschank im Jahr 1938 oder eine Niederlassung des | |
Lauchstädter Heilbrunnens 1950. Aber weiterführend für meine Recherchen ist | |
das auch nicht. | |
Einmal meldet sich die Historikerin Alejandra Ciro bei mir, eine | |
Kolumbianerin, die seit Jahren bei uns im Kiez wohnt – und bei einem | |
Spaziergang die hölzerne Gedenktafel für Max Anschel entdeckt hat, die ich | |
vor dem Haus aufgestellt hatte. Ciro hat die Vertreibung und Ermordung | |
vieler jüdischer Nachbarn im Viertel rund um den Rosenthaler Platz | |
recherchiert. Darunter neben vielen anderen die Geschichte des | |
Parfumhändlers Winter, der bis 1938 ein Geschäft an der Brunnenstraße hatte | |
und der 1942 nach Auschwitz deportiert wurde. Sie hat das alles – bisher | |
nur auf Spanisch – in [18][einem langen Text für die kolumbianische Zeitung | |
El Espectador ] veröffentlicht. Man müsste es mal übersetzen. | |
Die Darstellbarkeit des Holocaust | |
Einmal besuche ich an einem freien Tag nach langer Zeit mal wieder die Neue | |
Nationalgalerie am Potsdamer Platz. Dort ist seit 2023 [19][die Ausstellung | |
„Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin“] zu sehen. Ich mag seine Bilder, | |
die fast fotorealistischen, aber noch mehr diese abstrakten Farbspratzer, | |
die die Augen öffnen. Ohne groß vorher was über diese spezielle Sammlung zu | |
lesen, stehe ich schließlich in einem großen Raum. Vier fast deckenhohe | |
Farbexplosionen auf der rechten, vier gleich große Spiegel auf der linken | |
Seite. Als Besucher wird man so zum Teil der Kunst. An den schmalen | |
Stirnseiten hängen neben den Durchgängen vier kleine Fotografien. | |
Schwarz-Weiß, stark verwischt. Wenn man nichts über sie weiß, erkennt man | |
eigentlich gar nichts. | |
Zwei zeigen Menschen vor Rauch. Eins zeigt Bäume, leicht gekippt, darunter | |
erkennt man, wenn man genau hinschaut, wieder Menschen. Erst wenn man noch | |
direkter hinsieht, ist zu erkennen, dass sie offenbar nackt sind. Das | |
vierte Foto ist nahezu pure Abstraktion. [20][Die Bilder wurden offenbar | |
1944 im KZ Auschwitz aufgenommen und herausgeschmuggelt]. | |
Gerhard Richter ging es bei [21][seinem Birkenau-Zyklus] um die | |
Darstellbarkeit des Holocaust. Er hat die vier Fotos groß auf Leinwand | |
gezogen. Mit Farbe übermalt. Wieder und wieder. Bis vom ursprünglichen Bild | |
nichts mehr zu sehen ist. | |
Aber ich sehe den Ort, an dem Max Anschel 1944 eingesperrt war, bevor er | |
weiter nach Stutthof deportiert wurde. Und plötzlich ist Gerhard Richters | |
Arbeit viel mehr als ein Meisterwerk der Abstraktion. Es betrifft mich ganz | |
konkret. | |
Der Panzer an der Kreuzung | |
Einmal entdecke ich [22][auf Facebook in der Gruppe „Berlin 1945“ das Foto | |
eines Panzers]. Er steht auf der Invalidenstraße in Berlin-Mitte, auf der | |
großen Kreuzung bei mir ums Eck, aufgenommen offenbar in den letzten | |
Kriegstagen. Aber es ist weniger die Nähe zu meinem heutigen Wohnort, die | |
mich berührt. Sondern die Frage: Haben die Anschels ihn damals gesehen? | |
Einmal finde ich in den Akten ein Schreiben des Finanzamts Moabit-West an | |
den Oberfinanzpräsidenten von Berlin, in dem am 14. März 1941 vorgeschlagen | |
wird, die inländischen Vermögenswerte „der ausgebürgerten Judenleute Adolf | |
Israel Anschel“, wahrscheinlich der Bruder von Max, ein Guthaben bei der | |
Deutschen Bank in Höhe von 7.544,03 Reichsmark, als „dem Reich verfallen“ | |
zu erklären, was nicht einmal zwei Monate später mit Schreiben vom 9. Mai | |
genehmigt wird. Was die jahrelange Dauer der Rückerstattungsverfahren, die | |
Anna und Ruth Anschel in den Nachkriegsjahren führen mussten, in einem noch | |
absurderem Licht erscheinen lässt. | |
Einmal stoße ich [23][im Findbuch des Landesarchivs] auf den Namen Klatt | |
und lasse mir die Akten heraussuchen, in der Hoffnung, etwas über „P.G. | |
Klatt“ herauszufinden, der laut Anna Anschel verantwortlich dafür war, dass | |
ihr Mann ins KZ kam. Aber in diesen Akten geht es nicht um einen Täter, | |
sondern um weitere Opfer mit gleichem Familiennamen. Da wurde im November | |
1940 der „Billetabreißer Horst Klatt“ zu einer Gefängnisstrafe von zwei | |
Monaten verurteilt – wegen „Arbeitsuntreue“. Das Schreiben findet sich auf | |
einem Mikrofilm, auf dem reihenweise Verfahren wegen Unzucht und belegter | |
oder vermuteter Homosexualität dokumentiert sind. Ein weitere Horror der | |
NS-Zeit, der mich aber nicht weiterbringt. | |
Einmal sehe ich, dass es Anna und Ruth Anschel gut geht. Sie spazieren | |
durch einen Wald. Aber dann wache ich auf und stelle fest, dass es nur ein | |
Traum war. Wieder einmal brauche ich eine Pause, Abstand von dieser mir | |
nahegehenden Geschichte. | |
Die offenen Fragen | |
So bleiben auch nach anderthalb Jahren Recherche viele Fragen offen. | |
Wer war der Verräter P.G. Klatt? Steht P.G., wie ich mittlerweile vermute, | |
für Parteigenosse? Wurde er, wie es in den Akten an einer Stelle angedeutet | |
wird, tatsächlich wegen seine NS-Taten verhaftet? Ich habe bei der Stiftung | |
Brandenburgische Gedenkstätten nachgefragt, die für die Gedenkstätte | |
Sachsenhausen zuständig ist. Ihr Sprecher Horst Seferens bedauert, dass er | |
meine Fragen nur unbefriedigend beantworten könne, „da es mehrere | |
Inhaftierte des Speziallagers gibt, die den Namen Klatt tragen und in | |
Berlin verhaftet wurden“. Insgesamt sind es vier. Aber auf den ersten Blick | |
passend erscheint keiner davon. | |
Wie kam Max Anschel von Schermbeck nach Berlin? Wo hat er als Prokurist | |
gearbeitet? | |
Wie haben sich Anna und Max Anschel kennengelernt? Und warum ist sie, | |
anders als gewünscht, nach dem Krieg nicht in die USA ausgewandert? | |
Wo hat Ruth Anschel als Ärztin gearbeitet? In Spätschichten, wie es an | |
einer Stelle heißt? Und vor allem: Ist es wirklich wichtig, das zu wissen? | |
Was war die Geschichte der ebenfalls ermordeten Cousinen von Max, die Anna | |
einmal erwähnt hatte? | |
Was wäre herauszufinden über den in Amsterdam lebenden jüdischen Kaufmann | |
Sternberg und seine Familie, der das Haus seit mindestens 1930 gehört | |
hatte? Der um das Jahr 1942 enteignet wurde. Dessen Nachfahren das Haus | |
erst nach der Jahrtausendwende rückübertragen bekamen. | |
Wer waren Heinz Hans Geisler und Erwin Thiel, die andern beiden Verfolgten | |
des Naziregimes, die laut [24][mappingthelives.org] in meinem Haus wohnten, | |
die ganz am Anfang dieser Recherche standen, zu denen ich aber nichts | |
gefunden habe? | |
Wann werden die von mir beantragten Stolpersteine für die Familie Anschel | |
verlegt? Klappt es wirklich schon im kommenden Jahr, wie mit die lokale | |
Initiative vor kurzem schrieb? | |
Eine meiner vielen Fragen aber klärt sich dann doch. Und die Antwort geht | |
nahe. Näher geht es nicht. | |
Die Streit mit den neuen Nachbarn von unten | |
Ich finde sie beim nochmaligen Durchlesen der Papiere aus dem Landesarchiv, | |
in denen auch die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen von Anna Anschel | |
mit ihren Nachbarn dokumentiert wurde. Dort liegt ein dreiseitiger Brief | |
von ihr an die Kreisleitung Mitte der Sozialistischen Einheitspartei vom | |
Juni 1963. Gleich zu Beginn erinnert sie daran, dass ihr Mann „auf Grund | |
einer Denunzierung von Mietern im KZ Auschwitz vergast wurde. Die Hetze | |
gegen uns ging aber weiter bis in die jüngste Zeit.“ | |
Dann berichtet sie von einem Streit mit Nachbarn. Als sie und ihre Tochter | |
ein paar Tage abwesend waren, sei mal wieder die Toilette in ihrer Wohnung | |
wegen Verstopfung übergelaufen. Die braune Brühe ist dann in die Wohnung | |
darunter gesuppt. Statt wie üblich das Wasser im Keller abzudrehen, habe | |
der Herr M., der unter ihr wohne, gleich die Volkspolizei gerufen, um ihre | |
Wohnung aufbrechen zu lassen. | |
„Diese Verhalten sowie die Überschwemmung meiner Toilette und des Korridors | |
löste in mir einen Schock aus, so dass ich anfing auf die Schweinerei zu | |
schimpfen“, schreibt Anna Anschel. Man kann sie verstehen. Es muss sie an | |
das Trauma der aufgebrochenen Wohnung in den letzten Kriegstagen erinnert | |
haben. | |
Kurz darauf habe Herr M. erneut bei ihr geklingelt und sich beschwert, sie | |
habe seine Frau beschuldigt, an der Verstopfung schuld zu sein. Der Streit | |
eskaliert. „Darauf gab mit Herr M. zu verstehen, dass er verschiedenes über | |
mich gehört habe“, schreibt Anna Anschel weiter – was sie offensichtlich | |
stark empörte. „Welches Interesse haben die M.'s und was wollen sie | |
bezwecken, indem sie an diesem Hausklatsch teilnehmen? Was sollen die | |
Worte, dass er verschiedenes über mich gehört habe?“, fragt Anna Anschel am | |
Ende des Briefes. | |
Für Anna Anschel war das offensichtlich die fortgesetzte Form | |
antisemitischer Hetze – selbst von Menschen, die in der NS-Zeit noch gar | |
nicht im Haus lebten. Denn M. und seine Frau wohnen erst seit kurzem im | |
Haus. „Kaum waren M. 1962 in die unter uns liegende Wohnung eingezogen, | |
ließen sie das Radio laut spielen“, schreibt Anna Anschel in dem Brief. | |
Und plötzlich wird mir vieles klar. | |
Ich habe das Ehepaar M. selbst kennengelernt. Es wohnte noch im Haus, als | |
ich Jahrzehnte später eingezogen bin. Sie ließen nicht mehr das Radio laut | |
laufen, es war der Fernseher, der in der Wohnung unter uns lärmte. Es war | |
das alte Paar, das gern am offenen Fenster rauchte, so dass der Rauch eins | |
höher bei uns in die Wohnung zog. Es war die Geschichte, die der damals | |
noch ein Stockwerk tiefer wohnende [25][Karikaturist Beck] für eine seiner | |
Zeichnungen nutzte. | |
Ich schreibe ihn an, er antwortet prompt: „Klar habe ich den Cartoon noch. | |
Die Zeichnung ist von 2003 und hat die Ordnungsnummer 42.“ | |
Dann sitze ich da, die Zeichnung auf dem Bildschirm, in der Wohnung, unter | |
der einst die M.‘s wohnten. Und ich weiß jetzt, dass genau hier auch Anna | |
Anschel und ihre Tochter Ruth lebten. Und 20 Jahre davor auch ihr Mann Max, | |
der im KZ Stutthof ermordet wurde. | |
Die Tapete an der Küchenwand | |
Bei uns in der Küche hängt an der Wand ein kleiner Tapetenrest. Ein | |
einfaches bräunliches Blumenmuster auf ockergelbem Grund. Er kam zum | |
Vorschein, als wir vor vielen Jahren mal die Ikea-Hängeschränke abgenommen | |
hatten, die unsere unmittelbaren Vormieter dort angebracht haben. | |
Die Wand drumherum hatten wir neu gestrichen, mehrfach inzwischen. Aber das | |
Stückchen Blumentapete ließen wir unberührt. Es sah so schön alt aus. Sehr | |
alt. Ein Stück Geschichte, das man nicht einfach übermalt. Welche | |
Geschichte damit verbunden ist, wusste ich damals noch nicht. | |
Wie alt die Tapete tatsächlich ist? Ich habe Astrid Wegener vom | |
[26][Deutschen Tapetenmuseum in Kassel] gefragt. Die Tapete weise leider | |
keine eindeutigen stilgeschichtlichen Merkmale auf, antwortet sie umgehend. | |
Sie könne sich eine Entstehungszeit in den 1950er oder 1960er Jahren | |
vorstellen. Aber auch eine Herkunft aus früherer Zeit will sie nicht | |
ausschließen. | |
Es ist also gut möglich, dass Max, Anna und Ruth Anschel schon vor der | |
gleichen Tapete gesessen haben wie ich jetzt. Es ist sicher, dass sie mit | |
dem Kachelofen, der heute noch in einer Ecke des Wohnzimmers verstaubt, | |
geheizt haben. Die Klinken der alten Zimmertüren in ihren Händen hielten. | |
Die Dielen im Flur knarren ließen. Das Geländer im Treppenhaus | |
entlanggingen. In der Nachbarwohnung hat wohl Frau Krause gelebt, die über | |
das „Judenpack“ hergezogen ist. | |
Im Nachbarhaus lebten der P.G. Klatt und seine Frau, der mit seiner Anzeige | |
die Deportation einleitete. | |
Über den Hof blicke ich auf die Rückseite der Brunnenstraße 169. Das Haus, | |
unter dem der Luftschutzkeller war. | |
Und es ist klar, dass ich genau deshalb diese Geschichte aufschreiben muss. | |
Die Geschichte meiner Vormieter. Damit sie nicht vergessen bleibt. | |
„Nur aus Liebe zu meinem Mann konnte ich ja all das Leid und die | |
Entbehrungen ertragen“, schreibt Anna Anschel an einer Stelle. „Ich habe | |
gekämpft gegen das Nazitum, wo ich nur konnte.“ | |
....... | |
Die Geschichte von Max Anschel und seiner Familie hat taz-Redakteur Gereon | |
Asmuth in einer sechsteiligen Serie aufgeschrieben. Alle Texte finden Sie | |
unter [27][taz.de/maxanschel]. | |
Teil 1: [28][Mein Vormieter Max Anschel, ermordet im KZ Stutthof 1944] | |
Teil 2: [29][Vier Tage und ein halbes Brot – Das KZ Stutthof, in dem Max | |
Anschel starb, galt unter Häftlingen als schlimmstes Lager.] | |
Teil 3: [30][Die gnadenlose Kirche gegenüber – Die jüdisch-katholische | |
Famlie Anschel lebte direkt gegenüber einer NS-dominierten Kirche.] | |
Teil 4: [31][Der Riss in der Tür – Ein Mordversuch, ein Einbruch, eine | |
zertrümmerte Tür: Auf den Spuren meiner Vormieterin Anna Anschel] | |
Teil 5: [32][„Mutti, ich habe eine sehr, sehr grosse Bitte an Dich!“ – Die | |
Geschichte der Tochter Ruth Anschel] | |
15 Nov 2024 | |
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Gereon Asmuth | |
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